Der Lerchenhügel

Von Jakob Kneip

Drunten in der Ferne, wo die Ebene sich breitet, lärmen die Städte, sausen Bahnen und Wagen, rauchen Fabriken und Werke — drunten gehen die Flüsse und Ströme weit ins Land; dahinter, wo Dunst und Nebel die Ferne verhüllen, ahnst du das Meer, die Unendlichkeit.

Doch hier oben, wo mein Hügel sich über Fluren, Weidegründe, grüne Täler und dunkle Wälder zur warmen Wölbung des Himmels erhebt, ruht noch die Erde in Gottes Hand wie am ersten Tag. Fern von den großen Straßen der Welt ragt der Hügel mit kargem Grund aus dem Gelände. Nur Wiesenpfade und steinige Feldwege, wo die Pflüger und Mäher, die Hirten und Wanderer gehen, führen zu ihm hinauf. Magere Felder und Wiesen bedecken seine Hänge; auf seinem Gipfel, wo der Bauer nicht mehr genug Erde fand für seine Saat, haben sich Dornbüsche, struppiges Geheck, Ginster und Heidekraut mit zähem Wurzelwerk den Boden erobert. Gewiß, der Hügel ist der ärmste unter den Erhebungen und Bergen ringsum im Lande; ja, so unscheinbar und unbeachtet blieb er durch die Jahrhunderte bei den Bewohnern des Landes, daß sie nicht einmal daran dachten, ihn mit Namen zu benennen. Aber hier, an den ungestörten Feld-, Wiesen- und Heidehängen in der himmlischen Stille, ganz nahe den Winden und Wolken, haben die Lerchen ihr himmlisches Reich. Sie nisten in den Furchen der Felder, in den Rillen des kargen Grasbodens, zwischen den Büscheln des Heidekrauts, und vom Aufbruch des Frühlings bis in den Spätsommer ist der Himmel über dem Hügel erfüllt von ihrem jubelnden Lobgesang.

Vor zweitausend Jahren schon war es wohl hier das gleiche Bild: Keltische Bauern furchten mit dem Ochsengespann den kargen Acker; Hirten hüteten an steinigen Hängen ihre Schafe, und ihr kurzgehörntes mageres Vieh graste auf den Weiden. Auf ferner Römerstraße aber zogen die Legionen, auf den gleichen Straßen wogten nach ihnen die Scharen hünenhafter Männer, die zu Kampf- und Beutezügen nach Westen und nach Süden drängten. Gedröhn und Kampfgeschrei schallte herauf; in den Mulden der Täler und drunten in der Ebene brannten Gehöfte und Dörfer; — hier oben aber stiegen die Lerchen; ihr Gesang jubelte zum Himmel, als sei nie ein Leid auf Erden geschehen. Und der Hügel hob sein Haupt zur Wölbung des Himmels empor.

Früh im Jahr, wenn die erste Lerche steigt und der letzte Schnee noch in den Furchen liegt, blüht hier am Wegrand schon das Gold des Huflattichs; bald zeigen sich an den Hängen Gänseblümchen und Schlüsselblumen, Augentrost und das bescheidene Hungerkraut. — Unter dem Geheck aber blühen schon die ersten Veilchen.

In der Ostersonne wandelt sich auch das graue Dorngestrüpp auf dem Gipfel fast über Nacht zu leuchtend weißer Herrlichkeit. Und kaum ist seine Pracht verblüht, so entfaltet weithin der Ginster seine goldene Fülle.

Unter den großen, weißen Wolken, die vom Westen über die Berge ziehen, ist es nun vom Morgen bis zum Abend ein nicht endender Lerchenjubel.

Dann zieht der Pflüger am Hang bedächtig seine Furchen; dann geht der Sämann und streut gemessenen Schrittes die Saat. Dann führt der Schäfer seine Herde herauf; Wanderer ziehen mit Gesang daher, und Liebende steigen zum Gipfel des Hügels, stehen Hand in Hand, lauschen den Lerchen, die über ihnen singen und halten Ausschau über das weithin blühende Land.

Kommt aber der Sommer, dann flammen die ärmsten Felder hier oben im Purpur des, Mohns; dann duften am Feldrand Kamille, Wicke und Winde; dann leuchten Kornblume und Rade in der reifenden Glut der Sonne. Sie locken Bienen und Schmetterlinge herbei. Glänzende Käfer und Eidechsen huschen durch das sommerwarme Geröll, und im Tau der kühlen Nächte zieht die Schnecke über Scholle und Gestein ihren glänzenden Pfad.

Auch Hasen und Feldmäuse haben auf dem armen Hügel ihr heimliches Gehege; und in der Stille der Nacht wagt sich vom nahen Walde sogar das Reh bis in seine duftenden Wiesenhänge und Saaten.

Doch abermals ging der Krieg über das Land. Himmel und Erde dröhnten unter seiner wilden Gewalt. Drunten auf den alten Heerstraßen rollten bald nach Westen, bald nach Osten, die Armeen von Siegern wie von Besiegten. Der Himmel war vom dumpfen Surren und Brausen der Flugmaschinen und dem Sausen der todbringenden Geschosse erfüllt. Die Menschen flüchteten in Keller, Schluchten und Höhlen. Bis an den Rand des Hügels fielen Bomben und Granaten. Bis zu seinen Gemarken hin lagen die Toten und grub man die Gräber der Gefallenen.

Tausende von Menschen und ihre Werke waren drunten in der Ebene und ringsum im Land versunken. Das Schweigen des Todes ging über das Land.

Droben auf dem Hügel aber stiegen die Lerchen; ihre Flügel leuchteten in der Sonne; und ihr Lied klang die ewige Melodie von Heiterkeit und Frieden. Und der Heckendorn blühte wieder in all seiner Pracht. Dann wogten die kargen Äcker im flammenden Mohn. Winde, Kamille und Kornblume blühten. Die Pflüger gingen hinter ihrem Ochsengespann in der Furche und der Schäfer stand mit seiner Herde droben auf dem Gipfel und hielt Ausschau über das blühende Land.

O und der Glanz und Segen des Erntetages! Urahne, Ahne, Vater, Mutter und Kind sah ich bemüht, mit emsigen Armen das Korn zu laden. Ein Tag voll fröhlichen Lärms und voll Ernteglück. Das Fell der Ochsen und Gäule glänzte in der Sonne. Von Mücken und Käfern blitzte die Luft. Ihr Sirren und Summen klang als ein großer Choral. Und der Himmel darüber war erfüllt von Lerchenklang.

Wenn du auf seinem Gipfel einsame Rast hältst — in Ruhe und Schweigen erschließen sich dir unermeßliche Räume jenseits des Tags der Menschen, jenseits der Erde. Unter der großen Wölbung des Himmels, zwischen Morgen- und Abendrot, und nachts unter dem schweigenden Gang der Sterne. Allertiefste Ruhe strömt in dich ein. Selbst im Wehen des Windes, selbst im Lied der Lerche rührt Ruh und Frieden deine Seele an. Unbewegt, im Frieden, ruht unter dir das sanftgewellte Land.

Der Hügel besteht weiter über Geschlechter und Geschlechter. Keine Generäle, keine Staatsmänner stritten um seinen Besitz. So bewahrt er seine Unschuld vor der zerstörenden Hand des Menschen; Wolken und Winde gehen über ihn hin; und sein Haupt ragt auf in die himmlische Stille.

Ein Glanz von Gottes Licht, ein Duft von Gottes warmer Güte liegt über ihn gebreitet. Segen, nur Segen geht von seinem Grund. Ruhst du in seinem Atem — vor dir steht Ewigkeit. Vergangene Zeit — der Augenblick, der dir vorüber schwebt, und Kommendes verschwimmt in Eins.

Inmitten solcher Unendlichkeit versinkt der Geist und taucht voll Wonne in dies Meer der Stille und des Friedens.

Mein Hügel, ja, oft will mir scheinen: du bist der Berg der Seligkeiten, auf dem der Herr mit seinen Jüngern noch immer Rast hält und sein Wort des Trostes und der Verheißung zu uns Menschen spricht. Der innig tiefe Schein der Güte und des Erbarmens umfließt sein Haupt. In seinen Augen steht das Leuchten der Liebe, die alles Schlimme uns zum Guten wandelt. Wir schauen zu ihm auf. Kaum, daß ein Atem geht. Und der Herr tut seinen Mund auf und spricht:

„Selig sind die Armen im Geiste; denn ihrer ist das Himmlreich."

„Selig sind die Leidtragenden; denn sie sollen getröstet werden."

„Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen."

„Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen

gesättigt werden."

„Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen." „Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen." „Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Kinder Gottes heißen." „Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich."

„Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und allerlei Übles wider euch reden; seid fröhlich und getrost: es wird euch im Leben belohnt werden."

So geht aus dem Licht der Ewigkeit das Wort des Herrn hinab ins Land. Die Wolken stehen still über seinem Haupte, während er spricht. Haß, Neid und Zwietracht, die uns Menschen trennen, verwehen im Winde, wo seine Rede geht. Unter seinem Blick, wenn sein Wort uns an die Seele rührt, ersteht wieder der tröstliche Glaube, daß doch noch der Tag herauf kommt, wo der Schwache nicht weiter Spielball mehr des Gewalttätigen werde, und daß uns armen, gehetzten Sterblichen auf diesem Planeten aus Mord, Verrat und Grauen doch noch ein Reich ersteht, in welchem Liebe, Vertrauen und Friede die Erde verklärt.

Hoch oben, in freier Einsamkeit, jubelt das Sonnenherz der Lerche; am Morgen, wenn Rosenwolken hinter den östlichen Bergen erglühen, am Abend, wenn aus der Tiefe das glühende Gestade des fernen Himmels leuchtet — ein Lied, so rein, so frei und unbekümmert — jenseits von Schmerz und Menschenleid, jenseits des Todes klingt das Lied der Lerche über meinem Hügel. Kaum sichtbar noch dem Menschenauge schwebt sie empor bis zu dem Angesicht des Vaters. Ganz seinem Atem nah, ruht sie auf seiner Hand.