Die goldenen Tage sind vorbeit

Der Aremberger Bürgermeister vor seinem Rechnungsbuch

von W. Knippler

Draußen ist ein Hundewetter. Der Eifelwind faucht um die Strohdächer. Da hat Hermann Josef Hartmann, der Bürgermeister und Gastwirt von Aremberg, die Fensterladen dicht gemacht. Mit vielen Gästen braucht er heute nicht zu rechnen. Annemarie, seine junge Frau, ist bei ihren Eltern in Eichenbach. Bald soll junges Glück in seine Familie einziehen. Das eigene Hauswesen ist noch leidlich in Ordnung. In der Welt rundherum aber geht alles drunter und drüber.

Hartmann war in Schleiden als Sohn des dortigen Bürgermeisters aufgewachsen, kam vor sechs Jahren als Gerichtsschreiber hierher, und im Jahre darauf wurde er mit 22 Jahren schon Bürgermeister. In seiner Wirtschaft verkehrte alles, was im Ländchen einen Namen hatte.

Nun hat er sich's am Tisch bequem gemacht und sein Rechnungsbuch hervorgeholt, das beigeschrieben werden muß. Diese Arbeit bereitet ihm keine Freude.

Da muß der Wein ihm hinweghelfen über trübe Gedanken.

Ann-Käth, die Magd, bringt ihm ein Maß Mosel. Sie trägt die feine Haube, die sie sich für 3 Rtl. in Adenau besorgen ließ, dazu den neuen Rock und das gefärbte Schürzel. Auch das Leibel hat sie sich erst kürzlich für 7 Stüber nähen lassen. — Wem mag sie nur gefallen wollen an diesem verregneten Samstagabend? Aus dem Haus geht sie bestimmt nicht heraus im Dunkeln, seitdem die schrecklichen Räubergeschichten vom Schinderhannes erzählt werden.

Man schreibt den 9. Februar 1799. Auf dem Tisch liegt wohl der amtliche, seit sieben Jahren gültige republikanische Kalender. Der spricht vom 21. Pluviose des Jahres VII, einem Primidi, dem ersten Tag der neuen Dekade. Doch das kümmerte die Aremberger seither recht wenig. Die haben an anderes zu denken!

Beim Gerichtsschreiber Breuer aus Münstereifel fängt Hartmann an. Der bekommt einen Rechnungsauszug:

12. April 98 sandte hochdemselben ein Faß 93er Moselwein zu 3 1/2 Ohm,

das Ohm zu 41 Rtl. Spez.    macht 143 Rtl. 30 St.
darauf gleich empfangen    34 Rtl. 30 St.
einen doppelten Louisdor    15 Rtl. 20 St.
eine preußische Pistol    6 Rtl. 18 St.
23. April 98 31 Krontaler, 1 Brab. Krone    61 Rtl. 18 St.
4. Nov. 98 weitere    10 Rtl. 45 St.
macht zusammen    128 Rtl. 11 St.
mithin restiert    15 Rtl. 19 St.

Hartmann blättert um zum Nächsten. Da steht: „Regierungsrat K. H. Latz, Herzogl. Grand Mayeur". Auf sein Konto kommen:

15. Jan. 99 2 1/2 Maß Wein zu 30 St.    1 Rtl. 15 St.
21. Jan. 99 4 Maß Bier    16 St.
28. Jan. 99 2 Glas Branntwein    28 St.
1 Päckchen Tabak    5 St.

Und Hartmanns Gedanken gehen über das Buch hinweg. — Dieser Latz führt nun schon 13 Jahre lang des Herzogs Regierungsgeschäfte in Aremberg. Ein begabter Mensch! Manche munkeln, er sei früher Jesuit gewesen. Daß er ein beschlagener Staatsmann war, bewies er in den letzten vier Jahren als Vertreter seines emigrierten Herrn gegenüber den Franzosen. Wie oft war er bei der Kantonsverwaltung in Adenau, wieviel Briefe schrieb er nach Koblenz, der Hauptstadt des Rhein- und Moseldepartements! Manche angedrohte Exekution hat er abgewendet, und mancher Schoppen Wein ist dabei getrunken worden. Jetzt will Latz abreisen. Wer soll dann verhandeln?

Auch das Blatt des Hofkaplans Heistermann wird bald überflüssig sein. Darauf stehen noch offen:

1 Maß Rotwein zu 40 St. und Kakaoschalen zu 16 St.

Ja, auch der Schloßkaplan geht fort, der „Professor der Schull"! Aremberg braucht einen neuen Schulmeister. Wohl, der alte Jaklen hat sich schon gemeldet, aber gelernt hat er selbst nicht viel. Was mag da bei einem Unterricht herauskommen?

Haumeister Trautmann" kommt an die Reihe, und Hartmann rechnet und notiert:

4 Ellen blaues feines Tuch
(wohl für den letzten langen Rock, den er sich hier
anschafft)  
 11 Rtl. 30 St.
7 Pfd. Rindfleisch    28 St.
1 Malter Korn    7 Rtl,
1 Schoppen Wein    7 St. 8 H.
7 Glas Branntwein    1 Rtl. 38 St.

Ein guter Kunde, aber was wird dieser Trautmann in Zunkunft machen? Ewig kann er doch nicht in diesem Schloß ohne Herrn bleiben. Alles verkommt dort oben: die Mauern, die Türme, die Wohnräume und die Festsäle, die Kasernen, Stallungen und Scheunen! Was wird daraus werden?

Vor sechs Jahren noch ging es dort hoch her, obwohl dazumal auch betrübte Zeiten waren. Brotmangel war zu befürchten, und eine allgemeine Kontrolle aller Kornvorräte war notwendig. Damals kam die Herzogin mit ihren beiden Kindern und dem ganzen Hofstaat aus Brabant, wo man sich nicht mehr sicher genug fühlte. Der Adel gab sich noch einmal ein großes Stelldichein auf dem Aremberg. Es waren glanzvolle Tage. Hoher Besuch kam von Rom, der Hausprälat des Papstes, Nuntius de Pacca. Damals war er päpstlicher Legat in Deutschland. Dann war da noch der Herzog de Vairo, der Gesandte des Königs von Spanien. Dieser hatte gerade Paris den Rücken gekehrt, wo er in der Nationalversammlung gegen den Königsmord im Namen der spanischen Krone Protest erhoben hatte, ohne damit das Rad der Geschichte in seinem Lauf aufhalten zu können.

Im September 93 aber war das ganze Hofleben wie ein Spuk in alle Winde zerstoben. Alle Güter der Herzogs waren unter Sequester, Ludwig Engelbert und seine Familie nach Wien geflohen. Wohl erzählt man, die Herzogin sei wieder in Brüssel und habe ihre dortigen Besitzungen zurückerhalten. Gut für sie, aber die Aremberger müssen sehen, wie sie allein fertig werden.

Das nächste Blatt gehört dem Pastor Aegidius Schneider. Hier ist nichts anzuschreiben, denn der Pfarrer hat sich lange nicht mehr blicken lassen. Die Franzmänner haben ihm den größten Teil seiner Einkünfte — meist Privilegien aus dem Jahr 1654 — entzogen. Hundert Rtl. rheinisch erhielt er früher von der herzoglichen Rentei, dazu 7 Malter Hafer, 1 1/2 Malter Korn und 1 Malter Spelt, außerdem noch je 4 Malter Spelt und Hafer vom Pfeifershof bei Prüm, schließlich auch die Hälfte der Trauben von etwa 3000 Weinstöcken zu Eller und Ediger an der Mosel. Das alles ist seit 1794 konfisziert, und Schneider blieb, wie er selbst dem Oberempfänger der Kantonalkasse beschwerdeführend mitteilte, nichts übrig als das leere Nachsehen.

Auch der Kirchenbau vor fünfzehn Jahren hat ihm hart zugesetzt. Sicher hätte Schneider gerne noch für das Innere gesorgt. Da fehlt noch alles. Der Herzog wird wohl keinen Altar mehr stiften. Und wo sonst nehmen bei der Armut? Dazu kam der Ärger um die neuen Ideen. Sogar bis nach Trier war die Göttin der Vernunft vorgedrungen. Was Wunder, daß der Pastor krank wurde vor Gram!

Wie sich die Zeiten geändert haben!

Gestern war der Peter Josef Nelles wieder in Adenau bei den fremden Herren als Agent der Gemeinde. Zwanzig Stüber hat er dafür zu bekommen. Früher war es leichter, als man in zehn Minuten oben war im Schloß! Jeden kannte man dort, und die Herren kannten jeden im Dorf.

Wie gerne würden sich wohl die Aremberger mit den Fronhofenern vertragen! Heute würden sie sich nicht mehr vor dem Reichsgericht streiten zehn Jahre lang — wegen eines verrückten Grenzsteins! Keiner hat etwas dabei gewonnen. Nur der Anwalt in Wetzlar, der Sachs, mag sich ins Fäustchen gelacht haben.

Auch das Kammergericht gilt nicht mehr, nur noch französisches Recht, das hier keiner kennt. Selbst die uralten örtlichen Rechte sind abgeschafft, die jeder auswendig wußte.

Hartmann fällt ein Satz ein aus der ersten Acht des Aremberger Weistums von 1548:

„Wenn hier zwei Weiber in dieser
Freiheit ungeziemlich keifen oder
Schlägerei begehen, sollen beide die
Schandsteine um die Kirche und den
Wittumhof tragen!"

O, das wirkte damals!

Hartmann blättert um zu Rentmerster Senfftleben. Dieser ist griesgrämig geworden in der letzten Zeit, besonders über die neue Rechnung in Livre, dem französischen Pfund, von dem jedes genau 19 Stüber 2 1/2 Heller ausmacht. Er hat noch die Nase voll von den berühmten Assignaten, dem faulen Papiergeld! In diesem Monat muß er gar noch erstmals die neue Fenstersteuer eintreiben. Das ist wieder kein Vergnügen. Senfftleben sieht man kaum noch in der Gaststube, aber er ist wenigstens einer, der hierzubleiben gedenkt.

Die vier folgenden Seiten erfordern keine Eintragung. Der Arzt Dr. Eisenhuth sucht ein neues Wirkungsfeld. Ga-libert, der Landmesser, ist verzogen. Niklas Krings, der frühere, und Gerhard Udelhofen, der neue Vorsteher, beide kommen nur noch selten. Die Taler und Stüber sind rar geworden durch die letzten fünf Jahre. 12 000 Reichstaler mußte das Dorf aufbringen an Kontributionen. Von dieser Summe wurden 1580 1/2 Rtl. beigetragen durch die Verkohlung der Stroht, des nach Antweiler zu gelegenen Gemeindewaldes. Man hatte 109 Wagen Holzkohle zu je 14 1/2 Rtl. an die Ahrhütte verkaufen müssen.

Wie aber stöhnte der Einzelne unter den Lasten! Der Anteil des Michael Jaklen, des Posthalters, betrug 490 Rtl., wofür er 32 ausländische große und 6 inländische kleine Fahrter machen mußte. Er hatte 548 Tage Einquartierung und mußte noch Korn, Hafer, Heu in rauhen Mengen und viel Bargeld aufbringen.

Seine Pferde wird er größtenteils abschaffen müssen. Vor wenigen Jahren noch besaß das Dorf 40 Pferde. Jedes Jahr aber ist weniger zu fahren, besonders weil die Eisenhütten zurückgehen. Seit diese nicht mehr dem Herzog gehören, liegen sich die Pächter der Ahr- und der Stahlhütte ständig in den Haaren. Alles geht den Krebsgang.

Jetzt will der Franzose gar noch den hiesigen Burschen eine Uniform anziehen. Sie sollen unter der neuen Trikolore marschieren und vielleicht sterben für eine fremde Nation!

Was würden die Aremberger noch einmal so gerne „Liebessteuern" zahlen wie 1785 bei der Geburt des Erbprinzen. Tausend Reichstaler hat es damals die Landschaft gekostet!

Jetzt aber: der Herzog fort, alle seine Beamten fort, die Geheimräte, Statthalter, Landschultheißen und Hüttenmeister, der ganze Hofstaat, einer nach dem ändern! Die Ratten verlassen das sinkende Schiff.

Hartmann sieht noch weiter. Alle Autorität ist unterhöhlt. Freiheit und Gleichheit sind die Parolen. Die strengen Zunftbräuche gelten nicht mehr. Die guten Handwerker werden abwandern, denn jeder darf jetzt ziehen, wohin er will.

Er selbst wird keine teuren Weine mehr brauchen. Nach Kaffee und Kakao wird keiner mehr fragen. Die Aremberger werden froh sein, wenn sie genügend Brot und Kartoffeln haben. Es wird ruhig werden, unheimlich ruhig!

Arembergs goldene Tage sind vorbei. Vielleicht wird es noch einmal ärmer als die Ohlenhard, das Köhlerdorf!


Alle Personen, Namen und Zahlen gehen auf Urkunden und Archivalien zurück.