SCHLESISCHE LEGENDE

VON ALFONS HAYDUK

Als die Menschen dos Paradies verloren hatten und im Schweiße ihres Angesichtes ihr täglich Brot verdienen mußten, schenkte ihnen der Herrgott in seiner unendlichen Güte den Garten Schlesien. Nicht, daß er ihnen von heute auf morgen zu eigen gewesen wäre — die urtümliche Landschaft zu jenem Garten zu gestalten, bedurfte des Fleißes und der Zähigkeit vieler Geschlechter, bedurfte des Fruchtens und Wachsens von Jahrhunderten. Dann erst erblühte jenes herrliche Stück Erde mit der reichen Vielfalt seiner Teile, die rauschende Wälder, goldene Acker und grüne Fluren umfaßte, liebliche Täler und sanfte Hügel, den mächtigen Wall der Sudeten und die Weite der östlichen Ebene, von der man wie auf einer Himmelstreppe zur Wolkenhöhe der Schneekoppe hinansteigen konnte, weithin gegrüßt vom schimmernden Silberband der Oder, dem Schicksalsstrome Schlesiens.

Wie im Segen der Erde sich hier anziehende Gegensätze einten, so formte sich ein Volksstamm, genährt von den Quellwassern des Gemütes und weltoffenen, heiteren Geistes, ein erdverwurzeltes Gottsuchervolk, das soine Lieblingsspeise schlichthin und sinnig Schlesisches Himmelreich nannte.

Anheimelnde Weiler und freundliche Dörfer lugten aus dem Grün der Obstgärten, mauerbewehrte Burgen und Siedlungen wuchsen und schließlich stattliche, stolze Städte mit vielem Getürm und hohen Kirchen, in denen die Kunst der Gotik und des Barock das Lob der Schöpfung sang, inmitten wie eine kostbare Perle die Landeshauptstadt Breslau, die Metropole an der Oder, viel gerühmt und nicht weniger prächtig als das goldene Prag, das heitere Wien, das lebensfrohe Leipzig, das warenträchtige Krakau, wohin überall seine Handelsstraßen führten.

Und der Herrgott gab dem emsigen Völklein längs der Berge den reichen Kranz heilkräftiger Quellen und Bäder, gab zudem das Geschürf und die Mutung unterirdischer Schätze, Kohlen, Erze, ja Silber, Gold und Edelsteine, über wogenden Weizenfeldern surrten die Grubenräder und qualmten die Essen, in Hüttenwerken und Fabriken pochte und hämmerte die Sinfonie der Arbeit. Selbst in den windschiefen Katen der Armut klapperte der Webstuhl. Weltberühmtes Leinen entstand hier wie die moderne Dichtung sozialen Mitleids und die Seelenwelt des Heiligenhofes.

Denn: „Ane Sehnsucht hot a jeder!" Sie ist des Schlesiers bestes Teil, so gestern wie heute. Unter ihrem Fittich blickte Jakob Böhme sinnierend durch seine Schusterkugel, schwang sich Angelus Silesius auf zur helligen Seelenlust und grüßte der Lubowitzer Freiherr von Eichendorff sein Deutschland aus Herzensgrund.

Und aus Herzensgrund sangen die sprichwörtlichen 666 Dichter von Opitz, Logau und Gryphius über Christian Günther, Moritz von Strachwitz und Gustav Freytag, der das Volk bei den Ahnen und bei seiner Arbeit suchte. Die schlesischen Ahnen des Kopernikus und Franz Schubert waren damals noch kaum bekannt, ebensowenig die schöpferische Arbeit eines August Borsig, Johann Dzierzon, Gregor Mendel und der späteren Nobelpreisträger. Aber wie die von Nucius geführten Tondichter und die von Adolf von Menzel repräsentierten Maler, trugen sie den Ruhm des schlesischen Namens in alle Welt.

Nun haben wir unser Paradies neuerlich verloren, wir Kinder des schlesischen Gartens. Solange es in uns und unseren Kindeskindern lebt, solange lebt Schlesien und wird nicht sterben, auch wenn wir längst gestorben sind. Legende ist überhöhte Wirklichkeit. Gruß und Glückauf darum dem wirklichen Schlesien, dem köstlichen Garten, wie gestern, so heute und immerdar!

Einmal wieder wird der Herrgott in seiner unendlichen Güte das verschlossene Tor öffnen. Dann ist Heimkehrtag. Dann wird die schlesische Legende wieder schönste Wirklichkeit.