Die Entwicklung der evangelischen Gemeinden im Kreise Ahrweiler, besonders seit 1945

Von Pastor i. R. Kirchenrat Lic. Sachsse

Es soll nicht unsere Aufgabe sein, eine vollständige Geschichte der evangelischen Gemeinden im Kreise Ahrweiler zu schreiben. Eine solche ist — wenigstens in Kürze — im Heimatkalender 1926 veröffentlicht worden. Diese damalige Darstellung würde nur wenige Ergänzungen bedürfen, wenn sich die Gemeinden seit 1926 weiterhin in langsam-natürlichem Anstieg entwickelt hätten. Dies aber ist nicht der Fall. Der 2, Weltkrieg und seine Folgen, die Völker= Wanderung aus dem Osten, die von unsern Feinden erzwungen wurde, überhaupt die ganze Umschichtung der Bevölkerung hat ein solch sprunghaftes Ansteigen der evangelischen Gemeinden Westdeutschlands im allgemeinen und des Kreises Ahrweiler im besonderen mit sich gebracht, daß es wohl berechtigt ist, jetzt, nachdem diese Umschichtung in etwa zur Ruhe gekommen, diese Entwicklung zu betrachten. Natürlich ist das Ansteigen der evangelischen 'Bevölkerung im Kreise Ahrweiler in erster Linie auf das Einströmen der Deutschen aus dem Osten, der Heimatvertriebenen und Zonenflüchtlinge zurückzuführen, von denen bei weitem die Mehrzahl der evangelischen Kirche angehört. Als dieser Zustrom in die Bundesrepublik erfolgte, hatte man den guten Willen, die Zugezogenen nach Möglichkeit in Gegenden und Orte einzuweisen, welche von Angehörigen ihrer Konfession bewohnt waren. Aber die Durchführung dieser Absicht war nicht möglich. So kam es, daß vielfach in rein katholische Orte unseres Kreises l oder 2 evangelische Familien eingewiesen wurden. Dies hat sich bald genug als nicht glücklich herausgestellt. Denn diese Familien fühlten sich in ihrer Umgebung fremd, sie hatten gar nicht das Verlangen, dort seßhaft zu werden, sondern strebten fort in Orte, wo sie Kirchen und Schulen ihres eigenen Bekenntnisses fanden. — Daß umgekehrt die gleiche Erscheinung zu beobachten ist, wenn in evangelische Gegenden einzelne katholische Flüchtlingsfamilien eingewiesen wurden, ist selbstverständlich. Diese verstreuten Evangelischen stellten große, unerfüllbare Anforderungen an die evangelischen Pfarrer des Kreises. Es war denselben einfach unmöglich, dafür zu sorgen, daß sie alle durch Gottesdienst und Religionsunterricht versorgt wurden; im höchsten Fall konnte der Pfarrer sie alle paar Monate einmal besuchen. So kam es dahin, daß die evangelischen Flüchtlinge in die Nähe der bereits bestehenden evangelischen Gemeinden strebten und deren Seelenzahl zu einem übermäßigen Ansteigen brachten; oder daß in Orten, in denen eine etwas größere Zahl von Flüchtlingsfamilien Unterkunft gefunden hatte, sich neue evangelische Zentren bildeten, welche als „Filiale" von den bestehenden Gemeinden versorgt werden mußten. So erklärt sich die Doppelerscheinung, die wir beobachten können, nämlich das Anwachsen der bisherigen Gemeinden und die Entstehung neuer Gemeinden, die zunächst nur Filiale sind, aber natürlich allmählich die Selbständigkeit erstreben und auch erlangen werden. Daß dies nicht nur im Kreise Ahrweiler der Fall ist, sondern in noch größerem Maße in den Nachbarkreisen, erhellt aus der Tatsache, daß in den zehn Jahren von 1950 bis 1960 im Bereich der Synode Koblenz zwölf neue evangelische Kirchen in Orten, in denen es bis dahin nie eine evangelische Kirche gab, erbaut worden sind; und dies in einer ausgesprochenen Diasporasynode mit sehr beschränkter Finanzkraft, einer Synode, die außer diesen Neubauten noch weit mehr zerstörte und beschädigte Kirchen wiederherstellen oder andere vergrößern mußte.

Konsistorialbuch = Protokollbuch des Presbyteriums Oberwinter, begonnen 1579

Aber nicht nur der Flüchtlingsstrom hat dies Anwachsen der evangelischen Gemeinden mit sich gebracht, sondern auch die fortschreitende Industrialisierung, man könnte auch sagen „Landflucht" unseres Volkes. Die kleinen und mittleren Städte, welche sich darauf beschränken wollten, weiter wie früher von handwerklichen Betrieben, von kleinen Geschäften, von Fremdenverkehr und ein wenig Weinhandel zu leben, stagnieren. Ihre Bevölkerungszunahme ist gering, ihr Steueraufkommen steht in keinem Verhältnis zu den modernen Anforderungen, die auch an sie herantreten. Wo aber eine Stadtgemeinschaft sich entschlossen von diesen alten Lebensverhältnissen frei macht und die Entstehung von industriellen Betrieben begünstigt, da strömen die Menschen von allen Seiten hinzu. Da ist ja lohnende Arbeit, da ist Verdienst.

Da lockt das Geld, welches rascher verdient, freilich auch rascher 'ausgegeben wird. Man mag diese Entwicklung bedauern, man mag sie für nicht gut halten, aber leugnen kann man sie nicht. Im Kreise Ahrweiler ist es nicht nur die Industrialisierung, sondern auch der Bäderbetrieb, welcher Verdienst mit sich bringt und Menschen anlockt. Natürlich aber werden in erster Linie davon solche Personen angelockt, welche nicht bodenständig sind, welche im Osten ihre Existenz verloren haben und nun nach einer neuen Existenzmöglichkeit suchen, einerlei, welcher Art dieselbe ist, wenn sie ihnen nur ihr Auskommen und vielleicht auch später einen bescheidenen Wohlstand verspricht. In den Dörfern aber bieten sich kaum solche Aussichten, denn der Grund und Boden, dessen Bearbeitung dort fast die einzige Gewinnmöglichkeit bietet, befindet sich in festen Händen. Der Zugezogene hat daher nur die Möglichkeit, dort Bauernknecht zu werden, eine Tätigkeit, die wenig Verlockendes an sich hat. Da nun die Zugezogenen zum größten Teil der evangelischen Kirche angehören, wachsen in den Städten die evangelischen Gemeinden, während das flache Land Im Kreise Ahrweiler durchweg seinen katholischen Charakter bewahrt hat. Eine kurze Statistik möge dies bestätigen: Die Gesamtzahl der Evangelischen im Kreise Ahrweiler (einschl. Adenau) betrug 1939 3 170 Seelen, während sie jetzt auf 10 980 Seelen herangewachsen ist. Das bedeutet, daß der evangelische Bevölkerungsteil im Kreise Ahrweiler im Jahre 1939 knapp 5% der Gesamtbevölkerung ausmachte, während er jetzt auf mehr als 13% gestiegen ist.

Betrachten wir nun die einzelnen evangelischen Gemeinden unseres Kreises. Wir wollen mit der ältesten Gemeinde, Oberwinter, beginnen, freilich eine Gemeinde, welche ihrer konfessionellen Geschichte und Struktur nach ganz aus dem Rahmen des Kreises hinausfällt; zugleich die einzige evangelische Gemeinde im Kreis, die keinen Diasporacharakter besitzt, sondern zum großen Teil aus alteingesessenen Familien besteht, die sich auf den engen Raum des kleinen Ortes beschränken, während die Dörfer in unmittelbarer Nachbarschaft fast gar keine evangelischen Bewohner haben. Die Gemeinde blickt auf eine mehr als 4OOJährige Geschichte zurück. 1549 wurde sie begründet und besteht seitdem ununterbrochen als selbständige Kirchengemeinde. Spätestens Um 1555 hat sie einen eigenen Pfarrer bekommen. Bald danach hört der katholische Kultus in Oberwinter ganz auf, und es ist bezeichnend für die friedliche Gesinnung der Bewohner, wie dies sich ohne Gehässigkeit und ohne „Bilderstürmerei" vollzieht. Ein Protokoll aus dem Jahre 1565 berichtet darüber, daß man im Beisein zahlreicher Zeugen die Meßgeräte, die bisher noch in der Kirche unbenutzt herumgestanden haben, um sie vor Diebstahl und Beschädigung zu bewahren, in eine Kiste verpackte und an dieser Kiste drei verschiedene Schlösser anbrachte. Den Schlüssel zu dem einen Schloß erhielt der Graf von Manderscheid, den zu dem andern Schloß der Freiherr von Quadt — es waren die beiden Lehensmänner der Pfälzischen Regierung — während den Schlüssel zu dem dritten Schloß der Gerichtsschöffe der Bürgerschaft von Oberwinter erhielt. Die derartig gesicherte Kiste wurde dann in das Haus des Schultheißen gebracht und diesem zur Verwahrung anvertraut. Bald danach, im Jahre 1579, fand auch eine wichtige innere Umgestaltung der Gemeinde statt. Es kommt nämlich der ehemalige katholische Geistliche von Vilich bei Beuel nach Oberwinter und wird dort nach dem Fortgang des bisherigen Predigers zum Pfarrer gewählt. Und dieser Pfarrer, Georg Nehemannus, der augenscheinlich aus der Schule Calvins herkommt, gibt der Gemeinde ihr kalvinistisches Gepräge, das sie sich jahrhundertelang bewahrt hat. Nehemannus sucht Oberwinter zu einem „kleinen Genf" zu machen. Nach Genfer Muster setzt er ein „Konsistorium" ein, welches eine strenge Kirchenzucht übt, und von dessen Tätigkeit das alte Konsistorialbuch der Gemeinde, welches im Jahre 1579 begonnen ist und noch jetzt den größten Schatz des Oberwinterer Kirchenarchivs bildet, Zeugnis ablegt. Durch diese straffe Organisation und die Erziehung der Gemeindeglieder zu bewußten, glaubensstarken Christen erhält die Gemeinde den inneren Halt, der es ihr möglich gemacht hat, in den späteren Jahren der Not in unentwegter Treue bei ihrem Bekenntnis zu beharren, während manche Nachbargemeinden untergegangen sind.

Der einheitliche evangelische Charakter des Ortes war nicht von langer Dauer. Durch die Religionspolitik der Jülicher Herzöge, denen Ober Winter seit 1567 gehört, durch Gegenreformation und 3ojährigen Krieg kam es zur Bildung einer neuen katholischen Gemeinde, der nach mancherlei Kämpfen schließlich beide Kirchen des Orts zufielen, so daß die Evangelischen ihre Gottesdienste im Rathaus halten mußten. Aber noch lange Zeit bildeten die Evangelischen die Mehrheit der Bevölkerung. Ihre Seelenzahl dürfte ziemlich konstant sich auf rund 600 beziffert haben. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts sank die Seelenzahl, so daß sie im Jahre 1939 nur noch 430 betrug, also etwa ein Drittel der gesamten Bevölkerung von Oberwinter.

Nach 1945 folgte ein rapides Ansteigen der Gemeinde, und zwar nicht allein durch Heimatvertriebene, sondern auch durch Beamte und Angestellte der Bundesregierung in Bonn, die in der überfüllten Bundeshauptstadt keine Unterkunft fanden und sich deshalb in den benachbarten kleinen Orten, darunter auch in Oberwinter, Unterkunft schufen. So hat sich die Gemeinde verdreifacht. Sie zählt jetzt über 1200 Seelen, also etwa 40% der Gesamtbevölkerung. Es kommt dem Ort Oberwinter zu= gute, daß er sich nicht auf seine alte Tradition von Fremdenverkehr und Weinhandel beschränkt hat, sondern daß bedeutende Betriebe, darunter eine große Schiffsbauwerft, sich in dem Ort niedergelassen haben. Dadurch sind zahlreiche Arbeiter nach Oberwinter gezogen worden. Außerdem hat sich auf der Höhe über Oberwinter ein ganz neuer Ortsteil gebildet, der aus mehreren Siedlungen und zahlreichen kleinen Villen und Wohnhäusern besteht. Da dieser Ortsteil ständig wächst, hat die evangelische Gemeinde im Jahre 1958 auf der Höhe ein Grundstück gekauft, um dort später eine Kapelle zu errichten, da vielen, namentlich alten Leuten, die auf der Höhe wohnen, der Besuch der Kirche, die im Rheintal liegt, zu beschwerlich ist. Trotz dieses Wachstums kann man nicht von einer Überfremdung der alten Gemeinde reden. Denn diese letztere besteht zum großen Teil aus Familien, die schon seit Jahrhunderten in Oberwinter wohnen und die den festen Kern bilden, um den sich die Zugezogenen kristallisieren konnten. Um dieses Zusammenwachsen, auch über das gottesdienstliche Leben hinaus, zu erleichtern, hat die Gemeinde im Jahre 1956 in dem schon vorhandenen Gemeindehaus einen schönen, modernen Gemeindesaal mit Bühne geschaffen, der neben der Kirche den Mittelpunkt des gemeindlichen Lebens bildet. Geschichtlich auf das engste mit Oberwinter verbunden ist die Nachbargemeinde Remagen. Ihre Anfänge sind nicht so aktenkundig wie die von Oberwinter, dürften aber ungefähr in die gleiche Zeit fallen. 1585 sollen die Evangelischen fristlos die Stadt räumen; jedoch wird die Forderung nicht durchgeführt; die kleine Schar kann sich in Remagen halten. Um 1600 werden eigene Gottesdienste von ihr bezeugt, 1609 kann sie sogar einen eigenen Prediger anstellen. Dann aber tritt ein Rückschlag ein. 1616 muß die Gemeinde ihren Prediger entlassen und wird nun wieder von Oberwinter betreut. Erst nach Beendigung des 3ojährigen Krieges können die Evangelischen in Remagen aufatmen, ja sie können sogar 1684 ein Gebäude, das sog. „Steinenhaus", als Kirche und Pfarrwohnung kaufen. Dies Gebäude mit seinem allerliebsten Türmchen ist also die älteste evangelische Kirche im Kreise Ahrweiler, denn erst 40 Jahre später brachte es Oberwinter .zu einem eigenen Kirchengebäude. Obwohl die Gemeinde nach wie vor sehr klein ist — um 1800 hatte sie rund 110 Seelen — baut sie im Jahre 1871 die jetzige evangelische Kirche. Um 1930 ist die Seelenzahl auf 650 Personen angewachsen, und die Gemeinde entschließt sich, das jetzige Gemeindehaus zu erwerben. Stets wurde von Remagen die kleine evgl. Gemeinde Sinzig mit betreut. Aber noch zu Beginn des 2. Weltkrieges zählt dieselbe nur etwa 200 Evangelische. Nach dem Krieg wachsen beide Städte und demgemäß auch die beiden Kirchengemeinden beträchtlich. Während aber in der Stadt Remagen, die durch ihre Lage und Geschichte das Tor zum Ahrtal und dadurch eine Fremdenverkehrs=Stadt ist, die Zahl der Evangelischen von 650 nur auf 1100 Seelen wächst und für die Zukunft keine anwachsende Tendenz aufweist, entwickeln sich in Sinzig bedeutende industrielle Betriebe, die Arbeitswillige von allen Seiten, besonders Flüchtlinge anziehen und ein Steigen der evgl. Bevölkerung um das vierfache — von 200 auf 800 Seelen — mit sich bringen. Demgemäß mußte die Leitung der Doppelgemeinde vor allem darauf bedacht sein, für die Evangelischen in Sinzig eine gottesdienstliche Stätte zu schaffen, da die verschiedenen Säle, die früher dazu benutzt wurden, nicht mehr ausreichten.

„Das Steinenhaus", erste ev. ref. Kirche in Remagen, zugleich Pfarrer- und Lehrerwohnung 1684-1870

 So wird 1952 in Sinzig die evangelische Kirche erbaut, die bei ihrer Einweihung den Namen „Adventskirche" erhielt, und die das an sich schon rege kirchliche Leben der Diasporagemeinde noch mehr aktivierte. Die evangelische Gemeinde Niederbreisig hatte ihren Vorläufer in den Reformationsgemeinden, die sich um 1540 im Breisiger Ländchen bildeten, und die den ersten Anfang der evangelischen Kirche in unserem Kreis darstellten. Aber diese Gemeinden haben sich nicht erhalten. Wenn auch ursprünglich die Landesherrschaft, die Äbtissin von Essen, der Reformation freund* lieh gegenüberstand, ja sogar das evangelische Bekenntnis im Breisiger Ländchen förderte, so war einige Zeit später das Stift Essen der stärkste Gegner der evangelischen Bewegung und veranlaßte, daß die Evangelischen aus der Breisiger Gegend allmählich auswanderten, so daß bald nach dem 3ojährigen Krieg keine Gemeinde mehr vorhanden ist.

Erst im 19. Jahrhundert siedelten sich einige Evangelische in Niederbreisig an, die in der Kapelle auf der Burg Rheineck, welche der Familie von Bethmann=Hollweg gehörte, ihre Gottesdienste hielten. Diese kleine Glaubensgemeinschaft gehörte kirchlich zur Gemeinde Andernach und wurde auch von dort her betreut. Diese Zugehörigkeit zu Andernach bleibt auch bestehen, nachdem 1902 in Niederbreisig die evangelische Kirche erbaut worden war. Die Seelenzahl war immer noch zu klein, um die Begründung einer' selbstständigen Gemeinde zu rechtfertigen. Erst durch den Zuzug der Ostvertriebenen wurde es anders. Nunmehr wurden Niederbreisig, Burgbrohl, Niederzissen usw. aus dem Verband der evangelischen Gemeinde Andernach gelöst und zu einer eigenen Kirchengemeinde Niederbreisig mit einem eigenen Pfarramt zusammengeschlossen. Die Zahl der Gemeindeglieder in diesem ganzen Bezirk, die bis zu Beginn des 2. Weltkrieges kaum 500 betrug, stieg nach 1945 auf 1600 Seelen an. Auch hier zeigt es sich, daß der Hauptteil der Evangelischen in den größeren Orten ansässig wird, so in diesem Fall in Niederbreisig, das allerdings nicht durch Industrie= werke, aber wohl durch seinen gut florierenden Badebetrieb auch den Zugewanderten Verdienstmöglichkeiten bot. Daher sind von den 5000 Einwohnern des Bades Niederbreisig fast 600, also 20%, evangelisch. Ebenso wie Niederbreisig hat auch die größte und bekannteste Stadt des Kreises, Neuenahr, ihre Entwicklung ausschließlich ihrem Badebetrieb zu verdanken. Bevor im Jahre 1858 die Quellen gefunden wurden, gab es nicht einmal ein zusammenhängen; des Dorf an dieser Stelle, sondern die drei kleinen Dörfer Wadenheim, Hemmessen und Beul, die dann erst, als der Kurbetrieb anlief, zu dem Dorf „Neuenahr" zusammengefaßt wurden. Die Heilkraft der Quellen bewirkte, daß die Zahl der Kurgäste immer mehr anstieg und Neuenahr zu den bekanntesten Heilbädern Westdeutschlands wurde. Auch die unmittelbar vor dem Ort gelegene Apollinarisquelle lieferte ein Mineralwasser, das bald Weltruf erlangte und ebenfalls den Namen von Neuenahr bekannt machte. Mit dem steigenden Badebetrieb stieg auch die Einwohnerzahl des Ortes, der schließlich sogar die alte Kreisstadt überflügelte und ebenfalls Stadtrechte erhielt. Wie die Kommunalgemeinde, so hat auch die Kirchengemeinde keine alte Geschichte. Zuerst wurden die Evangelischen jener Gegend in Ahrweiler gesammelt und dort von Remagen aus betreut. Aber bald schon trat die größere Bedeutung, die Neuenahr für die Evangelischen hatte, so deutlich hervor, daß, als die notwendig gewordene Kirche errichtet werden sollte, man diese nicht in die Kreisstadt Ahrweiler, sondern nach Neuenahr legte, wo sie im Jahre 1872 eingeweiht wurde. Es ist bezeichnend, daß der ursprüngliche Sitz der evangelischen Gemeinde, Ahrweiler, erst 1953 eine eigene Kirche erhielt. Demgegenüber erwies sich die Kirche in Neuenahr sogar als zu klein, so daß sie zweimal vergrößert wurde, zum letzten Mal im Jahre 1958, wo ein derartig großer Umbau vollzogen wurde, daß die Kirche jetzt 800 Sitzplätze enthält. Auch in Neuenahr zeigte es sich, daß die von auswärts zugezogenen Evangelischen es vorziehen, in eine Stadt zu ziehen, wo sie Arbeitsmöglichkeit, aber auch religiöse Betreuung finden. So hat Neuenahr z. Zt. unter seinen 10 ooo Einwohnern 2 500, also 25%, Evangelische. Dagegen hat die Kreisstadt Ahrweiler auch jetzt noch ihren katholischen Charakter bewahrt und nur knapp 10% an Evangelischen (850 unter 9 ooo Einwohnern) aufzuweisen. Die ganze evangelische Gemeinde Neuenahr, welche das Ahrtal von Heimersheim bis Altenahr sowie das Amt Ringen umfaßt, zählt augenblicklich über 4 ooo Seelen und ist in ständigem weiteren Ansteigen begriffen, so daß die Notwendigkeit der Errichtung einer zweiten Pfarrstelle in die Nähe gerückt ist. Entsprechend der Kirchengemeinde ist auch das Arbeitsgebiet der Inneren Mission im Bereich der Gemeinde gewachsen. Es sind jetzt in diesem Bezirk drei große evangelische Anstalten: das Walburgisstift, das Altersheim „Abendfrieden" und das Schnellersche Kinderheim in Vettelhoven. Es bleibt noch die Gemeinde Adenau, welche in der Darstellung von 1926 nicht berücksichtigt ist, weil damals Adenau noch nicht zum Kreise Ahrweiler gehörte, sondern einen eigenen Kreis bildete. Adenau war bei seiner Begründung und ist auch jetzt noch eine typische Diasporagemeinde. Sie umfaßt einen außerordentlich großen Bezirk, den ganzen ehemaligen Kreis Adenau. Bis gegen Mitte des vorigen Jahrhunderts gab es in dieser Gegend überhaupt keine evangelischen Bewohner. Dann kamen ein paar Förster und Gendarmen, die zur evangelischen Kirche gehörten, dorthin. Auch einige wohlhabende Herrschaften errichteten sich dort Jagdhäuser, in denen sie das Wochenende zubrachten. So kam es zur Einrichtung von evangelischem Gottesdienst. Der erste wurde 1847 in der Wohnung eines Oberförsters in Adenau gehalten; an ihm nahmen 12 Personen teil. Trotz ihrer geringen Zahl wagten diese evangelischen Christen es, 1853 ein Grundstück für einen späteren Kirchenbau zu kaufen und 1860 dort einen Betsaal zu errichten. Erst kurz vor dem l. Weltkrieg wurde die gegenwärtige Kirche erbaut. Aber bis zum Ende des 2. Weltkrieges blieb die Gemeinde sehr klein, sie umfaßte kaum mehr als 350 Seelen.

Nach 1945 strömten auch hier die Ostvertriebenen ein, unter denen sich viele Evangelische befanden. Die Gemeinde wuchs dadurch auf 1500 Seelen. Aber diese evangelischen Familien sind auf das ganze große Gebiet verteilt, und ihrer pfarramtlichen Betreuung stehen fast unüberwindliche Schwierigkeiten entgegen. Nur die Stadt Adenau selbst enthält eine zahlmäßig einigermaßen beachtliche Gemeinde von etwa 300 Seelen. Es bleibt der Gemeindeleitung nichts anderes übrig, als in gewissen Orten, die für die evangelischen Bewohner zentral liegen, gottesdienstliche Räume zu schaffen und aus einem möglichst weiten Umkreis die evangelischen Christen dort zum Gottesdienst zusammenzuziehen. Die Gemeinde hat damit bereits den Anfang gemacht, indem sie am Ausgang des Denntales in Ahrbrück ein wunderschönes kleines Kirchlein erbaut hat, das sich trefflich der Landschaft anpaßt. Ein weiteres gottesdienstliches Zentrum ist für Kelberg vorgesehen, wo bereits ein Grundstück gekauft ist, auf dem im Laufe des Jahre 1960 mit dem Bau einer Kapelle begonnen werden soll. Auch in Antweiler besitzt die Gemeinde ein solches Grundstück, und man hofft, daß auch dort in absehbarer Zeit ein Gemeindezentrum errichtet werden kann. Wenn also auch seit 1945 die evangelische Gemeinde Adenau sich verfünffacht hat, so ist doch nichts an ihrem Diasporacharakter geändert worden. Nach wie vor macht sie nur 5% der Bevölkerung aus, steht also zahlenmäßig weit unter dem Durchschnitt des Kreises Ahrweiler. Aber es zeigt sich auch hier, was man vielfach in den Diasporagegenden bei beiden Konfessionen beobachten kann, daß kirchliches Leben und Opferfreudigkeit in der Diaspora unendlich viel stärker sind als bei den saturierten Massengemeinden der großen Städte.

Glasmosaik in der ev. Kirche Bad Neuenahr

Dieser kurze Überblick über die Entwicklung der evangelischen Kirche im Kreise Ahrweiler in den letzten 15 Jahren zeigt das gleiche, was wir auch anderwärts sehen, nämlich daß die Zeiten vorüber sind, in welchen in Westdeutschland ganze Territorien fast geschlossen zu einer der beiden christlichen Kirchen gehörten. Ebenso wie in den ehemals katholischen Gebieten sich überall kleinere oder größere evangelische Gemeinden bilden, so werden auch umgekehrt die evangelischen Gebiete von katholischen Christen durchsetzt. Diese Tatsache erschwert es zweifellos oft beiden Kirchen, ihre seelsorgerlichen Pflichten an ihren Angehörigen zu erfüllen. Aber andererseits kommen die beiden Konfessionen sich gegenseitig näher und lernen einander kennen. Und diese Tatsache dürfen wir sicher als Positivum werten. Sie kann und möge dahin führen, daß jede Konfession bei aller Treue zum eigenen Bekenntnis doch auch die andere Konfession ehren und achten lernt und man auf beiden Seiten er kennt, daß die beiden Kirchen unendlich viel, und gerade das Wesentliche, gemeinsam haben. Setzt diese Erkenntnis sich durch, so kann die durch die Bevölkerungs=Umschichtung bewirkte territoriale Mischung der Konfessionen für alle zum Segen werden.