Gedenkstein aus meiner Wortwerkstatt für eine Lehrerin

VON DR. HERMANN OTTO PENZ

Mit ihr bekam ich als Schulanfänger zu tun; wir nannten sie Muhkuh seit der Zeit, als sie bei der Durchnahme und Einführung des „U" immer wieder m unserer Belustigung „Muh" brüllte. Sie hielt viel von Anschauung und Spiel und machte regelmäßig kleinere Ausflüge mit uns, mal zu einer Quelle, mal in einen Pferdestall, mal in eine Schmiede; einmal kletterte sie mit uns auf den nahen Aussichtsturm, zeigte uns im Wald wie man Kuckuckspfeifen und Fiepen bastelt und Wasserrädchen durch den Bach treiben läßt oder Mooshütten zu ganzen Zwergendörfern zusammenstellen kann. Sie stammte aus einem kleinen Westerwald-Dorf, besaß volle Formen und ein allzeit fröhliches, rundes Gesicht unter schwarzen Lockenbergen.

Unser Klassenzimmer ließ sie durch uns in eine kleine Gärtnerei verwandeln, und während die Mädchen morgens die grüne oder blühende Pracht von der roten Hyazinthe bis zum stacheligen Zwergkaktus versorgten, mußten wir Jungen singen „Meine Blümchen haben Durst" etwa oder „Ward ein Blümlein mir geschenket". Sie, die Obergärtnerin, hatte uns gesagt, Frauen müßten immer die Blumen begießen und ihre Kinder wiegen, die Männer aber müßten singen und die Frauen schützen und auf die Jagd gehen. Das leuchtete uns ein, so wurden die Bewegungen der Mädchen fließend und schmiegsam wie die Melodien der Lieder, und wir Jungen waren stolz auf „unsere Frauen" und ihre gärtnerischen Fähigkeiten, zudem legten wir zum Schrecken von Eltern und Verwandtschaft überall Mistbeete und Saatkästen an, sammelten Walderde und bettelten Geld für Blumenzwiebeln. Je länger wir zur Muhkuh in die Schule gingen, um so mehr öffneten sich uns die Augen, und wir sahen eine Welt, die uns bisher unbekannt geblieben war: Eine harmonische Welt war es, eine Welt der Liebe und Fürsorge, in der man mit Tieren und Blumen und Steinen wie mit seinesgleichen reden und umgehen konnte, eine Welt, in der man von einer Zaubergrotte in die andere schritt und in jeder neuen Grotte auch neue, wunderbare Dinge sah und erfuhr. Ich entsinne mich genau, daß ich Muhkuhs Kleid einmal gestreichelt habe, als sie auf meine Tafel sah und es nicht merkte. Für mich war es viel mehr als ein Stück bunten Stoffs, den ich dort zärtlich berührte, für mich war es in jenem Augenblick ein Stück von ihr, in der sich das Gute auf der Welt zu sammeln schien wie in einem glitzernden Kristall.

Nie werde ich vergessen, wie Muhkuh von uns fortging in ein fernes Dorf hoch überm Rhein. Wir hatten am Nachmittag Körbe voll Margerithen aus den Wiesen und von den Rainen zusammengetragen und einen großen, mächtigen Kranz geflochten und eine richtige Blumenkrone. Am Abschiedsmorgen holten wir den Schmuck aus dem feuchten Hausmeister-Keller, bekränzten den Stuhl hinterm Pult und die Balken der mächtigen Schiebetafel. Endlich kam sie, wir waren sehr aufgeregt; aber indem sie die Tür hinter sich schloß, gab Bärbel das Zeichen zum Einsatz:

Ward ein Blümlein mir geschenket,
habs gepflanzt und habs getränket.
Vögel kommt und gebet acht!
Gelt, ich hab es recht gemacht.

Zuerst klang es etwas zitternd und hilfslos, aber dann ging Stephan nach vorn und zog Muhkuh auf den Blumenstuhl und legte ihr den Margerithenkranz um den Hals; sie ließ es lächelnd geschehen, und als er dann die prächtige Haube ergriff und sie mit bebenden Händen krönte, fielen wir wieder ein, diesmal lauter und sicherer, und fröhlicher:

Sonne, laß mein Blümlein sprießen!
Wolke, komm es zu begießen!
Richt empor dein Angesicht,
liebes Blümelein, fürcht dich nicht!

„Ja, liebes Blümlein, furcht dich nicht!", sagte Muhkuh ganz langsam und deutlich, und dabei sprangen ein paar Tränen über ihre roten Backen, tanzten zwischen den gelb-weißen Margerithen und funkelten für Augenblicke wie bunte Perlen im Geschmeide einer Königin.