Ein Unglückskreuz erzählt

VON LEO STAUSBERG

„A(NN)O .1722. DEN . 17 . MERZ . IST . ALHIER. VOM. PFERT. GESTÜRZT. VND. THOT . GEFVNDEN . WORDEN . DER . "WOHLEDLER . HERR . FRANCISCVS . ANTHONIVS . VON . STEINHAVSEN . SEINES . ALDERS . 22 JAHR . DES (SEN . SEELE . GOTT . GNADE!)"

Foto: Jakob Zerwas

Also liest man auf einem Unglückskreuz aus Basaltlava, das bis etwa 1930 am Bahnübergang an der alten Heerstraße zwischen Rheineck und Bad Niederbreisig stand. Darin lag es im gemeindlichen Bauhof zu Bad Niederbreisig. Unserem Landsmann Franz Fabrititis gebührt das Verdienst, im August 1964 in einem Artikel der „Ahr-Rundschau" auf diesen, zum Nachsinnen herausfordernden steinernen Zeugen aus vergangener Zeit hingewiesen zu haben. Durch seine Initiative fand es am Gertrudentag 1965 wieder Auf Stellung am Hotel Riehter in Rheineck.

Es sei mir gestattet, den geschichtlichen Hintergrund, vor dem dieses Steindenkmal steht, näher zu beleuchten! — Was sagt die Inschrift? Nun, zunächst nichts Außergewöhnliches; sie meldet einen Verkehrsunfall. Würde man das Wort „Pferd" durch „Auto" ersetzen, so wäre es eine bedauerliche Alltäglichkeit von heute.

Die Tatsache, daß der junge Reitersmann tot aufgefunden wurde, beweist, daß der Unfall ohne Zeugen geschah, etwa in der Nacht oder im Morgengrauen, als auf der Heerstraße noch niemand unterwegs war. Da die alte Koblenzer Straße durch den mit Toren, Türmen und Mauern bzw. Wällen bewehrten Flecken Niederbreisig führte, war es zudem nur auf Umwegen möglich, bei nachtschlafender Zeit hier weiterzukommen, denn bei Einbruch der Dunkelheit hieß es auch hier: ,, . . . und das Stadttor schließt sich knarrend ..." — So mag der schlaftrunkene Torschreiber am Koblenzer Tor in der Morgenfrühe des Gertrudentages anno 1722 durch das Hufgeklapper des reiterlos dahertrabenden gesattelten Rosses aufgeschreckt worden sein, das Tier aufgefangen und die Suche nach seinem Reiter veranlaßt haben.

Ein merkwürdiger Umstand, auf den ich kürzlich durch Zufall stieß, läßt es möglich, ja zwingend erscheinen, jenes im Unglückskreuz verzeichnete traurige Alltagsereignis auf eine höhere Ebene zu stellen und geschichtlich einzuordnen.

Seit 1583 herrschten im Kurfürstentum Köln die Wittelsbacher, die zudem stets einige Suffraganbistümer (Münster, Paderborn, Lüttich, Hildesheim, Osnabrück sowie die Abtei Stablo) innehatten. Fünf Prinzen aus diesem bayrischen Fürstenhause trugen nacheinander den Kölner Kurhut: Ernst (1583—1612), Ferdinand (1612— 1650), Max-Heinrich (1650—1688), Josef-Clemens (1688—1723) und Clemens-August (1723—1761).

Zu dem Zeitpunkt, da das Unglück, von dem wir ausgingen, sich zutrug, war also Josef-Clemens Herr von Kurköln. Er residierte in Bonn und war damals schon ein kranker Mann. Sein Neffe Clemens-August war zu seinem Nachfolger ausersehen. Am 9. Mai 1722 wurde Clemens-August zum Koadjutor mit dem Recht der Nachfolge ernannt. Als Josef-Clemens am 12. 11. 1723 starb, trat Clemens-August seine Herrschaft in Kurköln an. Der am 17. 8. 1700 Geborene war aber bereits seit dem 27. März 1719 Bischof von Münster und Fürstbischof von Paderborn. Demnach hatte er zu dem Zeitpunkt, den unser Unglückskreuz vermeldet, die beiden genannten Bistümer inne, und seine Ernennung zum Koadjutor in Kurköln stand kurz bevor. In seinem auf Schluß- und inhaltsreichen Katalog über die Ausstellung im Brühler Schloß, die im Jahre 1961 aus Anlaß des 200. Todestages von Kurfürst Clemens-August stattfand, bringt Prof. Max Braubach auf Seite 64 ff. den Versuch eines Itinerars, einer Aufstellung also über die Reisen und Aufenthalte dieses reiselustigen Fürsten. Unter dem Datum des 16. März 1122 heißt es darin: ,, . . . von Bonn nach Frankfurt", — am 17. März „ . . . von Frankfurt nach Miltenberg". Am 23. März langte der Fürst in München an. Diese Reise wurde dem Junker Franziskus Antonius von Steinhausen zum Verhängnis. — Steinhäuser! ist ein Ort im Paderbornischen. Der Junker gehörte — dieser Schluß ist berechtigt! — also zum Gefolge seines jungen, gleichaltrigen Landesherren, das sich wie üblich, aus jungen Adeligen des Fürstbistums Paderborn zusammensetzte. Clemens-August befand sich, wie aus dem erwähnten Itinerar ebenfalls ersichtlich, seit dem 9. Februar 1722 bei seinem Oheim Josef-Clemens zu Bonn. Nun war er am 16. März von dort nach München aufgebrochen. Gegen Mittag passierte die glanzvolle Kavalkade, welche den prächtigen Reisewagen des jungen Kirchenfürsten eskortierte, auch das fürstlich essendische Ländchen Breisig und durchschritt den Flecken Niederbreisig. Wir können uns ausmalen, daß das glänzende Schauspiel die Bewohner ergötzte. Alt und Jung jubelte dem jungen Souverain zu, der huldvoll lächelnd winkte. Ein Kundiger wies auf das paderbornische Wappen hin, das auf die Zipfel der Satteldecken gestickt war und auch den Wagenschlag der Karosse zierte: unter der Fürstenkrone in vier Feldern zweimal auf rotem Felde das goldene Kreuz von Paderborn und zweimal auf weißem Grunde das rote Ankerkreuz von Pyrmont. — Wie bald sollten sie dieses Wappen noch einmal zu Gesicht bekommen! — Der Zug bewegte sich rheinaufwärts. Irgendwo unterwegs, vielleicht in Koblenz oder Ehrenbreitstein übernachtete man, und der junge Fürst sandte seinen Junker Steinhausen als Depeschereiter zu seinem Oheim nach Bonn zurück. Den Inhalt des Schreibens, das in der wappengeschmückten Kuriertasche steckte, kennen wir nicht. Möglicherweise war es nur eine Belanglosigkeit, etwa ein Dank des Neffen für genossene Gastfreundschaft, vielleicht aber auch eine wichtige Notiz zu der bevorstehenden Wahl zum Koadjutor.

In aller Frühe des Gertrudentages war es ein solcher mit Frühlingsahnen in der Natur, von dem der Landmann sagt: „Gertraudendaach springen die Frösche in die Baach!" — brach der junge Reiter zum Ritt nach Bonn auf. Irgendwie mochte es ihn verdrießen, diesen Sonderritt unternehmen zu müssen, würde es doch Anstrengung kosten, auf der Rückreise wieder den Anschluß an den Fürstenzug zu gewinnen!

In flottem Trabe war er unter dem Felsen der Reutersley vorbeigeeilt und hatte die Furt des Vinxtbachs durchritten. Da ereilte ihn das Schicksal! Das Pferd, durch irgendetwas erschreckt, scheute und warf den Reiter, der sich dessen nicht versah, aus dem Sattel. War es ein Stück Wild, das plötzlich die Straße kreuzte oder ein Rabe vielleicht, der, durch den Hufschlag zu ungewohnter Stunde geweckt, krächzend von einem Baume aufflog? War es gar der Gertrudsvogel selber, ein Schwarzspecht mit feuerroter Haube, der mit gellendem Gelächter sich von seinem Schlafbaum löste? Wir wissen es nicht. Kein Mensch war Zeuge. Außer dem Torschreiber am Koblenzer Tor, von dem wir annehmen, daß er das herrenlose Roß auffing, käme als einer der Ersten, die von dem Todessturz erfuhren, wohl der Bruder Pförtner des vor dem Tor gelegenen Templerhofes in Betracht. Es darf wohl als sicher angenommen werden, daß der Leichnam des Verunglückten in der Donatuskirche, die damals noch südlich neben dem Templerhof stand, aufgebahrt wurde. Die Identifizierung des Toten bereitete keine Schwierigkeiten; das Wappen der Satteldecke und der Kuriertasche wiesen ihn als Gefolgsmann des Paderborner Kirchenfürsten aus, dessen glänzender Aufzug vom Vortage noch in aller Erinnerung war. Nehmen wir an, daß der Leichnam in die westfälische Heimat des Junkers überführt wurde. — Die trauernden Eltern haben bald danach das Kreuz bei einem hiesigen Steinmetz in Auftrag gegeben. Nirgends findet sich in der Folge der Name Steinhauseil im Zusammenhang mit dem Landesherren Clemens-August. Das läßt den Schluß zu, daß Franz Anton von Steinhausen der letzte hoffnungsvolle Sproß des Geschlechts derer von Steinhausen gewesen ist. Es handelt sich bei dem Votivkreuz um ein vorgefertigtes Barockkreuz mit Korpus, wie sie die Steinmetzen damals feilboten. Die sehr sauber geschlagene Inschrift auf der Rückseite wurde nach der Bestellung eingemeißelt. Die Schlußformel: „dessen Seele Gott gnade!" war nur mehr mit drei Lettern erhalten, durfte aber nach damaligem Brauch so ergänzt werden.