Eine alte Sage

VON THEODOR SEIDENFADEN

Der griechische Jüngling Dionysos fand, als er über die fünfeckige Insel Naxos, die schönste der Kykladen des Ägäischen Meeres, wanderte, am Wegrande ein Rebenpflänzchen. Es war heißer Sommer und die vom Glimmerschiefer strahlenden Berge ringsum, deren Gipfel Marmor bargen, strahlten ihre Glut talwärts.

Dionysos wollte das ihm unbekannte Pflänzchen vor dem Verwelken schützen und steckte es in das Knöchelchen vorn Beine eines toten Vogels, der am Wege lag. Er war froh, als er nach einer Weile sinnenden Schreitens einen umfänglicheren Behälter fand: den Knochen eines Löwenbeines. Doch die Wurzeln waren derweil dem Vogelbeine tief eingewachsen und ließen sich von ihm nicht mehr trennen. Dionysos mußte die Rebpflanze mit dem Vogelbein in den Löwenknochen Zwängen. Nach weiteren Stunden des Wanderns war die Rebpflanze wieder getrieben, weshalb Dionysos sie mit dem Vogel- und Löwenbein in ein Eselbein bringen mußte, das im Grase des Wegraines bleichte, und mit ihm brachte es das eigenartige Vermächtnis heim.

Er grub es in den Berghang des Gartens.

Da wuchs es, blühte und brachte goldene Trauben, und nach Jahren stand der Hang voller Rebstöcke, die im Herbste fast unter der Last ihrer Trauben zusammenbrachen.

Dionysos, den ein wandernder Sänger die Kunst des Kelterns gelehrt hatte, preßte die Trauben, und nach einem Jahre war ihr Saft Wein, der wundersam schmeckte.

Als Dionysos ihn zum erstenmal Gästen vorsetzte und den sie zunächst bedachtsam, dann schneller und zuletzt gierig zu sich nahmen, was ihnen aus kristallenen Gläsern geboten ward, zeigte es sich, daß dem köstlichen Tranke die Eigenschaften der drei Träger jener das erste Pflänzlein schützende Gebeine innewohnte.

Zuerst waren die Trinker lustig wie zwitschernde Vögel; dann entfalteten sie Kräfte gleich kampflustigen Löwen, und schließlich waren sie störrisch und stolperten tölpelhaften Eseln ähnlich.

Der Weinbau breitete sich von der glücklichen Insel über die Erde aus.

Doch überall, wo er gedieh, zeigten sich die gleichen Eigenschaften wie beim ersten Mahle des Dionysos, und das blieb so bis auf den heutigen Tag.