In memoriam Pfarrer Paul Bretschneider

VON HUBERTUS SEIDEL

Es wird in den Sommermonaten des Jahres 1937 oder 1938 gewesen sein. Damals lernte ich den 1950 als Pfarrverwalter von Nürburg verstorbenen Hochwürdigen Herrn Erzpriester Paul Bretschneider kennen. Ich selbst war zu dieser Zeit Schüler in den oberen Klassen eines Breslauer Gymnasiums. Dank seiner Empfehlung war soeben auch meine erste heimatgeschichtliche Arbeit in den Monatsblättern des Vereins für Geschichte Schlesiens erschienen. Neben einem bescheidenen, aber doch eben ersten Honorar brachte mir diese Veröffentlichung eine Einladung ins Neualtmannsdorfer Pfarrhaus ein.

Wir hatten zwar schon längere Zeit Briefe miteinander gewechselt: meine voller Anfragen und Bitten um Hilfe, seine voller Ermunterungen, gutem Zureden und viel Verständnis für einen jungen Menschen, der der Geschichte seines Heimatortes und ehemaligen schlesischen Zisterzienserklosters Heinrichau nachspüren wollte; doch gesehen hatten wir uns noch nicht. Mir war auch der Name Bretschneider nicht nur durch den Briefverkehr mit ihm bekannt. Bretschneider war als Kirchen- und Kulturhistoriker weit über den schlesischen Raum hinaus eine anerkannte Persönlichkeit, und seine Arbeiten auf dem Gebiet der mittelalterlichen Heraldik. (Wappenkunde) fanden im gesamten deutschen Sprachraum weite Verbreitung. Mit seinen Veröffentlichungen setzte er fast immer Markierungs- und Orientierungspunkte für die Forschung oder zumindest Wegweiser für die, die in seinem Geiste sein Werk dereinst weiterführen wollten. So schlug denn auch mein Herz schneller, als ich an der Tür seines Pfarrhauses anklopfte. Es ist mir noch heute alles in so guter Erinnerung, als wäre es erst gestern gewesen: Fräulein Herden, der gute Geist des Neualtmannsdorfer Pfarrhauses, öffnete und führte mich ohne viele Umstände die alte Treppe hinauf.

Erzpriester Paul Bretschneider in seinem Arbeitszimmer des Neualtmannsdorfer Pfarrhauses.
 — Lithozeichnung: Grafiker Horst Voigt, Berlin 1967

Dann stand ich in seinem Arbeitszimmer und schon bald vor ihm. Meine anfängliche Scheu verlor sich schnell, da er mich wie einen alten Bekannten ansprach und mich in ein „Fachgespräch" zog. So wie sein Wesen eine wahre Herzenswärme ausstrahlte, so strömte auch sein Arbeitszimmer eine wohltuende Atmosphäre schlesischer Behaglichkeit aus. Alle Wände des niedrigen Raumes waren mit vollen Bücherregalen verstellt. Zwei der Fenster schmückten farbenprächtige Entwürfe für Kirchenfenster, ein kostbares Geschenk des Kunstmalers Alfred Gottschalk aus Tarnau bei Frankenstein. Doch eine besonders wertvolle und wirklich einmalige künstlerische Arbeit zierte in des Wortes wahrstem Sinne diesen Raum: die berühmte Wappendecke. Erzpriester Bretschneider selbst hatte diese Tischdecke mit einer Vielzahl schlesischer Städtewappen entworfen, ihre Größe genau nach einem vorhandenen Tisch bestimmt. Fräulein Herden stickte sie in vielen, vielen Stunden. Nun war aber diese Decke durch die viele Stickerei auf dem Rand so schwer geworden, daß sie sich allmählich dehnte und deswegen nicht mehr genau auf den Tisch paßte. Erzpriester Bretschneider, der ein sehr ordnungsliebender Mann war, störte das. Was wurde getan? — Der Ortstischler mußte jetzt eben einen neuen Tisch für diese Decke anfertigen!

Wo man auch hinblickte, überall waren Bücher gereiht und größere und kleinere Kunstwerke und Altertumsgegenstände sorgfältig aufgestellt oder in schützenden Glasvitrinen verwahrt. Kurz und gut: sein Arbeitszimmer war eine echte Gelehrtenstube, aber nicht á la Spitzweg, sondern hier herrschte eine peinliche Ordnung. Erzpriester Bretschneider war aber auch nicht der Typ eines Gelehrten nach dem Muster des zerstreuten Herrn Professors, sondern er war ein Mensch, der in der Zeit und mit der Zeit lebt. Auch während der Jahre der Hitlerherrschaft wußte er genau, was er unter dem argwöhnischen Blick der Nazis zu tun und zu lassen hatte. Denn gerade für ihn, der durch seine wissenschaftliche Arbeit so auffällig im Blickfeld der neuen Machthaber stand, bestand mehr als für viele andere Priester die Gefahr, vor die nationalistische Karre mit ihrer Blut- und Bodenpolitik gespannt zu werden. Aber so oft man das auch immer wieder mit den hinterhältigsten Mitteln versuchte, er fiel auf ihre Tricks nicht herein. Und als in den dreißiger Jahren bereits veröffentlichte Arbeiten ungefragt von den Nazis in ihre linientreue Heimatliteratur übernommen wurden, schwieg er nicht still, sondern er ließ die Verantwortlichen mit geharnischten Worten wissen, was er dachte und was er von ihnen hielt. In oder kurz vor dem Beginn des letzten Krieges erschien in Schlesien ein recht umfangreicher Roman Venatiers „Vogt Bartold". Zum Inhalt hatte er die deutsche Besiedlung Schlesiens zur Zeit des Mongolen Sturmes und der heiligen Hedwig, also um die Mitte des 13. Jahrhunderts. Dieser Roman wurde, da er in ihrem Sinne geschrieben war, von den Nazis groß propagiert und gefördert. In einem seiner letzten Briefe aus Neualtmannsdorf an mich urteilte er sehr hart über dieses Machwerk. An einen Satz erinnere ich mich noch sehr genau: „Dieses Buch zeugt nicht nur von großer Unwissenheit, sondern auch von grober Gehässigkeit."

So war er stets. Ohne Rücksicht auf seine Person oder persönliche Vorteile trat er für die Wahrheit ein; ganz gleich, wem gegenüber er sie zu vertreten hatte.

Es würde den Rahmen dieser bescheidenen Arbeit sprengen, wollte man alles Bemerkenswerte erwähnen. Eine ausführliche Würdigung seines Lebens und Wirkens bleibt einer umfassenden Biographie vorbehalten, die bereits in Angriff genommen ist.

Die Stunden in dem stillen Pfarrhause von Neualtmannsdorf gingen für mich viel zu schnell vorüber. Aber im doppelten Sinne reich beschenkt, verließ ich mit einem Paket geschenkter Bücher das gastliche Haus. Freilich mußte ich mich noch, ehe ich schied, einer Gastpflicht unterziehen. Jedem Besucher legte er sein Gästebuch vor, von dem damals bereits mehrere Bände existierten. Diese Bücher waren in ihrer Art, das darf man ohne Übertreibung sagen, etwas Einmaliges; nicht nur wegen der vielen prominenten Namen von Gelehrten und Künstlern und Freunden, sondern vor allem auch wegen der Beigaben, insbesondere der Zeichnungen, Aquarelle, Lithographien, Drucke und Schriftblätter usw. Es war ein Genuß, ein solches Gästebuch zu durchblättern. Und wenn ich als Untersekundaner damals die Ehre erhielt, mich in solch illustrer Gesellschaft zu verewigen, dann zitterte meine Hand doch etwas, als ich meinen Namen schrieb.

Leider sind die drei stattlichen Bände durch die Vertreibung verlorengegangen. Aber einen ganz bescheidenen Abglanz von dem einst Gewesenen bietet das Gästebuch, das unser Erzpriester seinen Gästen im Nürburger Pfarrhaus vorlegte. Frl. Herden hütet noch heute sorgsam diesen kleinen Schatz. Auch aus dem neuen Bekanntenkreis aus unserem Heimatkreis finden sich schon viele Namen. Diese Eintragungen sind wohl auch der beste Beweis, daß Erzpriester Bretschneider ein sehr geselliger Mensch war und trotz aller damaligen Armut und dem Wenigen, was er besaß, sein Pfarrhaus in Nürburg jedem offen hielt.

Es nimmt darum nicht wunder, daß bald nach der Vertreibung und seinem Eintreffen in der Eifel ein Teil seines alten Freundeskreises binnen kurzem wieder den Kontakt mit ihm gefunden hatte und daß jeder in liebender Sorge versuchte, ihm den Verlust der mehrere hundert Schriften umfassenden Lebensarbeit zu ersetzen. Wer etwas gerettet hatte — und das war meistens nicht sehr viel —, schickte oder brachte es ihm nach Wimbach oder später ins Nürburger Pfarrhaus. Bald konnte er einen seiner Freunde wissen lassen: „Mit dieser meiner Hauptarbeit (,Der Pfarrer als Pfleger') habe ich jetzt wieder etwa 35 meiner Arbeiten beisammen."

In einem großen Bogen umspannt die Inschrift auf seinem Grabstein auf dem kleinen Nürburger Friedhof sein ganzes irdisches Leben.

„Nach Drangsal und bitterer Wanderschaft
ruht hier in Gottes heiligem Frieden
sein getreuer Diener
der gelehrte Pfarrer von Neualtmannsdorf
in Schlesien
Erzpriester Paul Bretschneider
geb. 2. 2. 1880 in Breslau
gest. 22. 9. 1950 als Pfarrverwalter
von Nürburg"

Sein Vater war in der schlesischen Hauptstadt Schutzmann, seine Mutter entstammte einer Kaufmannsfamilie. Er, das älteste Kind, hatte noch mehrere Geschwister. Seine Schwester Gertrud führte ihm bis zu ihrem Tode 1934 den Haushalt. Ihr zur Seite stand seit langen Jahren Pfarrer Bretschneiders treue Hausgenossin Frl. Emilie Herden, die jetzt von Boos im Kreise Mayen aus die Hüterin seines Grabes ist.

In Breslau besucht Bretschneider die Volksschule. Sein Religionslehrer Joseph Jungnitz bereitet den begabten und aufgeweckten Jungen auf den Besuch der höheren Schule vor und erteilt ihm den Anfangsunterricht in Latein. So kann er zu Ostern 1893 in die Quarta des traditionsreichen Breslauer St.-Matthias-Gymnasiums eintreten. Im Jahre 1900 besteht er das Abitur und besucht anschließend die Universität seiner Vaterstadt, um Theologie, Geschichte und Kunstgeschichte zu studieren. Wegen einer Erkrankung mußte er für einige Zeit die Studien unterbrechen. Er wird deswegen außerhalb der Reihe am 8. Januar 1906 durch den Breslauer Weihbischof Heinrich Marx in dessen Privatkapelle zum Priester geweiht und tritt am 28. Mai des gleichen Jahres in dem schlesischen Städtchen Trachenberg seine erste Kaplanstelle an.

Hier bereits arbeitet er erfolgreich auf dem Gebiet der Heimatgeschichte („Zur Gründungsgeschichte der Stadt Trachtenberg" — „Geschichte der Trachtenberger Pfarrkirche" usw.). Gegen Ende 1909 wechselt er in die Diasporaseelsorge über. Er wird Lokalkaplan von Grenzdorf im Kreise Lauban und nimmt seinen Wohnsitz in Meffersdorf. Hier entsteht neben seiner Seelsorgsarbeit sein erstes Hauptwerk „Der Pfarrer als Pfleger der wissenschaftlichen und künstlerischen Werte seines Amtsbereichs", das zwar erst 1918 in überarbeiteter Form als Buch herauskommt, zuvor aber schon 1911 in der Passauer „Theologisch-praktischen Monatsschrift" in vier Teilen erscheint.

In dem gleichen Jahr 1911 können die Einwohner des im ostdeutschen Raum weit über seine Grenzen hinaus bekannten Wallfahrtsortes Wartha Paul Bretschneider als ihren neuen Pfarrherrn begrüßen.

Allerdings ist die Warthaer Zeit seiner wissenschaftlichen Arbeit nicht sehr förderlich. Dazu bedarf der forschende Geist der Stille und der Ruhe, die aber Wartha mit dem Strom der nach Tausenden zählenden Menge der Wallfahrer niemals bieten konnte.

Aber die seinem Schutz und seiner Pflege anvertrauten Kunstgegenstände, Gebäude und das umfangreiche Pfarrarchiv finden in ihm einen Erhalter, Betreuer und Ordner, wie er sich nicht besser für das reiche Wartha gewünscht werden konnte.

Doch trotz seiner knappen Zeit, die ihm hier an diesem Brennpunkt kirchlichen Lebens im schlesischen Raum zur Verfügung steht, greift er zur Feder, faßt alle Kunstschätze seiner Pfarrei in dem „Verzeichnis der Kunstdenkmäler der Pfarrei Wartha" zusammen (1919), das natürlich mehr als nur eine listenmäßige Erfassung der Kunstgegenstände darstellt. Auch seine bisherigen Ergebnisse wappenkundlicher Forschung finden von Wartha aus den Weg in die Öffentlichkeit bis in heraldischen Fachzeitschriften der Schweiz.

Überhaupt beschäftigt er sich in den Jahren des ersten Weltkrieges intensiv mit den geistigen Wappen. Stellvertretend für viele seiner Arbeiten seien hier nur genannt: „Das Wappen des Fürstbischofs Adolf Bertram", „Das Breslauer Bistumswappen", „Das Stift W(eingarten) in der Züricher Wappenrolle".

In den interessierten Kreisen der Fachwelt horcht man auf. Der Name dieses schlesischen Priesters und Gelehrten wird immer bekannter, seine Arbeiten werden diskutiert, und um diesen bescheiden wirkenden Mann im Priesterrock bildet sich ein immer größer werdender Kreis von Freunden schlesischer Heimat-, Kirchen- und Kunstgeschichte.

Doch bald spürt Bretschneider hier in Wartha selbst nur zu gut, daß er einen stilleren Ort braucht, um erfolgreich forschend tätig sein zu können. So bewirbt er sich 1921 um die damals verwaiste Pfarrstelle von Neualtmannsdorf, einem kleinen Bauerndorf nahe der Kreisstadt Münsterberg. Der Kreis Münsterberg ist dann in den dreißiger Jahren mit dem Kreise Frankenstein zu einer größeren Verwaltungseinheit zusammengeschlossen worden.

Neualtmannsdorf wäre wohl für immer seine endgültige Heimstatt geblieben, wenn ihn nicht der Krieg und die bitteren Folgen des Zusammenbruches mit seinen Pfarrkindern aus dem stillen Dorf vertrieben hätten. Dennoch kündet mit vollem Recht sein Grabstein: „ . . . der gelehrte Pfarrer von Neualtmannsdorf . . . ", waren es doch zum Zeitpunkt der Ausweisung volle 25 Jahre, in denen er seiner Pfarrgemeinde treu gedient hatte, und in denen er den Namen des kleinen, verkehrsstillen Ortes mit seinem Namen für immer verband zu einer Einheit, die wohl auch in der Zukunft noch lange bestehen bleiben wird.

Von Neualtmannsdorf aus gibt er auch einer ganzen Generation von Lehrern wertvollste Hilfen für ihren Heimatkundeunterricht. In der Lehrerzeitschrift „Praxis der katholischen Volksschule" (Breslau) veröffentlicht er 1923 die heute noch sehr lesenswerte, amüsant geschriebene Arbeit „Wie einer der Heimatkunde seines Dorfes nachging."

Ich muß es mir hier versagen, alle Leistungen des Verstorbenen auch nur zu nennen. Aber gesagt werden muß, daß es ihm zu verdanken ist, wenn die damalige Kreisstadt Münsterberg eine reiche, aber bis dahin verschüttete Vergangenheit ans Tageslicht hob, wieder lebendig machte und ein Musterbeispiel dafür wurde, wie die zurückliegende Zeit systematisch erforscht werden muß, wie das Gesammelte ausgewertet werden soll und welche Wege man gehen muß, um alle Bürger anzusprechen, zum Mitmachen zu bewegen und so auch zu einer echten Gemeinschaft zu formen. Das Ergebnis dieser zielstrebigen Arbeit war eben ein Städtchen, in dem das Wort Gemeinsinn ganz groß geschrieben wurde, eine Bürgergemeinschaft, die aus der Kenntnis der Vergangenheit heraus bewußt in der Gegenwart gestaltete, was zukunftsträchtig in ein neues Morgen ausstrahlen sollte. Die Tatkraft eines kleinen Kreises um Bretschneider hat dies vermocht. Immer mehr wurde Münsterberg auch ein beliebtes Ausflugsziel für das nicht allzuweit entfernte Breslau.

1927 bringt Bretschneider wieder ein Hauptwerk heraus. Es ist das ins Deutsche übersetzte „Gründungsbuch des Klosters Heinrichau" aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts. Er versieht es mit einem reichen Kommentar und schenkt damit eigentlich dem ganzen deutschen Volke eine der wichtigsten Quellen seiner Geschichte.

Wir wissen alle, daß gerade die Besiedlung des deutschen Ostens vor rund 700 Jahren eines der kritischsten Kapitel der bis heute andauernden Auseinandersetzungen zwischen Polen und Deutschlands ist. Hier in diesem Gründungsbuch liegt dieser Vorgang durch eine durch keinen Nationalismus getrübte Quelle, die bis ins kleinste Detail geht, klar vor uns. Leider ist dieses Gründungsbuch hier in der Bundesrepublik so gut wie unbekannt, während die heutige polnische und tschechische Geschichtsforschung schon längst den Wert dieses Werkes erkannt hat und auf ihm aufbaut. 1931 schafft sich Münsterberg sein Heimatmuseum. Wen wundert es, wenn der Pfarrer von Neualtmannsdorf beim Auf- und Ausbau die führende Kraft ist! Aber schnell ziehen über unserem Vaterlande die düsteren Schatten der Naziherrschaft herauf. Ab 1933 ist seine Mitarbeit den neuen Machthabern natürlich nicht mehr erwünscht.

Wie er sich zu den Nationalsozialisten verhielt, habe ich eingangs schon angedeutet.

Einem neuen Höhepunkt seines Schaffens strebte Bretschneider mit der Veröffentlichung des ostdeutschen „Hausbuches mittelalterlicher Erzählkunst" zu. Es enthält hundert Quellenstücke des 10. bis 15. Jahrhunderts. Jahrelang hat er daran gearbeitet. Ein einziges maschinengeschriebenes Exemplar hat die Wirren der Kriegs- und Nachkriegszeit und die Vertreibung durch glücklichen Zufall überstanden. Viele andere Arbeiten, die zum Druck fertig vorlagen, sind indes für immer verloren.

1942 erlebt der Verstorbene eine längst verdiente Ehrung durch den Breslauer Kardinal Bertram. Dieser ernennt ihn am 8. Dezember zum Ehrenerzpriester in Würdigung seiner Verdienste als Seelsorger und Kirchenhistroriker.

Doch dann kommt das Jahr 1945! Unaufhaltsam drängen die russischen Armeen nach Schlesien. Im März evakuiert die Partei den Ort. Bretschneider geht nach Rengsdorf im Kreise Glatz. Aber er resigniert nicht, sondern verschafft sich unter schwierigen Umständen eine Rückreiseerlaubnis. Am 1. Mai kehrt er zurück. Soldaten und Flüchtlinge wohnen in seinem Pfarrhaus. Aber bereits am nächsten Tag weist ihn die SS wieder aus, doch am 3. gehen fast alle seine Pfarrkinder bei ihm zur Beichte, und am 4. Mai feiert man nach alter Neualtmannsdorfer Tradition in festlicher Weise den St.-Florians-Tag. Und am nächsten Tag begibt er sich wieder auf den beschwerlichen Weg nach Rengsdorf, wo er wenig später den Einmarsch der Russen und das bittere Kriegsende erlebt.

Unter großen körperlichen Strapazen langt er am 25. Mai wieder daheim an. Das Dorf ist inzwischen von den heimkehrenden polnischen

Zwangsarbeitern geplündert und verwüstet worden. Aber Bretschneider will am 31. Mai, dem Fronleichnamstag, eine feierliche Prozession halten. Doch die zurückgekommenen Einwohner haben andere Sorgen. Trotzdem gelingt es ihm, einige Beherzte zu gewinnen. Der Kirchenchor macht mit und schließlich alle seine Pfarrkinder. Die gefürchteten „Flintenweiber" und andere Russen sehen der Prozession zu, bekreuzigen sich und beugen ihr Knie, als der eucharist'ische Herr von seinen Händen getragen durch ein gequältes Dorf zieht.

Alle Hoffnungen aber, in der alten Heimat bleiben zu können, zerschlagen sich 1946 gleich zu Beginn des Jahres. Polen vertreiben die deutschen Einwohner von Haus und Hof, und auch der Kampf zur Ausrottung der deutschen Sprache beginnt. Erzpriester Bretschneider ahnt, was in Kürze kommen muß. So führt er noch am Ostermontag, am 22. April 1946, mehr als dreißig Kinder zur ersten heiligen Kommunion. Zwei Tage später erfolgt auch schon die erste Ausweisung. Der Ortsgeistliche ist mit dabei. Nichts außer einem kleinen Handgepäck darf mitgenommen werden.

Dieser erste Transport kommt am 30. April in Bernbostel bei Hannover an. Wo soll Bretschneider hin? Wie ein Gottesgeschenk erreicht ihn aber bald die Nachricht eines seiner Pfarrkinder, das sich nach Wimbach bei Adenau verheiratet hatte, daß man ihn mit seiner Haushälterin aufnehmen wolle. Wenn es ihm recht wäre, so möge er doch kommen. Und Bretschtneider kam. Am 2. Juni trifft er in Wimbach ein, und am 18. September steht er zum ersten Male wieder unter einem schützenden Dach, das den beiden Getreuen nach bitterer Wanderschaft neue Heimstatt sein möchte. Trotz Armut und Not und räumlicher Enge faltet er an diesem Tage seine Hände zu einem Dankgebet. An diesem Tage legte er auch wieder ein neues, bescheidenes Gästebuch an und schreibt auf dessen erste Seite: „Unsern Einzug segne Gott, unsern Ausgang gleichermaßen!" Wenige Tage später schreibt Fräulein Herden darunter, daß sie nun schon seit dreißig Jahren dem Hause Bretschneider angehöre.

Noch ein drittes Mal zieht Pfarrer Bretschneider in Wimbach um. Im November bekommt er in einem Haus neben der Kapelle zwei kleine Räume im Dachgeschoß. So ist wenigstens der Weg in die Kapelle zur Werktagsmesse nicht weit. An Sonn- und Feiertagen allerdings muß er, da er dem Dechanten in Adenau untersteht, zur Morgenmesse schon dort sein. Bei dem schlechten Wetter und mit seiner angegriffenen Gesundheit wurde ihm dieser halbstündige Weg oft nicht gerade leicht. Doch er ging ihn immer wieder in treuer Pflichterfüllung.

Aber er verzagt trotz aller Widerwärtigkeiten und auch mancher Böswilligkeiten nicht. Er behält seinen Humor. An einen seiner Freunde schreibt er aus seiner neuen Wohnung: „Daß Du dort kein heizbares Zimmer hast, macht uns nur noch näher verwandt, denn von unseren zwei Räumen ist auch nur derjenige heizbar, den über Nacht Emilie beansprucht, und der bei Tage allen nur ausdenkbaren Zwecken dient, so daß sein einziger Tisch abwechselnd Schreibtisch, Eßtisch, Aufwaschtisch, Bügeltisch, Undsoweitertisch ist. Die .Einheit des Ortes' ist also gewahrt."

Schwer zu ertragen hingegen ist für ihn der Zustand, nicht wissenschaftlich arbeiten zu können. Er hatte ja alles verloren, auch seine eigenen Werke. Aber seine alten, treuen Freunde ließen ihn nicht im Stich. Am 16. Dezember 1947 besitzt er schon 35 seiner Arbeiten, und am 10. Mai 1948 hat er 216 Werke beisammen.

Endlich, am 11. Februar 1949, bekommt er wieder eine ihn ganz erfüllende Aufgabe gestellt. Er wird zum Pfarrverwalter von Nürburg berufen und darf noch einmal wirken. Ein Höhepunkt dieser Zeit in dem kleinen Dorf mit dem berühmten Namen wird sein 70. Geburtstag.

Seine alten und viele neue Freunde eilen nach Nürburg, um den verdienstvollen Priester und Wissenschaftler zu ehren. Doch ein halbes Jahr später, am 9. September, erleidet er einen Gehirnschlag. Seine rechte Seite ist gelähmt. Für kurze Zeit tritt noch einmal eine leichte Besserung ein, aber am 19. September macht sein Herz nicht mehr mit. So vollendet sich schließlich am 22. September 1950 morgens um 9.40 Uhr das Leben eines Mannes, dem das Wort Heimat mehr bedeutete als nur eine romantische Erinnerung an die Jahre seiner Kindheit. Heimat: das war ihm neben einem festen Glauben der Nährboden, in dem er wurzelte, aus dem er die Kraft gewann, ihr und den Menschen als Priester und Gelehrter hingebungsvoll zu dienen und denen nach bestem Können zu wehren, die den Begriff Heimat besudelten und schändeten.

Aus dem Boden seiner schlesischen Heimat gerissen, versuchte er hier auf den rauhwindigen Eifelhöhen wieder Heimstatt zu finden. Doch der, der Heimat gibt und Heimat nimmt, er rief ihn bald heim und gab ihm an seinem Herzen ewige Heimat.

Was sterblich war an diesem Großen, wurde am 27, September auf dem kleinen Friedhof neben dem Kirchlein in Nürburg zur letzten Ruhe gebettet. Von weit her kamen auch diesmal wieder seine Freunde, und seine ganze Pfarrgemeinde gab ihm das letzte Geleit. So wurde denn die Eifel seine letzte irdische Heimat.

In Nürburg noch hat Fräulein Herden nach seinem Entwurf einen kleinen Wandteppich gearbeitet. Auf ihm ist festgehalten, was er wohl Tag und Nacht fern seiner Heimat gedacht haben mag: „Wir hatten einst ein schönes Vaterland!"

R.  I.  P.