Mein Name ist Schmitz

VON WILHELM KNIPPLER

. . . einfach Schmitz mit te zet; ich bin weit gereist, im Ausland bestens bekannt. Es gab in den letzten Jahren großen Wirbel um meine Person; ich wurde verdächtigt und wieder rehabilitiert. Professoren hielten Vorträge oder verfaßten große Abhandlungen über meine Tätigkeit. Bedeutende Zeitungen berichteten über mich.

Wo ich geboren bin? Davon später! Jedenfalls bin ich vor genau hundertfünfzig Jahren gestorben, aber bis heute nicht vergessen. An meinem Wirkungsort veranstaltet das Ausland jetzt noch große Gedenkfeiern. Ein bekannter rheinischer Dichter hat sogar Bücher geschrieben über mein Schicksal und das meiner Nachkommen.

Ja, ich hatte einen Warndienst eingerichtet zur Rettung von Menschen aus höchster Not; aber es war nicht an der See, auch nicht im Hochgebirge. Es war in einer ganz einsamen Gegend.

In meiner Heimatstadt soll jedes Kind von mir erzählen können? Aber das stimmt doch gar nicht! Ich bin doch nur der Michel Schmitz aus Sinzig, das „Schneiderlein im Hohen Venn".

So oder ähnlich hätte er reden können. Doch er war kein Mann des Wortes, er war nur ein einfacher Mann der Tat.

Das Hohe Venn, ein Land der Gefahren

Das Venn ist von unendlicher Schönheit und Farbenglut im Herbst, aber auch ein düsteres und rauhes Gebiet mit Kälte und Sturm, mit starken Niederschlägen bis zu 1400 mm Jahresmenge, mit Schneeverwehungen, die von nahezu arktischem Klima reden lassen. Die weitausgedehnte Sumpffläche, die Urland-schaft des Hochmoores ist voller Gefahren. Wer in dieser Einsamkeit einmal vom Wege abkommt, sich zwischen den Tümpeln verirrt, wen gar der schnell aufkommende Nebel überrascht, der wird in grausamer Hilflosigkeit vom Sumpf erbarmungslos festgehalten. Die Schreie des Verzweifelnden verhallen in der Unendlichkeit des Venns. So schildert Maria Groener diese Landschaft früherer Zeiten. Aber Vorsicht! Abseits der Straßen sinkt der Fuß auch heute noch in den schwammigen Torfmoosteppich, lockt der Tod auch heute noch den Fremden wie vor hundert und mehr Jahren. Die vielen zerstreut aufragenden Kreuze des Venns bestätigen die lange geltende Wahrheit des dort umgehenden Spruches: „Jedes Jahr holt sich das Moor seinen Mann!"

Das Venn als Grenzraum

Dieses Venn war immer ein Grenzraum, eine Völker- und Stammesscheide, eine Sprachenbarriere: zwischen römischen Provinzen, zwischen den Stämmen der Niederfranken von Eupen und den Moselfranken von Eisenborn, zwischen den Reichswallonen von Mal-medy und den Ripuariern von Kalterherberg, zwischen dem Fürstbischof von Lüttich und dem Erzbistum Köln, zwischen Malmedy-Sta-velot und Limburg und Luxemburg, zwischen Nassau und Oranien, schließlich ein Jahrhundert lang zwischen Belgien und Preußen. Und diese Landschaft blieb ein Zankapfel zwischen Gemeinden und sogar unter Gelehrten, wovon unser Michel ein Lied singen kann!

Alte Wege im Hohen Venn

Eine feste, immer zuverlässige Straße durch das Venn gab es niemals. Wohl durchquerten viele alte Wege das Moor. Große Wegesteine und viele Kreuze, einzelne Bäume und Büsche gaben Orientierungsmöglichkeiten, aber keine Sicherheit. Die Via Mansuerisca der Römer, die Pilgerstraße und die Vekee, die Bischofsstraße des Mittelalters, die Eisen-und die Kupferstraße, wie die Lederstraße der Kaufleute: sie alle tragen klangvolle Namen. Keine aber war ein Weg, der sicher zum Ziele führte. Alle wurden lange befahren, aber sicher wurde nicht nur eine von ihnen die „Verdammte Straße" genannt.

Alle diese genannten Wege berühren direkt oder führen nahe vorbei an einem zentralen Vennpunkt, der Baraque Michel.

Baraque nannte man einzelne primitive Lehmhütten der Venneinsamkeit. Michel aber war der Erbauer der bekanntesten, das „Schneiderlein", unser Michel Schmitz.

Wie ich mit Michel Schmitz bekannt wurde

Es war am 24. Januar 1932. Damals besuchten mich im Schulhaus in Aremberg der Dichter Ludwig Mathar und der bekannte Archivberater Dr. Kisky. Sie erzählten vom Schneiderlein aus Sinzig, einem eigentümlichen Menschen, der als Revoluzzer zu Napoleons Zeiten seinen Heimatort verließ, der — wie ein Hans im Glück — den Rhein eintauschte gegen das Hohe Venn, den Wein gegen Schlehen, die Sonne gegen kalten Nebel, die Goldene Meile gegen Sumpf und Einöde. Aber er trug den deutschen Namen in die wallonische Welt, seinen Namen und den seiner Vaterstadt.

Bei mir wurde rasch Interesse geweckt. Ich war seltsam angesprochen, •weil die Beschäftigung mit der arembergischen Geschichte mich mit dem belgisch-wallonischen Lebensraum bekannt gemacht hatte. Sehr viele Wege von Aremberg führten nach Westen, zum Bischofssitz von Lüttich, zum Ursprung der Herzöge von Ligny, Croy und Chimay, nach Mons im Hennegau, nach Enghien und Brüssel. Viele wallonische Namen begegneten mir als herzogliche Beamte in Aremberg.

So machte ich gerne mit und bereitete dem Schneiderlein den historischen Untergrund für sein kurzes Gastspiel in Aremberg, wie dies Studienrat Federle und Kaufmann Josef Büntgen für die Sinziger Jugendtage des Schneiderleins getan hatten.

Die Legende vom Michel Schmitz

Sie wurde vom Volk im Venn erzählt und war die Grundlage des Romans. Mathar hat sie nach Albert Bonjeans Darstellung niedergeschrieben. „Michel hatte sich einstmals in den Trous Broulis, den Torfgruben des Venns, verirrt, vielleicht an der Vecquee, der alten Bischofsstraße. Er glaubte, die Lichter von Herbiester in der Ferne zu erblicken, gelobte, ein Retter der Verirrten in der dortigen Einsamkeit werden zu wollen, erblickte den Boul-tay, das Wegzeichen von 1566, erreichte den Weg von Sourbrodt nach Jalhay, pflanzte an dieser Stelle seinen Stock in die Moorerde — und er hielt Wort. Wenig später errichtete er an jenem Ort eine dürftige Rasenhütte. Unentwegt tat er seine selbstauferlegte Pflicht, verzweifelnden Menschen aus Sturm und Nebel, Moor und Schnee, herauszuhelfen. Ein schlichter Held des Venns!" So berichtete Bonjean und rühmte, daß in dieser Unendlichkeit, wo die nächste Strohhütte meilenweit entfernt war, sich innerhalb von 75 Jahren die Generationen der Schmitz gefolgt sind.

„Das Schneiderlein im Hohen Venn"

Ludwig Mathar hat nun in seiner Venn-trilogie, besonders im „Schneiderlein", diesen Stoff behandelt und weiten Kreisen im Rheinland bekannt gemacht. Mathar stammte aus Monschau. Deshalb waren ihm alle örtlichen Verhältnisse, Land und Menschen, vertraut. Mit dichterischer Freiheit durfte er Jahrzehnte verschieben, Ereignisse zusammendrängen und verändern. Entscheidend war, daß er lebenswarm schilderte. Peter Kremer schreibt dazu 1964 im Eifeljahrbuch: „Seine wärmste Heimatkunst, sein Herzblut schlägt in dem Doppelroman des Venn. Der Verirrungsweg des Michel Schmitz, der im Venn seinem Gott begegnet, der mit Weib und Kind in die Einsamkeit zieht, die Baraque Michel gründet, der zum Moorwächter und Einsiedler wird, ist zu einem herrlichen Stück Volksgeschichte geworden, fromm wird es erzählt und herb wie die rauhe Landschaft." Man wurde aufmerksam auf das Venn schon seit über hundert Jahren. Man entdeckte die Schönheit des Hochmoors, nachdem die feste Landstraße zur Baraque Michel und zur Botrange führte. Viel Literatur erschien. Nachdem Malmedy und Eupen belgisch geworden waren, entwickelte sich hier ein kultureller Schwerpunkt für Ostbelgien. Professoren hielten Vorträge und schrieben Abhandlungen. Große Gedenkfeiern fanden statt, besucht von diesseits und jenseits der Grenzen. Auch die Vennbewohner waren angesprochen. Das zeigte sich immer wieder bei den Prozessionen, die seit über hundert Jahren alljährlich zur Kapelle Fischbach neben Baraque Michel ziehen zur Notre Dame de Bon Secours. Die Vennleute sprechen nur von ihrer „petite Notre Dame".

Dann aber folgte ein Rückschlag. Schade, daß dies Mathar noch an seinem Lebensabend erfahren mußte. Es wurde gewühlt. Michel Schmilz stand jahrelang unter dem Verdacht großer Schandtat.

Ich betone, daß es mir keineswegs um einen Streit mit Historikern geht, sondern einzig um tatsächliche Erhaltung des guten Namens von Michel Schmilz und um den Ruf seiner Kinder.

Es war behauptet worden, und zwar mit einem „Donnerschlag", Michel sei bereits in seinem Geburtsort Sinzig verheiratet gewesen, als er im Venn eine zweite Ehe einging. Diese Bigamie habe den gehetzten Menschen ins Venn getrieben, wo er sich als Einsiedler verkrochen haben soll.

In einer Gegenschrift wurde nachgewiesen, daß es sich bei der Sinziger Heirat nicht um den Gründer der Baraque handelte, sondern daß es einen zweiten Michel Schmitz in Sinzig gab. — Demnach wäre der Michel im Venn doch ein braver Mann gewesen? Das wurde zugegeben, aber auch sonst nichts! Lebensretter, Fragezeichen!

Ein anderer Schriftsteller der letzten Jahre will erst ganz unbefangen an den Helden im Venn glauben, wenn das Motiv genau ermittelt ist, das Schmitz aus Sinzig und aus Herbiester ins Venn trieb.

Ich zitiere einige Rehabilitierungssätze und werde weiter unten dazu Stellung nehmen. „Trieb ihn der Wandertrieb ins Venn, ein Zerwürfnis mit Hausgenossen oder der Wunsch nach leichterem Broterweb?" War ein lohnendes Wirtshaus am Vennpfad sein Wunschtraum? „Schmitz verdient keinen begründeten Tadel und kein besonderes Lob!" „Die Akten über den Lebenslauf des Michel Schmitz können heute wohl als geschlossen gelten."

Ein anderer Schriftsteller formuliert so: „Authentische Hilfeleistung für verirrte Reisende beginnt erst, nachdem Michel das Zeitliche gesegnet hat."

Im Streit zwischen Literaten und Historikern wäre unser Michel nahezu wie zwischen Mühlsteinen erdrückt worden. Die Heimat Sinzig wird aus Schmitz keinen Heiligen machen wollen, sie wird aber auch keinen „Räubermichel" zulassen, auch nicht den indifferenten Abenteurer, der weder gut noch böse zu nennen wäre!

Michel Schmitz ist heute nicht mehr nur legendär, sondern er ist in vieler Beziehung heute eine historische Person. Zur besseren Übersicht folgt hier eine Tabelle, die alle heute bekannten Daten enthält.

Daten zu Michel Schmitz und Baraque Michel

1758 4. 7. 

  Eltern: Heinrich Schmitz heiratet Margaretha Schweinbergs (Schwebersch) (Bist.-Archiv Trier).

1758 25. 10. 

Michel Schmitz in Sinzig geboren (Bist.-Archiv Trier).

1760 18. 7.  

Margaretha Schweidenbrichs gestorben (Bist.-Archiv Trier).

1785 14. 1.  

Heinrich (?) Schmitz gestorben (Bist.-Archiv Trier).

1798 oder früher:   

Michel Schmitz ins Venn verzogen.

1798  

Teller luxemb. Herkunft im Heimatmuseum Verviers mit Inschrift „J. N. Schmitz de la Baraque 1798".

1799 12. 10.

Michel Schmitz, wohnhaft zu Jalhay, heiratet Margar. Josepha Pottier aus Jalhay, Beiderseitige Eltern waren damals bereits tot. Michel Schmitz konnte nicht schreiben. (Staatsarchiv Lüttich).

1800 11. 10.

Heinrich Josef Schmitz in Herbiester geboren (St.-Archiv Lüttich).

1808

Die Erdhütte ist bereits zum Lehmhaus (Baraque) erweitert.

1808

Tranchot verzeichnet die Baraque in der von ihm vermessenen Karte (Staatsbibliothek Marburg).

1809 

Tochter Maria Josepha in Herbiester geboren (St.-Archiv Lüttich). Später zieht Mutter Schmiz mit Kindern in die Baraque.

1819 9. 12.

Michel Schmitz in Baraque Michel verstorben (Pfarr-Reg. Jalhay).

1826

Kaufmann de Rondchene aus Malmedy durch die Kinder Schmitz gerettet. Er läßt an Stelle des Lehmhauses ein Steinhaus erbauen, kleine Glocke daran befestigen mit Jahreszahl 1589.

1827 

Rondchenes Schwiegersohn Chevalier Heinrich Fischbach baut Kapelle „Fischbach", schenkt Glocke und richtet Leuchtfeuerstelle ein.

1827 

Fischbach legt in der Baraque Michel das „Eiserne Buch" auf.

1831

Einweihung der Kapelle. 1836 Geschwister Schmitz retteten bis dahin 93 Verirrte, wofür Maria Josefa 50,— Francs königliche Belohnung erhielt.

1842 

Im Eisernen Buch stehen bis dahin 126 Gerettete verzeichnet. 1850 Straßenbau Eupen—Malmedy beginnt. 1853 Heinrich Josef Schmitz stirbt, Nachfolger sein Sohn Heinrich Michel.

1856 

Straße fertig, Baraque Michel wird Postrelais.

1857   

Bericht über Wallfahrten zur Kapelle Fischbach bei Baraque Michel. 1860 Letzte Eintragung im Eisernen Buch.

1888   

Bericht über Baraque Michel von Lemonnier.

1889   

Eisernes Buch kopiert; bald darauf brennt Baraque Michel nieder und wird wieder neu aufgebaut.

1894   

Michel Heinrich Schmitz kinderlos gestorben.

1905   

Mehrere Veröffentlichungen über Baraque Michel.

1911   

Venndichter Albert Bonjean veröffentlicht „La Baraque Michel".

1923   

Weitere Veröffentlichungen über Baraque Michel.

1929   

Baraque Michel zur heutigen Ausdehnung erweitert.

1931   

Große Gedenkfeiern bei Baraque Michel und Kapelle Fischbach.

1932   

„Schneiderlein im Hohen Venn" erscheint.

1933   

„Straße des Schicksals" von Mathar erscheint.

1954   

„Histoire Veridique de Michel Schmitz" von G. Grondal, Verviers.

1959   

„Michel Schmitz" von Prof. Willems, St. Vith.

1961   

Carl Kamp „Das Hohe Venn" mit Aufsatz „Baraque Michel".

1961   

Hans Reetz in der,, Staatszeitung": Erinnerung an einen wackeren Mann — Michel Schmitz aus Sinzig.

1964   

Eichen gepflanzt für vier Persönlichkeiten des Venns vor Kapelle Fischbach.

Zu den Lebensdaten möchte ich, noch einiges hinzufügen. Michel Schmitz hat also mit 41 Jahren geheiratet und ist mit 61 Jahren gestorben. Die Vornamen Heinrich finden wir in den Familien Schmitz in vier Generationen dreimal. Das gab Sicherheit bei der Suche nach den Eltern. Michel machte bei seiner Heirat in Jalhay zuverlässige Angaben über Herkunft und Eltern. Wenn er dabei erklärt, seine Eltern seien verstorben, dann wird das ebenfalls den Tatsachen entsprechen. Das Lebensende der Eltern müßte also zwischen 1758 und 1799 liegen. Ein im Jahre 1785 verstorbener Schmitz könnte der Vater sein, sein Vorname ist nicht zu entziffern. Leider sind die Sinziger Kirchenbücher des 18. Jahrhunderts schlecht zu lesen und armselig kurz gefaßt. Im Gegensatz zu den Registern des 17. Jahrhunderts oder den Standesamtsregistern ab 1799, die wahre Fundgruben sind, findet man kaum Altershinweise oder Hinweise auf Eltern, Wohnorte oder Hinterbliebene. Die Todeseintragung der Mutter steht unzweifelhaft unter dem 18. Juli 1760 unter dem Namen Margaretha Schweidenbrichs.

Michel konnte nicht schreiben. Das mag der Grund sein dafür, daß der Muttername in fünf verschiedenen Schreibweisen urkundlich nachweisbar ist: Schwebirch, Schwebrich, Sche-webrich, Schweinbergs und Schweidenbrichs.

Der Name wurde sicher nach der jeweiligen Aussprache notiert. Die Mutter mußte wohl einer ortsfremden Familien entstammen, sonst hätte man bei Hochzeit (1758), Geburt (1758) und Tod (1760) sicher gleiche Schreibweise verwendet. In den Kirchen- und Standesamtsregistern zwischen 1750 und 1850 in Trier und Koblenz tritt der mütterliche Geburtsname nicht mehr auf. Sollte die Mutter vielleicht aus dem Westen, dem Venn etwa, entstammen, u. U. selbst Wallonin gewesen sein? Dann hätte Michel Schmitz, dessen Eltern beide tot waren, der keine Geschwister hatte, also ganz allein stand und durch nichts in Sinzig festgehalten wurde, nur seine Vaterstadt Sinzig eingetauscht gegen die Heimat seiner Mutter.

Noch ein eigentümliches Faktum: Im Amte Sinzig gab es zu Lebzeiten des Schneiderleins nicht nur zwei Michel Schmitz, sondern sogar deren vier! Außer dem Westumer noch je einen in Löhndorf und einen in Franken! Vielleicht Stoff für neue Greuelmärchen? Was aber die Register verrieten: In Sinzig hielt ihn nichts mehr, Michel konnte ungehindert wandern!

Um unserem Schneiderlein gerecht zu werden, gehen wir aus von der Situation um 1800 und versuchen, uns an Realitäten zu halten.

1800 war die Zeit allgemeiner Unsicherheit und des Zusammenbruchs des historischen Gefüges, der Angst vor Wald- und Mooreinsamkeit, der Räuberromantik eines Schinderhannes und der Gespensterfurcht. Manche Landschaft, die wir heute als schön preisen, so unser Mittelrhein, war damals „trotzig und wild" mit „unheimlichen" Felsen und „fürchterlichen" Bergen, eine „hochgetürmte Schrecknis"! Noch „schrecklicher" waren die Alpen mit ihren verwünschten, ja fluchbeladenen Bergen.

Auch unsere heimatlichen Wälder waren unheimlich für unsere Ahnen, so die an der Kohlstraße beim Fuchskopf und beim Mau-chertskopf. Sie steckten voller gefährlicher Geheimnisse. Nur ungern zog, so erzählt Stöt-zel, der späte Wanderer allein durch den unwirtlichen Wald. Mancher erreichte dort nie sein Ziel, der Wald hatte ihn verschluckt und jede Spur verschüttet. — Noch weit heimtückischer mußte dem Vennbewohner das feindliche Moor erscheinen!

Betrachten wir doch die Tranchotkarte, die etwa 1808 entstanden ist! Außer der Baraque Michel ist bei dieser ersten korrekten Vermessung des Venns weit und breit kein Haus zu finden, nur diese eine Erdhütte unter vielen Kreuzen!

In jenem Gespenstermilieu haben wir einen sicheren Zeugen für Realitäten, das ist Chevalier Fischbach. Er war Einheimischer, und er hatte das Leben gemeistert. Er und sein Schwiegervater Rondchene kannten als Jagdherren genau die Kinder des Schmitz, aber auch den Michel Schmitz müssen sie noch gekannt haben, denn dieser war erst sieben Jahre vor Rondchenes Rettung 1819 gestorben, und Michel hatte mehr als zwanzig Jahre im Venn gelebt. Fischbach war sicher mitunter dem Schmitz begegnet, er kannte aber auch seine Zeitgenossen, wußte von ihren Gruselgeschichten, auch von der Legende, die manche Vennbewohner damals schon sich erzählten.

Hl. Rochus, Kapelle Fischbach

Dieser Chevalier Fischbach baute die Kapelle zum Dank an Gott. Er baute der Familie Schmitz ein steinernes Haus, hängte ihnen zum Dank eine Glocke auf und ließ durch die Kinder Schmitz ein Warnfeuer in den Nebel-und Sturmnächten unterhalten. Ein schöner Dank, nein, eine schöne Zumutung für Leute, wenn sie des Vorteils wegen dorthingezogen wären! Nein, diese Handlung Fischbachs ist nur logisch vernünftig, wenn wir voraussetzen, daß die ideale Grundhaltung der Kinder Schmitz bereits vor der Rettung Rondchenes vorhanden war. Und wer hat die Kinder zu ihrer Hilfsbereitschaft, die ja historisch unangefochten ist, angetrieben? Bestimmt nicht die Mutter, auch nicht Fischbach, der war ein dankbarer Mensch und half den Hilfsbereiten zu festen Mauern. Daß die Kinder, nicht angelockt durch Sucht nach leichtem Broterwerb oder von Abenteuerlust getrieben, über hundert Menschenleben retteten, das war die Fortsetzung des Beispiels, das sie am Vater erlebt hatten.

„Authentische Hilfeleistung für verirrte Reisende beginnt erst, als Michel Schmitz schon unterm Rasen ruhte." Besser gesagt: Erst mußte ein Geldmann in Not geraten, dann erst wurde Hilfeleistung authentisch. Nun, dann hätte eben die Legende die Kinder des Michel mit einem Glorienschein umgeben.

Das war aber nicht nötig, denn Fischbach hat sich als vernünftiger und weitschauender Mensch erwiesen. Er hat gegen die Miesmacher und die Greuelmärchenfabrikanten des Venns das „Eiserne Buch" hinterlegt und durch den Bürgermeister sogar die Buchseiten numerieren lassen. So hörte um Baraque Michel der Vennspuk auf, und als nüchterner Geschäftsmann ließ Fischbach die Pluspunkte der künftigen Rettungen ins „Livre de Fer" eintragen, so wie das Minus der Todesfälle in den Kreuzen im Venn manifestiert war.

Eingetragen wurden immerhin über hundert Lebensrettungen, die den Kindern des Michel ZU verdanken waren. Die königliche Regierung bewies ihre Anerkennung durch eine Geldprämie.

Man wollte um die Kapelle eine Siedlung, Hameau Fischbach, entstehen lassen. Der Name war bereits amtlich genehmigt. Aber es fanden sich keine Siedler. Und so blieb amtlich der Name Michels erhalten. Die Baraque blieb das einzige Wohnhaus dort, und drei Generationen Schmitz haben dort gewirkt, nicht enttäuscht, daß ihre Hoffnungen auf Rendite unerfüllt blieben. Bleibt es also doch beim Idealismus!

Für mich ist noch ein Beweismittel für die Tätigkeit des Michel vorhanden: die Figur des hl. Rochus in der Kapelle. Sieht dieser Nothelfer nicht genau so aus, wie das Volk, das den Michel in Erinnerung hatte, mit den gleichen Attributen: dem großen Schlapphut gegen die Unwetter, mit dem großen Stab zum Überspringen der Torflöcher, mit der Pilgerflasche zur Stärkung der Verirrten, mit dem treuen Hund, ohne den wahrscheinlich manche Rettung nicht gelungen wäre! — Ich kann mir nicht helfen, dieser Rochus ist ein feiner Dank an Schmitz, Vater und Sohn, die als Vennführer, Wegweiser und Lebensretter diese Anerkennung wohl nicht erstrebt, aber ehrlich verdient hatten.

Unklarheiten werden immer bleiben. Nach über hundertfünfzig Jahren läßt sich nicht alles ergründen, rekonstruieren und nachweisen. Das ist auch nicht schlimm, denn wir suchen ja kein Motiv für ein Verbrechen. Sucht man aber ein Motiv für gute Taten, dann wird das oftmals peinlich! Könnte sich jemand vorstellen, daß ein Michel Schmitz von seinen Hilfeleistungen irgendein Aufsehen gemacht hätte? Aber Bescheidenheit wird oft mißverstanden und schlecht gelohnt.

Die meisten Sagen sind umstritten, Heldenmären sind unzeitgemäß, fromme Legenden werden heute vielfach belächelt. Moderne Menschen suchen nach handgreiflichen Erklärungen, nur nüchterne Wirklichkeit gilt. Damit muß man rechnen. Auch unser Schneiderlein mußte durch das Fegefeuer der Aufklärung.

Und trotzdem, mag er ein armer Schelm gewesen sein, wie Mathar ihn zeichnete, ein Held des Venns, wie ihn viele sehen mögen, entkleiden wir unseren Michel Schmitz alles dichterischen und legendären Beiwerks: was bleibt, ist zunächst ein einfacher, einfältiger Mensch, der nicht einmal schreiben konnte, der wahrscheinlich das Wort Humanität nie gehört oder verstanden hat. Aber er hat einfache Menschlichkeit gelebt, und seine Kinder haben ihm nachgeeifert.

Er half den in Not geratenen Menschen und blieb diesem Grundsatz treu, denn sicher war er ein sturer Dickschädel, ein wahrhaft deutscher Michel, sonst hätte er die Monotonie der Einsamkeit nicht ausgehalten. Die Hilfsbereitschaft dgr Wachtposten Schmitz im Venn hört erst auf, als dieser Einsatz nach dem Bau der festen Straße nicht mehr sinnvoll und notwendig war.

Von den Schmitz aus Sinzig gingen gute Taten aus, ob sie nun Michel, Josepha, Heinrich oder Michel Heinrich hießen. Und die Bara-que Michel hatte guten Klang, denn sie war jahrzehntelang Brücke zwischen Völkern, Stämmen und Sprachen. Das allein wollte Ludwig Mathar auch in seiner Venntrilogie aussagen.

Die Akten des Michel Schmitz können als geschlossen gelten, aber nur deshalb, weil Ba-raque Michel viel mehr geworden ist als nur Erinnerung an die Taten eines Menschen. Sie ist heute Pilgerziel für Fromme, die Notre Dame besuchen, ein Naturerlebnis für müde Städter, ein Pantheon für geistige Förderer des Venns, natürlich auch ein Magnet moderner Fremdenwerbung.

Und wenn die Rehabilitierungsschrift sagte, Michel Schmitz verdiene keinen begründeten Tadel, aber auch kein besonderes Lob, dann schließen wir uns lieber dem Titel an, den ihm Hans Reetz 1961 in der Staatszeitung von Rheinland-Pfalz gegeben hat:

„EIN WACKERER MANN AUS SINZIG."