»Passion« »Jedermann« — und zwei schützende Schirme

Weiterhin viel Theaterleben auf der Freilichtbühne in Schuld 

Harry Lerch

»Der Geist der Truppe ist rege, nach wie vor« — so umschreibt Walter Pfahl das Engagement der Laienspielschar in Schuld an der Ahr. Es bleibt für stets ein Rätsel, daß in einem Ort von 750 Einwohnern gut und gerne ein Siebentel am Theater beteiligt ist — auch die Kinder, wovon noch zu reden sein wird. Seit 1946 ist diese Laienspielschar auf der Bühne, anfangs im Saal, bis mit den wieder auflebenden Marienwallfahrten ein völlig anderer, wirksamer — und einmaliger Schauplatz gefunden wurde. Eine Waldbühne, eingebettet ins Laubgrün. Wie geschaffen ein sanft sich senkender Talkessel und damit ein Amphitheater. Auf einem kleinen Wall wurde ein makellos schön gewölbter Torbogen in Bruchstein aufgemauert, und durch ihn steigen sie herab auf die begrünte Bühne. Sei ,es der Märchenkönig des »Schneewittchen«, sei es der »Jedermann« oder Christus in der »Passion«. Von zwei bemerkenswerten, szenisch lebensvollen und verdichteten Aufführungen sei hier berichtet.

Zuschauer sind Zeugen

Das Passionsspiel hat hier Tradition, denn eine erste Aufführung war 1954. Vor wenigen Jahren wurde der Text von Dechant Gerald Rosenthal von Lyrismen und Schönworten gereinigt, denn nach seinen Worten ist »die Passion nicht Zufall. Der Kreuzestod steht im Plan Gottes«. In gleichem Sinne auch die Regie von Walter Pfahl mit Verzicht auf nazarenische Süßlichkeit, dafür die Hinwendung zu Größe und Tiefe des Mysterienspiels, wie es seit Jahrhunderten auf den Domstufen geschieht. Die das erleben, sind nicht nur Zuschauer, sie werden zu Zeugen.

Spielort ist die Kirche

Der szenische Ablauf hat Würde. Geklärt wird die vieldeutige Gestalt des Judas. Er ringt, er zweifelt, er ist nicht schnöder Denunziant, Verräter, Schurke. Im Grunde nimmt Judas Abtrünnigkeit, Furcht und Kleinmut aller Apostel auf sich. Denn Thomas zweifelt ungläubig und zaudernd, Petrus verleugnet seinen Herrn beim Hahnenschrei. Nicht genug, die Jünger halten nicht Wacht im Garten Genezareth, sie schlafen, ja, sie flüchten. Die Skrupel des Judas, ob dies der Messias sei, werden Wort um Wort deutlich — und das erst recht mimisch und gestisch.

Im Auftritt des Mesech wird Judas gefragt, ob er dem Prediger aus Galiläa folge. Judas antwortet: »Manches Jahr, Rabbi, suchte ich Wahrheit im Wort der Schriftgelehrten. Doch, ich war zu arm. Da hörte ich den Galiläer auf offener Straße sprechen, und vieles schien mir gut und wahr, ja, göttlich und weise.« Worte eines Zweifeinden und bald Verlassenen und im Abendmahl dann doch Vorgezeichneten — es spricht für die dramaturgische Sorgfalt der »Passion«, Judas zumindest gerecht zu werden: für einen von den Schriftgelehrten Verführten. Nichts von Pathetik, die Gewandfarben sind kräftig, Ablauf und Vollzug gleichsam »wie das Murmeln des Sees«. Sinnbedeutend ist, daß um den Altar die Szenen geschehen. Aus der Mitte der erhöhten Spielebene der Kubus der Altarmensa. Alles hat Bezüge zueinander. Über den Kubus wird der große Tisch des Abendmahls gelegt — da genau, wo das Geheimnis der Eucharistie nun stets erneuert wird. Das geht tief ein, wenn durchs Kirchenschiff unerwartet die Kinder hereinstürmen mit Palmwedeln der jungen Talmudschüler und rufen: »Er kommt, er kommt! Hosianna!« Anschaulichkeit statt Schaueffekt, verhüllte Sprache und Gebärden, bis nach der Kreuzabnahme die beweinenden Frauen schweigend die Dornenkrone auf die Altarmensa legen. Eine Aufführung der inneren Augenblicke.

Ein Augenblick der »Passion«. Jesus und die Jünger sind versammelt zur Einsetzung des Abendmahls. Die Tafel ist über den Zelebrationsaltar gelegtan der Stätte, an der die Eucharistie in jeder Messe gefeiert wird

»Jedermann«

Im vergangenen Sommer spielte praktisch jedermann den »Jedermann«: in Neuwied und Rommerskirchen, in Mayen und sonstwo. Die Spielschar Schuld konnte an frühere Aufführungen ihres »Jedermann« anknüpfen. Doch, wie Jahr um Jahr diese »inneren Augenblicke« gewachsen sind, verdichtete und vereinfachte aufs Wesentliche sich auch dieses Welttheater. Das trifft wie ein Pfeil: wir alle sind Jedermann!

Bedeutung hat in diesem Text der »Passion« Judas (rechts). Er zögert, den Beutel der Silberlinge anzunehmen, er weist ihn in diesem Augenblick zurück vergebens

»Jedermann« macht uns sehend. Wir alle sind gerufen, irgendwann, was die Gottesstimme aus dem All der Gestalt des Todes aufgibt:

»Geh du zu Jedermann
und zeig in Meinem Namen an:
Er muß seine Pilgerschaft antreten
mit dieser Stund und heutigem Tag,
der er sich nicht entziehen mag.
Und heiß ihn mitbringen sein Rechenbuch.«

Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen — Jedermann freilich weiß es nicht. Er erkennt die Zeichen nicht. Hier spricht alles mit, anders als vor der Sakralarchitektur der Domstufen anderswo: die Kulissen von Waldgrün, die Weiträumigkeit von Natur und Szene auf dem großen Podest. Mehr und mehr isoliert sich der Jedermann als Mann der Hoffahrt — und ein Mensch in seinem Leide. Das Mysterienspiel wird zur Allegorie eines Jedermann-Lebens, das Versgebilde von Hugo von Hofmannsthal aus dem englischen »Every-man« von 1509 via Hans Sachs. Diese Aufführung hatte Nachhall: zweimal war die Laienspielschar Schuld außerhalb des Kreises eingeladen zum Gastspiel, mit Respekt aufgenommen in der 650-Jahr-Feier der Stadt Cochem. Die Presse war des Lobes voll. Da einer — sprich: Regisseur Walter Pfahl — nicht alles leisten kann, war die »Jedermann«-Aufführung — wie auch einige Inszenierungen zuvor — einstudiert von Dieter Gerlach (als Gast). Wie Ebbe und Flut, hat indessen auch Theater seine Gezeiten. In der Laienschar kam der Wunsch zutage, wie früher auch einmal wieder auf sich selbst gestellt zu sein. Das ist kein Risiko. Wenn auch die Spielschar nicht von Repertoire redet, hat sie (insbesondere mit der »Passion«) in dreißig, vierzig Stücken diese Eigenständigkeit und Beständigkeit bewiesen. Das Gespür für Szene, Dichtigkeit, Mimik und mimische Resonanz ist gewachsen.

Kein Wunder! Hier spielen aus manchen Familien nun schon drei Generationen. Bei »Wilhelm Teil« kamen sie einst zu Pferde aus der tiefen Waldgasse herangebraust, und die Nuancen wachsen wie von selbst: in einem Spiel kam zum Markt ein Bursch mit einer Gans unter dem Arm, zwei leibhaftige Lämmer führte eine alte Frau heran, die andere hatte nicht nur ein Körbchen, sondern auch weiße Eier drin. Man weiß nicht, woher sie das haben, die Echtheit des Spiels ... Wie von selbst hat sich die Schar verjüngt, und in letzter Zeit wurden die Aufgaben verteilt — kein Verein also im herkömmlichen Sinne und erst recht keine Theatermeierei, vielmehr eine Konzentration. So oder so: ein Vorsitzender ist Hans Willi Bläser (eine alte Theaterfamilie, ebenso wie »die Hekkens«), fürs Geld verantwortlich ist Heinrich Hecken, Kostümwartin ist Gisela Robert. Technik und Bühnenmusik: Wolfgang Pfahl, alles ins rechte Licht rückt Edi Diel, Bühnenwart ist Helmut Markovski, Öffentlichkeitsarbeit von Udo Stratmann. Die Leitung der Bühne und Regie weiterhin bei Walter Pfahl. Also: »Der Geist ist rege«. Vorerst wollen sie ein Volksstück spielen, überdies möchten einige sich als Regisseur versuchen. Dafür also, wie man beim Theater sagt: Hals- und Beinbruch! In die Zukunft geblickt, steht die Laienspieler-schar unter einem guten Schutz: zwei Schirme über dem Zuschauerhang. Das mit gutem Grund, denn eine Freilichtbühne ist wetteranfällig. Oft ist eine ganze Saison verregnet gewesen .. . Zwei riesige Schirme werden in Zukunft bei Schlechtwetter vor Regen schützen. Sie haben eine Quadratfläche von jeweils zehn Metern im Geviert, mit beiden Schirmen können also maximal 300 Zuschauer ein schützendes Dach über dem Kopf haben.

Jedermann und Buhlschaft. Er hat die Stimme gehört, die ihn sein Rechenbuch bringen heißt. Die Buhlschaft und alle Tafelgäste fliehen

Und das Ensemble? Es ist etwas behütet vom Laubdach der Bäume, aber vielleicht fällt hier eine Eigenlösung ein, transportable Plane mit bemalten Stützen wie die Pfosten der Gondeln am Udo in Venedig ...

Gut beschirmt also — der »Schirmherr« ist der Landkreis, eigentlich mehrere »Schirmherren« und »Schirmfrauen«, denn die Kreistagsabgeordneten genehmigten 30 000 Mark. Ein Drittel leisten Gemeinde Schuld und mit Eigenarbeiten die Laienspieler hinzu.

Ein reelles Geschäft! Denn es wäre schade, wenn das Wetter den Elan auf die Dauer lahmen würde.

Wie die Wetterfahne sich auch drehe — in Zukunft bleiben die Zuschauer trocken, doch Freilichttheater bleibt es mit allem Zauber: im Grünen, im Wald, windgeschützt und selbst an Sommerabenden warm. Mit allem bunten Zauber des zaubervollen Theaters. Wie im Prolog zu dem Buch »Anatol« von Hofmannsthal: 

Durch die Zweige brechen Lichter, 
flimmern auf den bunten K
öpfchen,
scheinen auf den bunten Polstern, 
gleiten über Kies und Rasen, 
gleiten über das Gerüste, 
das wir flüchtig aufgeschlagen. 
Wein und Winde klettert aufwärts 
und umhüllt die dichten Balken, 
und dazwischen farbenüppig 
flattert Teppich und Tapete, 
Schäferszenen, keck gewoben, 
zierlich von Watteau entworfen. 
Eine Laube statt der Bühne, 
Sommersonne statt der Lampen, 
also spielen wir Theater, 
spielen unsre eignen Stücke, 
frühgereift und zart und traurig,
die Komödie unsrer Seele, 
unsres Fühlens Heut und Gestern.

Szene auf der Freilichtbühne, im Hintergrund die Waldkulisse. Gefesselt wird der Schuldner in den Turm geführt, seine Familie bleibt zurück
Fotos: Kreisbildstelle

Alle diese Zeilen sind stimmig und im Bunde mit diesem Freilichttheater, eine Zeile nicht: »Frühgereift und zart und traurig.« Im Gegenteil, lebenskräftig und sich verjüngend ist die engagierte Spielschar.

»Ein Dach über dem Kopf« werden die Zuschauer in künftigen Aufführungen haben. Links die Freilichtbühne, rechts die beiden aufspannbaren, quadratischen Schirme, die 300 Zuschauer vor Regenschützen 
Repro:Vollrath