Der Pfennigsbur — eine Kempenicher Heimatsage

Manfred Becker

Unweit der alten Römer- oder Kohlstraße liegt in einem idyllischen Tal das mittelalterliche Kempenich. Im Westen, Norden und Osten war es mit einer dicken Befestigungsmauer mit Wehrgang umgeben. Am Ortsausgang in Richtung Adenau sowie an der Ausfahrt nach Ahrweiler befanden sich Türme mit den wehrhaften Zinnen und den Toren. Hier versahen die Pförtner ihre Dienste, die letzten Pförtner von Kempenich waren Eberhard Honert von Weinbach, der 1667 verstarb, und Bartholomäus R., welcher laut Sterbebuch der Pfarrei Kempenich am 13. Februar 1674 verstarb. Im Süden jedoch, wo das Dorf an die von Goldbach und Spessarter Bach durchflossenen Wiesen grenzte, erstreckte sich ein undurchdringliches Sumpfgelände. Dieses Sumpfgelände mißfiel schon lange dem Burgherren Simon von Kempenich und er verhandelte mit den Bauern und Bürgern des Dorfes wegen der Trockenlegung. Jedes Jahr sollten an Sankt Martin die Familienoberhäupter dem Burgherren für diese Maßnahme einen Silberpfennig bezahlen. Die Bewohner von Kempenich waren jedoch durch die Ablieferung des Zehnten und durch die fast tägliche Fronarbeit so arg strapaziert, daß sie nicht daran dachten, diese zusätzliche Zahlung hinzunehmen. Sie gaben dem Burgherren dies auch lautstark zu verstehen und Simon war über die Halsstarrigkeit seiner Untertanen sehr erbost. Er schwor insgeheim den Kempenichern, daß er sich die notwendigen Silberpfennige bei Nacht und Nebel holen wolle.

So herrschte bald auf Burg Kempenich ein gar emsiges Treiben. Reisige und Knechte bereiteten einen räuberischen Beutezug vor. Täglich kamen angeworbene bewaffnete Reiter den Burgberg hinauf geritten. Viele finstere Gesellen hatten sich im Burghof eingefunden, um darüber zu beraten, wie man das Dorf im Tale am besten überfallen könne. Die auf der Burg tätigen Fronarbeiter sahen wohl die Rüstarbeiten und das geheimnisvolle Treiben, keiner jedoch kam auf den Gedanken, daß hier ein dreister Überfall vorbereitet wurde. In der Burgküche arbeitete in jenen Tagen ein junges, bildhübsches Mädchen, kaum 18 Jahre alt. Sie war auf den Namen Walburga getauft, wie auch die Schutzheilige der Pfarrkirche hieß. Seit Tagen beobachtete sie das Geschehen und Treiben im Burghof und sie ahnte das Böse, das ihrem Dorf im Tal wiederfahren sollte. Eines Abends saßen die finsteren Gesellen, die Reisigen und Knechte, beim Würfelspiel, und der gute Wein des Burgherren hatte ihren ohnehin schon spärlichen Geist arg vernebelt. Walburga wagte sich in die Nähe dieser Burschen um Genaueres in Erfahrung zu bringen. Mit vor Wollust glasigen Augen sahen die Knechte lüstern nach dem Mädchen und in bösartig gieriger Eifersucht gerieten sie gar bald in einen heftigen Streit. Nur einer der Gesellen, Gerhard aus dem Gefolge des Landskroners, ein aufrichtiger Bursche mit gutem Gemüt, nahm Walburga zur Seite, um sie zu schützen. In den herrlichen und vielgepriesenen Burggärten gingen die beiden in der lauwarmen Sommernacht spazieren und Walburga erfuhr von Gerhard, daß man in der kommenden Nacht Kempenich überfallen wolle. Um Mitternacht solle ins Dorf eingefallen werden, dann seien nur noch die Fenster des Dorfgasthauses »Unter den Linden«, an der Ecke der großen Straße und der Suppengasse, erleuchtet. Die Bauern, so glaube man, lägen dann müde von der harten Fronarbeit in ihren Betten, und der Wirt sei vom Dämmerschoppen selig und liege mit seinem weisen Haupte auf der Theke. Der einzige Weg durch den Sumpf führe ja in gerader Richtung auf die Lichter zu und hier sei die Mauer leicht zu übersteigen. Als Walburga dies alles vernommen, drückte sie voller Dankbarkeit dem redseligen und liebestollen Knecht einen schüchternen Kuß auf die Wangen und erklärte dem vor Glück sprachlosen Gerhard, daß sie ins Bett müsse, da sie schon um 7.00 Uhr mit der Herrin zur Kirche nach Kempenich gehe.

Bald war alles ruhig im Burghof und im Schloß, nur hin und wieder ertönte gespenstig der Ruf einer Eule. Der Mond warf sein fahles Licht durch die schnellziehenden Wolken. Walburga hatte heimlich dem schlafenden Burgwächter den Schlüssel fortgenommen und das kleine Törchen im untersten Burgturm geöffnet. Sie lief entlang der Brücke und der beiden Ringgräben über die Burgwiese, vorbei an der Bernharduskapelle mit der alten Linde, hinunter ins Tal. Sie fand leicht und ortskundig den Weg an der alten Mühle vorbei, umhüpfte den großen Forellenteich und gelangte an der Beun vorbei trockenen Fußes zum oberen Tor. Den schrecklichen Sumpf ließ sie rechts liegen, denn diese Gefahr kannte sie sehr gut. Sie rief leise und verhalten nach dem Wächter, doch es rührte sich nichts in der kleinen Turmkammer. Erst als sie ein Dutzend Steinchen ans Turmfensterchen geworfen hatte, da erschien schlaftrunken der Pförtner.

Als dieser hörte was geplant sei, war er sofort hellwach und seine listigen Äuglein funkelten im trüben Kerzenschein. Sofort öffnete er das Tor und gemeinsam mit Walburga ging er zum Schultheiß. Als dieser von dem unheimlichen Plan erfuhr, leuchteten seine wissenden Augen voller Schalk. Er rief aus, daß er der vermaledeiten Sippschaft samt ihrem Herrn einen tollen Empfang bereiten werde. Im Morgengrauen kehrte Walburga in die Burg zurück, einen Bund mit Suppengemüse in der Hand. Als sie dem Burgwächterden Schlüssel in die Hand drückte, sah dieser nur mürrisch auf. Er war jedoch erstaunt über den Fleiß dieses stillen Mädchens. Bald hatte drunten im Dorf der Schultheiß seine Leute um sich geschart und ihnen von dem unguten Plan des Herrn erzählt. Als der Abend kam, wurden die Kammern des alten Backhauses im Hinterdorf hell erleuchtet. Hinter der Mauer standen die Bürger und Bauern, sie hatten sich mit Äxten, Mistgabeln, Dreschflegeln und knorrigen Eichenknüppeln bewaffnet. Gegen Mitternacht zog von der Burg herab ein gespenstiger Reiterzug. Es mögen so um die dreißig Berittene und etwa 20 Knechte gewesen sein, die geradewegs auf das hell erleuchtete Backhaus hin sich fortbewegten. Schon bald wunderte man sich, daß trotz der trockenen Jahreszeit der Boden immer schlüpfriger wurde. Bald hatte man sich hoffnungslos im Sumpf verfangen und es gab ein gar fürchterliches Schreien und Fluchen. Auch Herrn Simons Pferd war fast ganz im Morast versunken und Simon ahnte den Verrat. Einigen von den Knechten gelang es bis zur Mauer vorzudringen, und mit Hilfe ihrer Leitern und Stricke gelangten sie über die Mauer, dort jedoch erging es ihnen schrecklich. Die Bauern droschen auf die Eindringlinge ein, daß diesen Hören und Sehen verging. Die Knechte, welche gefangen wurden, sperrte man in den finsteren Keller des Rathauses, die anderen aber flüchteten aus dem Sumpf, so gut es ging, und die Bauern warfen Steine hinter ihnen her.

Gescheitert war das so hoffnungsvoll begonnene Unternehmen und Herr Simon hatte den Traum vom Silbergroschen ausgeträumt. Die Bauern aber spotteten über den Burgherrn und lachten über seine gehörnten Vasallen. Den Sumpf nannte man fortan den Pfennigsbur. Walburga aber wurde fortan von den Bauern und Bürgern von Kempenich hochgeehrt. Sie zog bald von der Burg hinab ins Dorf und heiratete ihren Gerhard, der aus den Diensten des Landskroners ausschied. Heute ist der Pfennigsbur trocken und nur diese Sage geblieben.