Frühling in Oberwinter

Egon H. Rakette

Im Waldinneren und in den Nischen der Hänge kleben noch die letzten Schneeflecken wie Puddingreste um einen Kindermund. Man muß genauer hinsehen, um an Sträuchern und Bäumen die ersten Triebe zu sehen. Aber die Vögel sind da und fliegen aufgeregt umher, als könnten sie sich noch nicht zurechtfinden. Nur die Wildtauben sind unbeirrt und wetteifern mit dem Pulk der Möwen, die vom Hafen aufsteigen und in eleganten Schleifen die Hänge absegeln. Es riecht plötzlich nach Frühling. Im Dorf haben die Fachwerkhäuser ihre Fensterläden weit herumgeklappt, um viel Sonne in die Stuben zu lassen. Die Leute stehen in den Gassen beieinander und reden über das Wetter. Dann nehmen sie die Hacke über die Schulter und gehen in die Gärten, um nach dem Rechten zu sehen. Nach einer Weile steigen die dünnen Rauchsäulen der kleinen Feuer, in denen sie Reisig und Abfall verbrennen, wie Dankopfer auf. Indessen haben die Frauen den ersten Strauß blühender Forsythien zum Altar gebracht, und die von der Schule heimkehrenden Kinder hören den Klang der Kirchenglocke, der so fröhlich klingt. Es riecht allenthalben nach Frühling. Die Boote sind zu Wasser gebracht. Im Hafen schaukeln die Yachten im matten Wind. Ihre Besitzer sind aus der Stadt gekommen, um klar Schiff zu machen. Fachkundig inspizieren sie die so lang verschlossen gewesene Kajüte, und fast feierlich hissen sie erstmals wieder nach einem langen Winter die Segel, nur so zur Übung, nur um sich zu vergewissern, daß alles seine Ordnung hat. Erst in zwei Wochen wird das Fest des Ansegeins sein, nachdem sich die Reihe der parkenden Autos immer mehr verlängerte. Aber schon haben einige Boote den Anstrich erneuert, und sie schlingern im Hafenwasser, als könnten sie den Tag der ersten Kreuzfahrt nicht erwarten. Auf dem Hafendamm gehen die ersten Ausflügler, denen die frische Brise nichts macht, die rheinaufwärts weht. Sie zeigen sich die Marken des letzten Hochwassers und bewundern die ersten Ruderer, die schwer gegen die Strömung zu kämpfen haben. Drüben, sagen sie zueinander, und zeigen auf Rheinbreitbach jenseits des Stromes, da wird wieder mächtig gebaut. Die Leute erinnern sich genau der Veränderungen. Die Landschaft gehört ihnen in allen ihren Teilen, altvertraut aus Stunden des Dahinsinnens und Sichfreuens. Sie sehen hinaus zur Silhouette des Westerwaldes. Dort hat der Steinbruch die Linie des Horizonts zur Narbe verbreitert, doch erfolglos bleibt das Bemühen der Wälder, die Lücke zu schließen. Auf dem Strom wetteifern indessen die dunklen Kähne in Tal- oder Bergfahrt, rascher voranzukommen. Den blankgescheuerten Dampfern der Köln-Düsseldorfer folgen eilfertig kleine Motorboote, von deren Bord die Harmonikaklänge bis an die Ufer wehen. Es wird Frühling. Schon nach wenigen Tagen sind die Kirschbaumhänge in ihrem Blütenstand wie mit Reif bestäubt. Frühmorgens wagen sich Rehe aus dem Wald in die Gärten der Rheinhöhe und abends kommen die Wildkaninchen auf den Wiesen zu ausgedehnten Meetings zusammen. Die fast verschwundenen Elstern finden sich ein, die Meisen nehmen von ihren Nistkästen Besitz, und ein Rudel Spechte pulkt vorsichtig durch das Gelände. Die Eigenheimer kommen noch etwas zaghaft aus ihren Häusern und blinzeln in die Luft. Sie beginnen den schadhaften Fensteranstrich abzuschmirgeln oder die Hecke zu schneiden. Aber ihnen geht die Arbeit noch etwas mühsam von der Hand, sie setzen rasch wieder ab, schieben den Hut in den Nacken und nicken dem Nachbarn zu. Sie sehen, daß im hinteren Teil des Gartens der Maulwurf tätig war, sie sehen das Unkraut zwischen den Bruchsteinplatten des Weges, und sie sehen, daß der letzte Schnee von einigen Rhododendren Zweige niedergebrochen hat, — also seufzen sie über die viele Arbeit, die ihnen zukommt, aber es ist ein Seufzer des Glücks: Wie schön hat Gott die Welt gemacht!

Die Leute setzen sich auf die Bank in die Sonne und denken, wie schnell das Jahr vergangen ist. War der Winter nicht endlos gewesen? Und nun war doch Frühling geworden. Die Menschen atmen auf und dehnen sich. Sie sind plötzlich um einen Grad fröhlicher und lachen sich zu.

Auch die Waldohreulen kommen pünktlich. Man sage nicht, daß Tiere ohne Stundenplan leben. Sie vegetieren keineswegs ins Blaue hinein. Seitdem wir vor dreißig Jahren die Stadt mit dem Land vertauscht haben, kennen wir uns aus. Alles hat seine Ordnung. Nicht nur die Müllabfuhr und der Postbote kommen pünktlich.

Erstmals hatten wir die Eulen im Herbst erlebt. Als das Gekrächze zum ersten Male ertönte, waren wir erschrocken. Mittlerweile gewöhnten wir uns daran. Plötzlich empfanden wir sie als unabänderlich zugehörig zu Abend und Mondschein über dem Westerwald. Jetzt ertappe ich mich, wie ich angestrengt in die Nacht höre und auf das Gekrächze der Eulen lauere. Waren sie womöglich abgewandert? Man hat mir gesagt, daß die Waldohreulen von der Mosel heraufkommen und eine vom Aussterben bedrohte Art seien. Wo sind sie jetzt? Ich kann sie nicht zurücklocken, denke ich. Aber ich bange um sie. Ich würde sie ebensowenig vertreiben wie den Siebenschläfer unter dem Dach unseres Hauses. Ich kann ihnen nicht zureden, sich in unsere Baumwipfel zu begeben und drauflos-zukrächzen. Ich kann nur abwarten. Doch jeden Abend frage ich: »Noch nichts zu hören?« Wenn ich meinen Nachbar über den Zaun sehe, trete ich an ihn heran und sage wie beiläufig: »Man hört die Eulen nicht.. . « Er nickt und sagt: »Ich warte auch darauf . . . «, und ich drücke ihm dankbar die Hand. Es ist schön, Übereinstimmung zwischen den Menschen festzustellen.

Der Tag geht zur Neige. Es weht frisch vom Strom herauf. Der Frühling will schlafen gehen. Der letzte Bauernwagen tuckert behäbig den Ellig hinunter. Der kühle Abend ermuntert noch zu kleinen Arbeiten in den Gärten. Man sammelt Reisig und häufelt abgefallene Tannennadeln zusammen, und man überlegt da und dort, was morgen zu machen wäre. In das Sinnen hinein hören wir plötzlich den Ruf der Waldohreulen und fassen uns am Arm. »Sie sind da!«, sagen wir glücklich. Ihr Ruf erklingt zwei, drei, vier Mal. Der gelbe Honigmond über dem Westerwald senkt sich langsam zum Rhein beim Unkelstein.

»Sie sind wiedergekommen«, flüstere ich glücklich. »Und vielleicht bleiben sie für immer. Um nicht vertrieben zu sein.« Das Leben geht weiter. Nach dem Frühling würde der schöne Sommer kommen, an dessen Abenden wir unter dem Schein der Windlichter vom Walporzheimer trinken und guter Dinge sein werden. Niemand denkt an einen Herbst und Winter. Immer wieder wird Frühling in Oberwinter.