Schäferklaes

Johannes Friedrich Luxem

Adert

Als Hirt und Herde den mühseligen Anstieg aus dem Denntal zur Kuppe des Adertberges beendet hatten, hielt Klaes inne. Wie auf geheime Zeichen verharrten die Tiere auf der Bergkuppe, drängten sich Kastor und Pollux um ihren Herrn, herrschte eine langanhaltende Stille, unterbrochen nur vom Schrei der Häher aus den Kronen der Vogelbeerbäume. An klaren Herbsttagen, wenn die Sonne tiefer stand, war die Sicht von diesem Berg aus nach allen Richtungen der Windrose unbeschreiblich wechselnd und wunderbar. Im Norden, jenseits von Ahrtal und Neuenahrer Berg, dehnte sich die weite Ebene von der schweren Erde der Grafschaft bis hinein in die Kölner Bucht. Wie eine Miniatur tauchten zuweilen die Türme des Domes am äußersten Rand des Horizontes aus dem Dunst; zu ihm hin leiteten das Auge Silberblitze der Sonnenreflexe des Rheinstromes, der sich nach Norden zu in den Schlieren der beginnenden Dämmerung verlor.

Über die Landskron — uralter Wächter des Ahrtales — hinweg blickte der Schäfer zu den violettblauen Konturen der Kegel und Kuppen des Siebengebirges; hell leuchtete das Trachitgestein der Sagenburg im späten Taglicht, Siedlungen jenseits des Stromes lagen wie grelle Sprenkel im Chromoxidgrün der Rheinhöhen.

Westwärts öffnete sich dem Blick in mannigfach ineinandergreifenden Kulissen das stille Denntal mit Wiesen und Waldbuckeln, aus deren Einsamkeit er mit seiner Herde gekommen war.

Nur nach Süden blieb der Weitblick versperrt von Mauern tiefgrüner Dämmerungen, der Weite und den Geheimnissen der Eifelwälder, die Blasweiler mit seinem Trutzkirchlein einschlössen wie eine Insel. Auf Ädert erlebte Schäferklaes den Sonnenuntergang, der alles in wunderbarer Weise veränderte: Formen und Licht, Schatten, Konturen, Farbklänge und Reflexe. Die Wirklichkeit wurde teil der Geheimnisse stetiger Verwandlungen: Hügel, Wälder, Wiesentäler, Fluß und Siedlungen verschmolzen zu einem großen Organismus, wandelten sich in Gebilde, die als Haut die Liladämmerung anzogen und im Dunstgewoge zu atmen begannen. Lichterketten am Horizont wurden zum Mantel, die Finsternis der Nacht zu überstehen, mündeten in die pausenlosen Ströme vergangener Zeiten, die der alte Mann in Bilderfluten vorbeirauschen ließ lange in die kühle Nacht hinein.

Unter der Eifelerde

Was vor hundert Jahren noch die Ahnen am Qualmfeuer in der »Stuff« erzählten, was weitergegeben wurde zwischen Spessart, Blasweiler, Staffel, Vinxt, Schelborn und Ramers-bach von Mund zu Ohr, von Geschlechtern zu Geschlechtern — Schäferklaes hielt es für wahr.

Unter der vulkanischen Erde, unter Gesteinsschichten und Schieferfelsen — wie mit Rönt-genaugen konnte Klaes die Schichten der Felsen, die Kruste der erstarrten Silikate durchdringen — unter der Erde lagen die Gräber der fremden Völker, die hier heimisch wurden, Grabstätten mit kostbaren Beigaben, Knochen in seltsamer Verkrümmung, Kammern mit Urnen voll Brandasche, Schmuck, Resten von Gewändern, Spangen, Ketten, vollendet geformte Schalen, Becher und Krüge aus gebranntem Ton.

Unter der Erde lagen — selten entdeckt — kostbare kleine Statuen ihrer Götter; für alles hatten sie Götter, die Fremden. Unter der Erde lagen in vielfältigen Schichten Versteinerungen von Pflanzen und Getier, Reste eines gewaltigen Meeres, das einst alles bedeckte. Unter der Erde lagen Fliesen, gebrannter Ton, Scherben, winzige, glänzende Mosaiksteinchen, zusammengefügt zu Girlanden, Fabeltieren, Menschengesichtern und zu geheimnisvollen Zeichen in mühseliger, kunstvoller Arbeit.

Schäferklaes wußte, wo man die Spuren vergangener Zeiten finden konnte, doch seine Schweigsamkeit rettete Krüge, Gräber, Mosaiken, Fibeln, Ringe, Ketten und kleine Totenmale vor dem Zugriff der Ausgräber, der Besessenheit der Ans-Licht-Zieher, der Entblößer, die ständig redeten in manischer Geschwätzigkeit, nie hörten, wenn die Waldorgel rauschte, Bäche strömten, Wind durch Wacholdersäulen pfiff, Häher schrien, ganz zu schweigen von den Signalen der Erde, seltsamen Geräuschen, die durch Kalkstein, Grauwacke, Basaltkegel Mutterboden und Wiesenkrume nach oben drangen.

Besitz

Nichtsahnend sind sie alle, stille Freude und Ingrimm des Schäfers zugleich — die ihn von weitem grüßen, die einen Bogen machen um ihn, die es mit ihm nicht verderben wollen, denen er gleichgültig ist, die über ihn lachen, den Schäferklaes, Sonderling, Besprecher, Ausbeter, Einspänner, den Einsiedler im schmalen Schöferskärrche mit dem Durchdringeblick aus verdunkeltem Auge. Wenn er spricht ist es, als richte er seine knappen Worte nach innen, als wollte er nie mehr als nötig von der Fülle, die in ihm lebte nach außen dringen lassen, sein Besitz, behütet durch die Rituale seiner Schweigsamkeit. Wie sie sich irren, sie, die da meinen, seine Gedanken kreisen nur um die Herde, um Kastor und Pollux, um die alten Geschichten von Gnomen, Hexerei, Sagen, Verzällchen, siebtes Buch Mose, Viehkrankheiten und Heilung. Niemand kennt die Fülle seines wirklichen Besitzes an Gedankenreichtum, Wissen um Geheimnisse, die seltsame Sprache seiner Stummheit, die Welten, in denen er atmet und denkt, grübelt, Worte findet, sie aneinanderfügt, wählt, verwirft, bis sie sich eingegraben haben in seinem Bildergedächtnis, Setzungen und Verse, die er in der Nacht aufschreibt bei Petroleumlampenlicht in steiler Sütterlinschrift.

Sturm

Untrügliche Anzeichen hat der Himmel gesetzt, Signale in der unendlichen Weite der Ultramarinkuppel, leicht verhüllt vom Gespinst dünner Zirren — der Schäfer wußte sie zu deuten, prüfte die Richtung, aus der der Wind wehte, pflockte sein Schöferskärrche mit Pfählen und Stricken gegen Westen an. In Gedanken verfolgte er den Weg des Sturmes vom Meere her, sah gewaltige Fronten, aufeinander zustoßend, riesige Wirbel am Firmament, Malstrom im Tintenblau, Unaufhörlichkeit stärker werdender Bewegung, Freisetzen ungeheuerlicher Kräfte, ins Land einbrechend über die große Ebene im Norden, fort über Bergketten, Wälder, Städte, Kathedralen, Flüsse, Vulkane, Maare bis hierhin, jagend über die Eifelberge hinweg.

Schreiben

Die Einsamkeit ist mein Kleid, mein Mantel, meine Hülle, sagt der Schäfer. Immer, wenn fremde Geräusche meine Stille stören, wird diese Hülle durchbrochen, hält sie nicht mehr Sturm, Regen, Hagel und Kälte ab. Am liebsten möchte er sich immer tiefer in die Dämmerungen unberührter Bereiche verlieren, dorthin, wo der Sturm im Ästegewirr zum Flüstern wird, wo noch der Atem der Zeiten weht, wo die Einsamkeit Brücken setzt zu Sprüchen, Formeln und Beschwörungen vor dem Beginn der verlorenen Nacht.

 

Er spricht mit niemandem darüber, hütet seine Geheimnisse, Gedankenwirrsale und Wünsche wie eine Herde, diese vielen Bilder, Gesichte, Worte, ein schwieriges Geschäft, so meint er, da ihm die Hunde fehlen, das unruhige Volk zusammenzuhalten. Dieses Gedankenvolk wimmelt und drängt, sich zu zerstreuen in alle Winde. Er aber, der Schäfer, muß sie festhalten, bannen, einritzen im Gedankenspeicher, um sie später in der Weglosigkeit der Nacht bei blakender Lampe in seinem Trojanischen Pferd — so nennt er die Karre — in sehr ordentlicher Kaiserschrift in sein Heft zu schreiben.

Er setzt jedesmal ein seltsam verschnörkeltes Finis, wenn er seine Gedankenherde in den Pferch getrieben hat — so glossiert Schäferklaes sein unermüdliches nächtliches Schreiben.

Auf der letzten Seite steht in festen Schriftzügen eine Art Bekenntnis: 

»In der undurchdringlichen Hecke des Schwarzdoms 
schlafen die Häher. Ich lebe mit ihnen im Würfel meiner Karre 
Und singe meine Lieder nach innen. 
Alle sollen sie hören, 
Die die Sprache der Wälder verstehen.. .«