Die Amtskette

Werner Keller

Mit der Währungsreform im Jahre 1948 wurde eine Entwicklung eingeleitet, die später, besonders durch das Ausland, als das »Deutsche Wirtschaftswunder« bezeichnet worden ist. Über Nacht füllten sich die Läden mit Gütern und Erzeugnissen, die man in den Jahren der größten wirtschaftlichen Krise von 1945 bis 1948 nur auf dem schwarzen Markt gegen Wertsachen, Zigaretten, Wein und andere Mangelwaren tauschen konnte. Mit der Währungsreform war auch das Ende dieser Tausch- und Zigarettenwährung gekommen. Der sogenannte schwarze Markt brach buchstäblich über Nacht zusammen. Der Wiederaufbau der zerstörten Städte und Dörfer sowie des Verkehrsnetzes, um nur einige Beispiele zu nennen, begann erst zögernd, beschleunigte sich aber unvorstellbar. Für die freie Wirtschaft begann zwar eine Zeit der Blüte, aber die Wirtschaftsunternehmen waren meist unterfinanziert; denn mit Ausnahme der Aktiengesellschaften, deren Aktien eins zu eins umgestellt wurden, hatten alle anderen Wirtschaftsunternehmen, gleich in welcher rechtlichen Form sie geführt wurden, ihr Kapital verloren. Ihre einzigen Guthaben waren neben dem Anlagevermögen die Warenbestände, die sie über die Währungsreform hinübergerettet oder auch gehortet hatten.

Der Fremdenverkehr, ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor im Ahrtal, lag am Boden. Wein war wegen anderer Ansprüche der Menschen, die nun befriedigt werden konnten, nicht mehr so gefragt wie in der »Maggelzeit«, wie die Notjahre genannt wurden.« Der Übergang von 1948 auf 1949 war für Weinbaubetriebe, Weinhandlungen und alle gewerblichen Unternehmen, die unmittelbar oder mittelbar, ganz oder teilweise vom Fremdenverkehr lebten, eine harte Zeit.

Etwa zur Jahreshälfte 1949 belebte sich der Fremdenverkehr langsam, aber stetig. Die Gäste kamen, besonders über das Wochenende, mit Autos, Motorrädern, Fahrrädern und mit der Eisenbahn, hier vor allem mit Sonderzügen aus dem Ruhrgebiet.

Die Bergleute waren zu dieser Zeit die »Bestverdiener«, da die Kohle als Energieträger unter »Dringlichkeitsstufe l« absoluten Vorrang genoß. Andererseits suchten die Bergleute, die vor Ort hart arbeiten mußten, Ausgleich von der Arbeit. Die Freizeitindustrie war noch nicht groß entwickelt. So kam es, daß ganze Sonderzüge von »Püttleuten« an die Ahr fuhren. Auch ein »Hauer vor Ort«, von dem hier die Rede sein wird, war mit einem Sonderzug über das Wochenende an die Ahr gekommen und hatte Quartier bei einer Winzerfamilie bezogen, die ihn liebevoll versorgte und betreute. Die erste Begegnung war so herzlich für alle Beteiligten, daß das Wiederkommen des Püttmanns beschworen wurde.

Der Püttmann nahm jede Gelegenheit wahr, die sich ihm bot, um an die Ahr zu fahren. Aus der Bekanntschaft mit der Winzerfamilie wurde eine Dauerfreundschaft, in die auch die Frauen einbezogen wurden. Es war selbstverständlich, daß das Ehepaar aus dem Ruhrgebiet auch zum Winzerfest an die Ahr kam. Die Winzerfeste, über mehrere Tage ausgedehnt, hatten und haben auch heute noch ein umfangreiches Programm. Zu den Höhepunkten zählt zweifellos die Eröffnung des Weinbrunnens, meist am ersten Tag des Festes, und der Winzerfestzug, der am Sonntag durch den Ort geht.

Unser Püttmann und sein Winzerfreund von der Ahr hatten zum Zeitpunkt der Eröffnung des Weinbrunnens durch den Bürgermeister der Gemeinde »ihr Soll an Ahrburgunder« fast erfüllt.

Bei der Eröffnung durch den Bürgermeister beanstandete der Ruhrkumpel, daß der Bürgermeister keine Kette um den Hals trage.

Zu der althergebrachten Amtstracht gehört nun einmal bei den Bürgermeistern und den Rektoren der Universität die Amtskette, die bei feierlichen Anlässen getragen wird. Der Ruhrkumpel war gewohnt, daß sein Oberbürgermeister bei feierlichen Veranstaltungen mit der Amtskette erschien, seine Amtshandlungen vollzog und auch seine Reden hielt, wie er mit Nachdruck betonte.

Daß der Ortsbürgermeister des Winzerdorfes an der Ahr so ohne jedes Zeichen seiner Würde erschien und den Weinbrunnen eröffnete, ging dem Bergmann daher gegen den Strich. Er kam immer wieder in seinen Gesprächen auf das Fehlen der Kette zu sprechen und versuchte seinen Freund, den Winzer dazu zu bewegen, daß er etwas unternehmen solle, damit auch der Ortsbürgermeister künftig bei solchen Anlässen mit der Amtskette erscheine. Der Winzer von der Ahr, der zum erstenmal in seinem Leben etwas von einer Amtskette gehört hatte, nahm die Überlegungen seines Freundes nicht so ernst und wäre froh gewesen, wenn dieser endlich das Thema gewechselt hätte.

Nach einer kurzen Weile des Schweigens wechselte der Bergmann tatsächlich das Thema und man sprach von anderen Dingen. Doch wie aus heiterem Himmel, fragte der Kumpel den Winzer in weinseliger Stimmung: »Nun sag doch mal, warum hat denn Euer Bürgermeister keine Kette um den Hals?«

Der Winzer, gut aufgelegt, antwortete mit aller Gelassenheit und einem Lächeln »Ohse Bürjemester oss net esu jefährlich wie Ühre Oberbürjemester, mir lossen de ohse frei erömm lofe, nu weste dat«.

Der Ruhrkumpel, sprachlos, schaute seinen Freund lange an und sagte: »Wiederhol das nochmal!« Der Winzer tat ihm den Gefallen. Nach langer Pause und einem Gesicht, das darauf schließen ließ, der Bergmann überlegte, sagte der: »Woll, so wird dat woll sein«.