Odo Casel (1886 - 1948) zum Gedächtnis

P. Dr. Emmanuel v. Severus OSB

Über den Benediktiner der Abtei Maria Laach und deren bedeutendsten Theologen seit ihrer Wiederbesiedlung im Jahre 1892, P. Odo Casel, schrieb 1967 der damalige Theologieprofessor J. Ratzinger, er habe der Welt die »vielleicht fruchtbarste theologische Idee unseres Jahrhunderts« geschenkt. So ist es verständlich, daß seine Mitbrüder den 100. Geburtstag des gelehrten Mönches am 27. 9. 1986 zum Anlaß nahmen, zu fragen, wie diese fruchtbare theologische Idee sich ausgewirkt habe, ob sie noch lebendig, der Frömmigkeit in unserer Zeit, die so viel von Krisen und Erschütterungen spricht, nahe und hilfreich sei. Begegnen wir den Gedanken Odo Casels etwa im Gottesdienst unserer Pfarreien heute? Neben den Problemen der Theologen und den Fragen der Seelsorger darf aber in einem Heimatbuch nicht vergessen werden, daß Odo Casel ein Sohn des Koblenzer Landes war -einer Landschaft, die sich im 19. Jahrhundert von überraschend reicher geistlicher Fruchtbarkeit erwies. Da gab es den einfachen Schornsteinfeger und Gründer einer geistlichen Gemeinschaft Peter Friedhofen (1819-1860), den die Kirche zur Ehre der Altäre erhob. Da gab es auch Männer wie den späteren Erzbischof von Köln und Kardinal Philipp Kre-mentz (1819-1899). Odo Casels Leben begann - wie sollte es anders sein - am 27. 9. 1886 im Alltagsrahmen der damaligen Zeit: Da erschien der am Bahnhof Lützel als Bremser bei den Rheinischen Bahnen angestellte Hermann Roland Casel auf dem Standesamt Co-blenz-Land und zeigte an, daß »in seiner Wohnung zu Coblenz-Lützel von seiner Ehefrau Katharina geb. Runkel ... ein Kind männlichen Geschlechts geboren wurde, das die Vornamen Johann Herman erhalten habe«. Laut Adreßbuch des Jahres 1886 wohnte der Bremser Casel im Hause Lützel Nr. 33, dessen Lage sich aber heute nicht mehr feststellen läßt. Daß das Kind am 30. September 1886 in der Kirche zu Liebfrauen getauft wurde, war eine Folge der Pfarrgrenzen dieser Zeit. Der Koblenzer Vorort Lützel war noch nicht in einem eigenen Pfarrbezirk zusammengefaßt, sondern gehörte zur Koblenzer Pfarrei Liebfrauen. Mündlicher Überlieferung zufolge hat der Eisenbahner Hermann Roland Casel, nunmehr königlich preußischer Lokomotivführer, nach 1892, vermutlich ab 1894, in der 1889 angelegten und seit 1890 als Eltzerhofstraße bezeichneten Straße im Hause Nr. 6 gewohnt. Noch 1920 besuchten Kindheitsgespielen aus den Jahren 1895 den nun als Mönch in Maria Laach lebenden Jungen aus der Eltzerhofstraße 6. Aber auch dort wohnte die Familie Casel nicht lange, denn der Vater wurde nach den ersten Jahren des Grundschulbesuchs seines Sohnes 1896 in das damals zur Rheinprovinz gehörende Malmedy versetzt, um schließlich nach weiterer Beförderung zum Zugführer 1899 nach Ander-nach am Rhein zu kommen. Dort bewohnte er mit seiner Familie das »Haus Weiler« in der Bahnhofstraße 8, ein Haus, das heute noch erhalten ist, damals freilich die Nr. 7 hatte und zu den von der preußischen Eisenbahnverwaltung bevorzugten Wohnhäusern gehörte. Mit dem Wohnort Andernach war auch die Nachbarschaft zu Maria Laach gegeben und dort machte der Abiturient Casel 1905 auch bei seinem späteren Novizenmeister P. Martin Raßler im April 1905 Exerzitien. Wenn man auch annehmen darf, daß sie der Berufsklärung dienen sollten, so fiel die Entscheidung des jungen Mannes zunächst für ein Studium in Bonn, wo er für das Sommersemester 1905 Vorlesungen in klassischer Philologie belegte. Aber dieses Semester war doch von größter Bedeutung für den jungen Studenten: Er lernte hier die Arbeitsbereiche und Arbeitsmöglichkeiten kennen, in denen er einige Jahre später nach abgeschlossenem Theologiestudium sein Zweitstudium aufnehmen sollte - an einer Fakultät und in einem Seminar für klassische Philologie, das mit Stolz auf eine hervorragende Tradition und ausgezeichnete Köpfe in der Reihe seiner Mitglieder zurückblicken konnte. Entscheidend aber war, daß er in diesem Semester dem Laacher Mönch begegnete, der später als Abt von Maria Laach dem Lebenswerk Odo Casels neben dem Raum zu seiner Entfaltung so fruchtbare Anregungen mitgab, daß man - um ein Bildwort zu gebrauchen -von einer glückhaften Konjunktion der Gestirne sprechen kann: P. lldefons Herwegen, der im Studienhaus der Laacher Benediktiner in der Beethovenstr. 40 wohnte und an der Universität dogmen- und rechtsgeschichtlichen Studien oblag. So entschloß sich nun der junge Student doch zum Eintritt in die Laacher Mönchsgemeinschaft. P. Martin, sein Exerzitienprediger vom April, konnte ihm Ende August mitteilen, daß er ihn als Novizenmeister am 2. September in Maria Laach erwarte. Nach Ablegung seiner Mönchsgelübde und kurzem Studium in Laach konnte er ab Herbst 1908 sich in Rom theologischen Studien widmen, die er im Sommer 1913, mit dem Doktorgrad ausgezeichnet, abschloß. Das Doktordiplom, das er aus diesem Anlaß am 29. Juni 1913 erhielt, trägt die Unterschrift seines bisherigen Abtes, des Freiherrn von Stotzingen, der im Mai dieses Jahres Koadjutor des Primas der neu entstandenen Benediktinerkonföderation geworden war. Das dogmengeschichtliche Thema seiner Doktorarbeit, die 1914 im Druck erschien, zeigte bereits an, welchen Gebieten sich in Zukunft Aufmerksamkeit und Arbeitseifer des Theologen Casel zuwenden sollte. Ging es in der Dissertation zunächst um eine solide Darstellung der Eucharistielehre des Martyrerapologeten Justinus (+  um 165 in Rom), so verdichtete sich die Begegnung mit diesem Heiligen und die eigene Erfahrung des Mönchspriesters in der Eucha-ristiefeier zu dem elementaren Erlebnis: im Gottesdienst der Kirche ist Christi Gegenwart das entscheidende Ereignis. Hier hören wir sein Wort nicht in der Gestalt einer Reportage längst vergangener Zeiten, sondern er selbst ist es, der zu uns spricht und den wir so lebendig hören, daß wir uns nicht nur in die Rolle der Zeitgenossen des Jesus von Nazaret versetzen können, sondern seine Zeitgenossen sind. Da er aber in seiner Kirche das Wort wahr macht, bei den Seinen zu sein und in ihrer Mitte Wohnung zu nehmen, kann diese Wirklichkeit auch so beschrieben werden: als der auferstandene Herr ist Christus unser, der Menschen des 20. Jahrhunderts Zeitgenosse. Diese Gegenwart des Herrn wird zum zentralen Thema allerfolgenden Arbeiten Casels. »Heilsgegenwart« ist darum das in vielen Dokumenten der Kirche unserer Jahrzehnte und in den Arbeiten der Wissenschaft immer wiederholte Stichwort. Dabei ging es Odo Casel freilich nie nur um das Wort Gottes, sondern vor allem auch um sein Handeln, nicht nur um die wahre und wirkliche Gegenwart von Christi Fleisch und Blut im Sakrament des Altars, sondern um die Gegenwart des in unserer Mitte handelnden Herrn. Unsere Bemerkungen sind gewiß vereinfachend und lassen die unermüdliche und durch viele, z. T. kämpferische Auseinandersetzungen belastete Arbeit um Casels Lehre kaum ahnen. Aber Casels Theologie des Gottesdienstes überzeugte und wirkte um so mehr anregend und fruchtbar in das Leben unseres Jahrhunderts hinein, weil er selbst nicht nur ein tiefer Denker, sondern vor allem auch ein frommer Mönch und als Mensch eine Persönlichkeit wie »aus einem Guß« war. Daß seine reichveranlagte Natur eine so tiefgreifende Wirkung ausübte, lag sicher auch an der Aufgabe, die Abt lldefons Herwegen ihm schon drei Jahre nach Abschluß seines Bonner Zweitstudiums 1922 zuwies: Er wurde als Spiritual in das Benediktinerinnenkloster Herstelle an der Weser gesandt, um dieser Frauengemeinschaft in einer sehr entscheidenden Phase ihrer Entwicklung, nämlich ihrer Eingliederung in die Beuroner Benediktinerkongregation, als Seelsorger zu dienen. Die Aufgabe, diese klösterliche Gemeinschaft als Gemeinde Christi aufzubauen, forderte ihm zwar ein großes Maß an Arbeit ab, aber sie entsprach seinem Wesen: Odo Casel war weder ein Schreibtischtheologe noch ein Publizist, der auf Leistung und Anerkennung in einer Vielzahl von öffentlichen Vorträgen aus war. 

P. Odo Casel OSB

Er war vielmehr still und bescheiden, er liebte die Kinder des Dorfes Herstelle und war aller Kreatur in seiner bäuerlichen Umgebung fast naiv zugetan. Wenn er im Wesertale ein stilles und in mancher Beziehung durch Monate hindurch einsames Leben führte, so war er nach den Worten des Laacher Chronisten St. Hilpisch doch »frei von jeder Enge; er stand mit Gelehrten des In- und Auslandes in Beziehungen, er unterhielt Korrespondenz und persönliche Verbindung mit gebildeten Katholiken wie Protestanten, nur wo ihm das gottfremde Diesseits und Unglaube begegnete, war er ablehnend.« Die für das Frauenkloster in Herstelle P. Odo gestellte Aufgabe bot ihm ohne Zweifel ein seinem Naturell ideal angepaßten und günstiges Arbeitsklima, das ihm über manche Mängel im Arbeitsinstrumentarium hinweghalf. Sein Abt schuf aber auch die Möglichkeit, die Ergebnisse seiner Arbeit darzustellen und zu veröffentlichen. Die Buchreihe »Eclesia orans«, von Abt Herwegen 1918 begründet, brachte in ihren Bändchen 2 und 9 zwei für das Denken des Theologen Casel typische und für seine Entfaltung klassische Schriften: »Das Gedächtnis des Herrn in der altchristlichen Liturgie. Die Grundgedanken des Meßkanons« (Freiburg 1918) und »Die Liturgie als Mysterienfeier« (Freiburg 1922), zwei Bücher, die in vielen kleineren Artikeln ergänzt und im »Jahrbuch für Liturgiewissenschaft«, dessen Herausgabe Casel 1921 übernahm, in ausführlichen und gelehrten Untersuchungen begründet wurden. Es war ferner die Herausgeberschaft, Redaktion und ständige Beitragsarbeit an diesem Jahrbuch, die Casel in einem dauernden und lebendigen Austausch mit der Mönchsgemeinschaft am Laacher See erhielt, man konnte glauben, er habe nie von ihr entfernt gelebt. Wenn die Kirchenbesucher seit dem Reformwerk des Zweiten Vatikanischen Konzil landauf, landab in den städtischen Ballungszentren ebenso wie in Winzer- und Walddörfern, in den Kur- und Tourismusgebieten im Gottesdienst die Gebetsformeln vom »Gedächtnis begehen«, das »Geheimnis feiern« hören, wenn der ungeschulte Lektor noch gelegentlich über Ausdrücke wie »Pascha« ins Stottern gerät, dann bewegt er sich in der Gedanken- und Sprachwelt, die Odo Casel aus dem Schatz der »Betenden Kirche« seit Jahrtausenden den Menschen unserer Zeit wieder erschlossen hat. Odo Casel wäre nicht traurig, wenn er erführe, daß sein Name in diesem Zusammenhang kaum mehr genannt wird. Aber er würde in der tätigen und bewußten Feier des Gottesdienstes in unseren Gemeinden, die nicht mehr »die Messe hören« oder ihr »beiwohnen«, die Welt wiedererkennen, in der er gelebt hat. Die Erfahrung, daß der Herr in seiner Gemeinde spricht und handelt, wenn sie Gottesdienst feiert und mit ihm handeln und ihm antworten darf, die ihn als jungen Mönch erfüllte, ist Allgemeingut geworden. Der Auftrag der Kirche, das Erlösungswerk Christi weiterzuführen und zu vollenden, hat infolge seiner Anregungen die Theologie aus einem erstarrten System in spekulativen und abstrakten, oft auch nur rechtlich und soziologisch abgegrenzten Begriffen zu ihrem ursprünglichen Sinn aufgebrochen: Lobpreis Gottes zu sein.

Was auf diesen Blättern nur mit wenigen Sätzen angedeutet werden konnte, ist allein begreiflich in jener tiefen Glaubensatmosphäre, in der Casel lebte. Als er die Glaubensfeindlichkeit des Dritten Reiches erkannte, gab er seiner Ablehnung bald kompromißlos Ausdruck. So unterschrieb er 1940 den von dem von den Nationalsozialisten durch ein Bluturteil ermordeten Dr. Metzger, des Gründers der Meitinger Christkönigsgesellschaft, verfaßten Aufruf um das Gebet für die Einheit der Christen. So schloß er oft das Gebet des Vater-Unser an den zahlreichen Wegkreuzen des Weserberglandes mit der für seinen Begleiter drollig gemurmelten Bemerkung: »An dem (nämlich am Gekreuzigten) werden sie alle (nämlich Hitlers Genossen) noch kaputtgehen«. So erzählte er manchmal allzu unbekümmert Nachrichten, die er nur aus ausländischen Quellen gehört haben konnte.

Odo Casel starb nach einem Schlaganfall, den er in der Osternachtfeier erlitten hatte, am Ostermorgen, dem 28. März 1948. Die Klostergemeinden von Herstelle und von Maria Laach empfanden diese Sterbestunde als Besiege-lung eines Lebens, dessen Kräfte der Sinndeutung des Osterfestes und von dieser Mitte ausgehend des gesamten christlichen Gottesdienstes geschenkt waren. Aber es ist mehr: ein lebenskräftiges und lebenweckendes Zeugnis. Und darum gedenkt man 1986/87 dieses Mannes, der 1886 geboren, ganz im Dienste der Kirche glaubte und lebte.