Nierendorf im Zweiten Weltkrieg

Eine Chronik aus schwerer Zeit Ottmar Prothmann

Tagebuchaufzeichnungen und zeitgenössische Chroniken vermitteln für den lokalen Bereich ein viel genaueres Bild ihrer Zeit als eine spätere Aufarbeitung der Geschichte dies zu leisten vermag, denn sie enthalten Schilderungen von Ereignissen und Zuständen, die sonst nicht überliefert sind. Sie zeigen die tatsächlichen Auswirkungen der „großen Politik" auf den engeren Lebensbereich der Menschen, und sie beschreiben nicht zuletzt die Gedanken und Gefühle der Betroffenen, wie sie später Geborene nur unzureichend nachempfinden können. Der kleine Ort Nierendorf im östlichen Teil der Gemeinde Grafschaft ist in der glücklichen Lage, gleich zwei solcher, parallel von den Lehrern und Geistlichen geführten Chroniken zu besitzen. In ihrem Umfang, besonders aus der Zeit des Dritten Reiches, dürften sie im weiten Umkreis beispiellos sein.

Eifrigster Chronist war Pastor Johannes Häbler, der im Oktober 1933 die Vikariestelle in Nierendorf antrat und dort bis zum Jahre 1963 blieb. Obwohl erst 54 Jahre alt, kam er doch als Ruhestandsgeistlicher hierhin, da seine schwächliche Gesundheit ihm nicht mehr erlaubte, eine eigene Pfarrei zu leiten. Die seelsorgerische Betreuung des 289 Seelen zählenden Dorfes ließ ihm viel freie Zeit, die er dazu nutzte, ein persönliches Tagebuch, eine Kirchen- und Dorfchronik sowie andere Aufzeichnungen zu führen. Mit dem Eifer eines Chronisten, der seine Umwelt oft schärfer wahrnimmt als seine Mitmenschen, beobachtete er alles, was um ihn herum vorging. So füllte er mit fast täglichen Eintragungen Blatt für Blatt. Für die Zeit des Dritten Reiches von 1933 bis 1945 sind dies allein über 500 Seiten. Durch diese Fülle und Dichte der Informationen entsteht ein eindrucksvolles Bild von den Verhältnissen in Nierendorf zu jener Zeit. Aus dieser Chronik soll nachfolgend ein kurzer Abriß für die Jahre des Zweiten Weltkrieges wiedergegeben werden.

Beginn des Krieges

Nachdem schon im September 1938 ein Krieg wegen der sudetendeutschen Frage drohte, aber durch die Vier-Mächte-Vereinbarung noch einmal abgewendet werden konnte, verschärft sich ein Jahr später die politische Lage erneut aufs äußerste. Am 26. August ist vormittags bis zehn Uhr der Strom abgeschaltet. Deshalb kann man kein Radio hören. Der Verkehrsbus kommt nicht, stattdessen klebt ein Anschlag auf dem Fahrplan, daß der Bus infolge besonderer Anordnung vorläufig nicht fahren werde. Die ersten Männer werden zu den Waffen gerufen. Anders als zu Beginn des Ersten Weltkriegs herrscht im Dorf eine deprimierte Stimmung. Man hört schreckliche Schimpfereien mit Ausdrücken „wie sie in keinem Lexikon stehen". Am 28. August sind bereits 20 Männer eingezogen. Den Kriegsbeginn mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen am 1. September erlebt Häbler nicht in Nierendorf, da er am 31. August zu seiner sterbenden Mutter in den Hunsrück gerufen wird.

Als er zurückkehrt, findet er in Nierendorf ein einquartiertes Feldlazarett vor. Dieser ersten zahlenmäßig noch geringen Einquartierung folgen bis zur Beendigung des Frankreichfeldzugs im Juni des folgenden Jahres noch sieben weitere. Die nächste beginnt am 18. Oktober 1939 mit 192 Soldaten, meistens Ost- und Westpreußen, und 178 Pferden, die zur Schwerartillerie gehören. Sie haben den Polenfeldzug mitgemacht. Auf sie folgen am 5. November bayerische Gebirgspioniere, 450 Mann mit 170 Maultieren. Das Dorf mit seinen 70 Familien ist wie in einem Belagerungszustand. Feldgrau beherrscht Straße und Haus. Die Nierendorfer verschwinden unter der Zahl der Soldaten, die aber nicht allein gekommen sind, denn junge Frauen aus den früheren Quartierorten Lengsdorf und Röttgen bei Bonn sind ihnen gefolgt.

Die Busse nach Bonn und zurück sind immer vollbesetzt.
Am 5. Dezember ist die Einquartierung beendet, doch der alte Dreck ist noch nicht weggefegt, da treffen schon neue Quartiermacher im Dorf ein. Fast pausenlos folgt nun eine militärische Einheit der anderen. Die Bewohner müssen immer wieder eng zusammenrücken. Nicht alle empfinden diese Einschränkungen als Belastung, manche Freundschaft und manche Liebesbeziehung entsteht in dieser Zeit. Für die Kinder bedeuten diese Monate sogar eine abenteuerliche Zeit. Sie halten sich den ganzen Tag beim Militär auf und sind überall mit der Nase dabei, wo es etwas zu sehen gibt. Wochenlang fällt der Schulunterricht aus.

Unterdrückung der Kirche und Deportierung der Juden

Unter den Auswirkungen des Krieges leidet auch das kirchliche Leben, besonders in den letzten Kriegsjahren. Da die Bewohner nicht selten wegen der dauernden Luftgefahr durch feindliche Flieger nachts nicht zur Ruhe kommen, werden die Werktagsgottesdienste nicht mehr so zahlreich wie früher besucht. Einschränkung des Läutens, Einberufung des Küsters und Organisten, Verdunkelung, Ablieferung von Kirchengerät und aller Glocken sowie ein Zusammenschrumpfen des Kirchenchors infolge der eingezogenen Männer sind weitere Belastungen in jenen Jahren, die aber nicht so schwer ins Gewicht fallen wie die Einengung des kirchlichen Lebens durch die Nationalsozialisten, die schon nach der Machtübernahme begonnen hatten, den Einfluß der Kirche zurückzudrängen und sie schließlich ganz beseitigen wollen. Als Priester erlebt Häbler diese Bekämpfung viel intensiver als die übrigen Gläubigen. Ab 1. September 1937 darf er in der Schule keinen Religionsunterricht mehr erteilen, im Mai 1939 wird das Kreuz vom Amtsbürgermeister persönlich aus dem Klassenraum geholt, und nach Kriegsbeginn werden die Prozessionen untersagt, etliche kirchliche Feiertage abgeschafft und schließlich Ende 1941 alle kirchlichen Sonntagsblätter, Vereinszeitschriften und Kalender verboten, nachdem die Pfarrnachrichten und das Bistumsblatt schon seit 1938 nicht mehr erscheinen dürfen. Entsprechend den bischöflichen Anweisungen scheint Häbler sich in seinen Predigten mit seiner persönlichen Meinung zurückgehalten zu haben, um sich nicht in Gefahr zu begeben. Doch die vom Bischof herausgegebenen Hirtenworte, wie beispielsweise das zu Ostern 1942 von allen Kanzeln verlesene, sprechen eine deutliche Sprache: „Seit Monaten geht, ungeachtet der Kriegsnot, eine widerchristliche Propagandawelle durch das Land mit dem klar erkennbaren, ja oft  ausgesprochenen Ziel, die Lebenskraft der katholischen Kirche im deutschen Land zu ersticken und das Christentum in Deutschland zu vernichten."

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Einquartierte schwere Artillerie im Oktober 1939. Ein 15 cm Geschütz,
das zur Deckung in den Wald gezogen werden soll, ist am Americh vom Weg abgerutscht.

Auch wenn Pastor Häbler von Jahr zu Jahr mehr über die nachlassende Religiosität und Kirchlichkeit der Dorfbewohner klagt, bleiben doch die Nierendorfer ihrer Kirche treu. Nimmt man die Beteiligung an den Gottesdiensten als Gradmesser für kirchliches Leben, so ergibt sich kaum ein Anlaß zu Klagen, denn die Sonntags-wie die Werktagsmessen werden weiterhin gut besucht. Im Jahre 1940 beteiligen sich an der Sonntagsmesse durchschnittlich 160, an den nachmittäglichen Andachten 80 und an den Werktagsmessen rund 40 Personen. An manchen Tagen, wie am Fest der heiligen Familie, dem 11. Januar 1940, zählt Häbler 188 Besucher. Zu Hause bleiben nur die 22 Kleinkinder und 16 Erwachsene, die entweder krank sind oder auf die Kinder aufpassen müssen.

Im Dorf lebt seit vielen Generationen eine kleine Gruppe jüdischer Bewohner. Zuletzt ist es die Familie Emilie und Heinrich Jakob mit ihren drei Söhnen, die bis zur Nazizeit im Dorf gut integriert sind, auch wenn immer ein gewisser Abstand bleibt, da sie am kirchlichen Leben, das im Dorf eine große Rolle spielt, nicht teilnehmen können. Ihren Lebensunterhalt bestreiten sie durch eine Gastwirtschaft, eine Kolonialwarenhandlung und einen Viehhandel. Nach der Machtergreifung beginnt ihr Leidensweg. Häbler beschreibt in seinem persönlichen Tagebuch, wie in der Kristallnacht 1938 ihr Haus von einem aus SS- und SA-Männern bestehenden Rollkommando gestürmt und verwüstet wird. Im April 1942 müssen sie sich mit allen anderen Juden der Umgebung im Sammellager auf Burg Brohleck bei Brohl einfinden, um von dort abtransportiert zu werden. In Köln wird die Familie voneinander getrennt und weiter gebracht. „Ein Ereignis, das seit Jahrhunderten nicht mehr geschehen." Ein Mann aus dem Dorf, der die Familie auf ihre Bitten hin nach Brohl bringt, erzählt, daß sie sich beim Verlassen des Hauses die Haare gerauft hätten und wie von Sinnen weinend durch die Zimmer gegangen seien, klagend und jammernd, daß sie nicht mehr das Haus zu sehen bekämen und dem Hungertod entgegengehen würden. Am Ende der Aufzeichnungen notiert Häbler: „Man hört nichts mehr von ihnen. Ob sie noch am Leben sind und wohin sie gekommen sind, wer weiß?"

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Haus der Witwe Oehl in Niedernierendorf (Johannes-Häbler-Straße 43),
das im Februar 1945 beim Absturz eines Flugzeuges zerstört wurde.

Fortgang des Krieges

Unmittelbar nach Kriegsbeginn folgen die ersten Kriegsmaßnahmen, Verdunkelungspflicht, Luftschutzübungen und Ausgabe von Lebensmittelkarten, aber außer diesen und weiteren Auswirkungen des Krieges erleben die Bewohner von Nierendorf monatelang keine unmittelbaren Kriegshandlungen. Erst am 10. Juni 1940 vermerkt Häbler: „Jede Nacht hört man Flugzeuge über das Dorf hinwegsausen, ab und zu auch Bombeneinschläge, Sirenengeheul von Remagen." Ähnliche Meldungen folgen, doch bleibt das Dorf auch in den kommenden zwei Jahren noch verhältnismäßig ungefährdet. In der Nacht zum 15. April 1942 fallen dann im nahen Heppingen Bomben, sieben Scheunen werden zerstört. In Neuenahr sind es jedoch fünf bis sechs Wohnhäuser, und sieben Menschen kommen ums Leben. Die Angst nimmt zu. Josef Braun ist der erste, der unten am Bach einen Erdbunker baut, ein kellerartiges Loch, primitiv zugedeckt, was, nach Ansicht von Häbler, keinen Schutz, sondern eher eine Gefahr bedeutet, wenn viele darin sind. Doch weitere Familien folgen bald diesem Beispiel.

Die Angriffe auf die Städte verstärken sich im Frühjahr 1943, als es den Aliierten immer mehr gelingt, die Lufthoheit zu gewinnen. Unaufhörlich sind feindliche Flugzeuge in der Luft. Rundherum fallen Bomben. Selbst wenn die 35 Kilometer entfernte Stadt Köln bombardiert wird, spüren die Bewohner von Nierendorf die Auswirkungen. Oft wird auch hier ein Alarm gegeben, und viele Bewohner flüchten in die Keller, wie beispielsweise am 14. Februar 1943:

„Abends neun Uhr hört man die Sirene. Schon bald danach folgen Bombeneinschläge, die Hintertür rappelt ganz gehörig, und das ganze Haus gerät paarmal in Erschütterung, wie bei einem Erdbeben. Das Licht geht für eine halbe Stunde aus. Am folgenden Tag wird bekannt, daß Vororte von Köln, besonders Kaischeuren betroffen worden sind. So geht der Krieg weiter in Ost und West." Tagelang spricht man über die Ereignisse von Stalingrad. Der Krieg ist in ein Entscheidungsstadium getreten in den furchtbaren Abwehrkämpfen im Osten und der Einberufung vom 16. bis 60. Lebensjahr.

2. Juli: „Die Fliegerangriffe auf die Industriestädte halten an und richten unübersehbaren Schaden an, beim letzten Angriff wieder 15000 Obdachlose." Weitere Angriffe auf Köln in den nächsten Tagen zerstören die ganze Innenstadt. Leute, die durch die Stadt gegangen sind, haben kein Haus mehr gesehen, das noch in Ordnung war. Ein Strom von Obdachlosen zieht über die Straßen an Rhein und Ahr. Auch in Nierendorf suchen Ausgebombte aus Köln, Düsseldorf und anderen Städten eine vorläufige Unterkunft. Sie alle wissen Entsetzliches über die Verheerungen zu berichten, wie sie die Weltgeschichte noch nicht gesehen hat, und vermehren damit die Angst, die die Dorfbewohner ohnehin schon erfüllt.

Am 28. Juli 1943 werden Erntearbeiter bei Nierendorf mit Bordwaffen von einem feindlichen Flugzeug aus beschossen. Damit beginnt sich auch für Nierendorf eine neue Kampfführung auszuwirken, die in den folgenden Monaten jeden Aufenthalt im Freien gefährlich macht. Manche wagen es bald nicht mehr auszugehen. Alarm kann nicht immer gegeben werden. Ganz plötzlich sind die Tiefflieger da, man rennt in Deckung oder wirft sich auf den Boden. In Bölingen wird ein Mädchen bei einem solchen Angriff erschossen.

Gegen neun Uhr am 12. August 1943 ereignet sich ein Luftgefecht über Nierendorf. Ein amerikanischer Bomber stürzt ab, Rumpf, Tragflächen und Motoren fallen bei Leimersdorf in die Feldgemarkung, Trümmerteile landen auch zwischen den Häusern von Nierendorf. Drei Soldaten springen mit den Fallschirmen ab, ein Fallschirm öffnete sich nicht, der Soldat stürzt zu Tode, die beiden anderen werden in Kirchdaun und im Remagener Wald gefangengenommen. Fünf tote Amerikaner finden sich in der Flugzeugkanzel. „Einen schauerlichen Anblick bot die tote Mannschaft, eine Kriegsszene, wie sie sich jeden Tage zu Lande und zu Wasser abgespielt hat und noch täglich mehrfach wiederholt, wie aus dem Heeresbericht zu schließen ist." Am 5. März 1944 stürzt ein weiteres Flugzeug am Dorfrand von Nierendorf ab. Dieses Mal ist es ein deutsches, der Pilot kann sich mit dem Fallschirm retten.

Immer mehr verdüstert sich die Stimmung der Dorfbevölkerung. Am 13. September 1943 schreibt Häbler: „Man spricht wieder von Weissagungen aller Art. Ein Drittel der Menschheit werde sterben, im September gehe der Krieg zu Ende. Weihnachten werde der Frieden geschlossen." Ein Jahr später, am 14. September 1944, vermerkt er: „Die Berichte in den Tageszeitungen sind so niederschmetternd wie noch nie:

Der Hammer des Schicksals schlägt gegen uns. Verblutende Divisionen kehren zurück... Der Feind steht vor Aachen, das geräumt wird." Währenddessen lassen das unheimliche Rollen feindlicher Bomberverbände über dem Dorf, die Erschütterungen der Häuser durch Bombenabwürfe, die tieffliegenden Jagdflugzeuge und die täglich neuen Schreckensnachrichten die Menschen nicht mehr zur Ruhe kommen. Weltuntergangsstimmung breitet sich aus. Häbler zitiert aus einer nicht näher genannten Vorlage: „Wir stehen tatsächlich in der Endzeit. Nach uns kommt nichts mehr wesentlich Neues. Mit uns geht die Weltgeschichte zu Ende. Gott kommt auf uns endgültig zu."

Am 4. Oktober 1944, als man bereits den Geschützdonner von der näher rückenden Front hören kann, beginnen Vorbereitungen, den Vormarsch der Amerikaner aufzuhalten. Alle Bauern, die Fuhrwerke besitzen, werden aufgefordert, aus dem Wald dicke Stämme herbeizufahren, damit an den beiden Dorfeingängen Panzersperren gebaut werden können. Zur Verstärkung holt man zusätzlich Steinmaterial vom Americh und beginnt in den nächsten Tagen mit dem Bau dieser Sperren.

Am 12. November wird der Volkssturm, zu dem alle übriggebliebenen Männer von 16 bis 60 Jahren gehören, vereidigt. Birresdorf, Bengen und Nierendorf bilden zusammen eine Gruppe. Immerwiederwerden sie nun zum Schanzen an den Westwall befohlen oder zum Forträumen der Trümmer in den benachbarten Städten eingesetzt, wie zum Beispiel an den Weihnachtstagen, als Ahrweiler und Bachern schwer mitgenommen werden. In Sinzig sollen 65 Tote geborgen worden sein.

Das Jahr 1944 endet mit einem schrecklichen Unfall. Um die Mittagszeit am Silvestertag explodieren bei einer Übung der einquartierten SS-Einheit an der Südseite des Americhs etliche Handgranaten. 15 Soldaten sterben, weitere werden schwer verletzt. Auf dem Friedhof wird ein Massengrab ausgehoben.

Das letzte Kriegsjahr beginnt. Rundherum sind die Städte durch Bombenangriffe erheblich verwüstet. Von Remagen berichtet am 21. Januar der dortige Kaplan, als er um Aufnahme für eine sechsköpfige Familie bittet, daß die Stadt zu 90 Prozent zerstört sei.

Immer mehr werden auch die Dörfer durch Bomben bedroht. Bei einem dergroßen Angriffe auf Bonn am 4. Februar wird die ganze Grafschaft in Mitleidenschaft gezogen. Überall steht Rauch über den Ortschaften. In Fritzdorf brennen etliche Gebäude, und das spitze Dach des Kirchturms ist verschwunden. Zehn Tage später ereignet sich der bisher gefährlichste Vorfall in Nierendorf. Ein amerikanischer Jagdbomber stürzt neben dem Haus der Witwe Oehl in Nie-dernierendorf ab. Haus und Flugzeug sind ein einziger Trümmerhaufen. Wie durch ein Wunder kommt außer der Flugzeugbesatzung niemand zu Tode.

Dorfgeschehen

Währenddessen geht aber auch das normale dörfliche Leben seinen gewohnten Gang, wenn auch der Krieg viele Aktivitäten unterbindet und das gesellschaftliche Leben hemmt. Häbler berichtet von den großen und kleinen Nöten der Bewohner, dem viel zu frühen Tod von Kindern, vom Tod des alten Schuhmachers Joseph Merken, einer beliebten Persönlichkeit im Dorf, der viel von früher zu berichten wußte. Häbler bedauert, ihn nicht genug über die alte Zeit befragt zu haben.

Aber auch Außergewöhnliches passiert, wie das Auftreten eines Klopfgeistes oder die Geburt von weißen Schwalben, eine ornithologi-sche Seltenheit. Über drei Jahre, von 1941 bis 1943, werden im Stall der Witwe Sturm solche Schwalben ausgebrütet und locken Vogelliebhaber von weit her, sogar von Kevelaer, nach Nierendorf.

Die Arbeiten in der Landwirtschaft leiden von Jahr zu Jahr mehr darunter, daß die Männer zum Kriegsdienst eingezogen sind. Ein gewisser Ausgleich geschieht durch den Einsatz von Kriegsgefangenen. Zuerst sind es Polen und nach dem Feldzug gegen Frankreich Franzosen. Hinzu kommen zwangsdeportierte Frauen und Mädchen aus der Ukraine. Läßt sich infolge der fehlenden Arbeitskräfte schon nicht der volle Ertrag erwirtschaften, so werden zusätzlich die von den Bauern zu leistenden Abgaben immer mehr erhöht.

Auch das gesellige Leben in den Vereinen leidet unter den fehlenden Männern und findet schließlich kaum mehr statt. Ohnehin steht bald niemandem mehr der Sinn danach, zu sehr peinigen Angst und Schrecken die Zurückgebliebenen. So schreibt Häbler zum Jahreswechsel 1941/42: „Die Neujahrsnacht, früher durch Lärm und Böllerschießen gestört, ist diesmal vollständig ruhig verlaufen. Um zwölf Uhr war auch nicht ein Laut auf den Straßen zu vernehmen. Die Jungen sind im Feld, wo sie mehr schießen müssen, als ihnen lieb ist." Und ein Jahr später:

„Der Wirt ist nicht froh, wenn Gäste kommen. Alkoholische Getränke sind rar. Betrunkene gibts nicht mehr." Zur Kirmes, dem in Friedenszeiten wichtigsten Fest im Dort, notiert er im September 1943: „Von Kirmesstimmung ist nichts zu spüren. Der Krieg beherrscht alles. Es wird bekanntgemacht, daß sich jetzt die Männer der Geburtsjahrgänge 1884 bis 1897 zur Musterung stellen müssen."

Eingezogene Männer, Gefallene

Gleich zu Beginn des Krieges werden von heute auf morgen 20 Männer des Dorfes eingezogen. Von Jahr zu Jahr folgen weitere. Weihnachten 1941 sind es bereits 40 Soldaten. Bald treffen die ersten Meldungen über gefallene Soldaten ein. Zuerst sind es die hier zu Beginn einquartiert gewesenen Soldaten, zu denen die Dorfbewohner zum Teil freundschaftliche Verbindungen aufgenommen hatten. Die betroffenen Familien bestellen Seelenmessen für die Gefallenen. Überhaupt wird in jedem Gottesdienst für die Soldaten gebetet. Dann wird im März 1941 der erste Tote aus der Pfarrei, Fliegerpilot Johannes Drolshagen aus Birresdorf, gemeldet. Mit Josef Welter, der seit Oktober 1941 vermißt war und dessen Tod im März 1942 bekannt wird, ist auch der erste Nierendorfer Mann gefallen.

Ab jetzt folgen in zunehmend kürzeren Abständen immer neue Todesnachrichten. Jedesmal trifft sich die Dortgemeinschaft in der Kirche zu Trauerteiern. Mehr und mehr Menschen sind in Trauerkleidung zu sehen. In den betroffenen Familien spielen sich herzzerreißende Szenen ab.

Die Angehörigen der an der Front kämpfenden Soldaten stehen Todesängste aus, wenn etliche Wochen keine Nachricht eintrifft, wenn Pakete und Briefe zurückkommen mit dem Vermerk: „Neue Anschrift abwarten!" Am Sonntag geht man in andere Dörfer, um bei Familien von Kameraden etwas zu erfahren. Auf der Post herrscht Hochbetrieb, so daß das Postauto fast täglich Verspätung hat.

Die traurige Bilanz des Krieges lautet für Nierendorf: 20 gefallene bzw. vermißte Männer.

Kriegsende

Wie der Krieg mit Einquartierungen begonnen hat, endet er auch mit Einquartierungen. Nachdem die Alliierten Anfang September 1944 Belgien erobert haben, ist die Front wieder nahe gerückt und Nierendorf zum Hinterland geworden. Vom 13. September 1944 bis zum 6. März 1945 rollen nun sechs Einquartierungswellen über das Dort. Zeitweise stehen die Höfe so voller Kiregsmaterial, daß die Bauern ihr Vieh kaum füttern können.

4. März: „Es regnet den ganzen Tag, Tränen des Himmels. Ein neuer Kriegsabschnitt scheint zu beginnen. Die Amerikaner rücken aus Richtung Euskirchen heran. Von Rheinbach und Meckenheim wird erzählt, daß die Städte schwer durch Bomben zerstört seien, viele Tote. Es sei nicht ratsam, dorthin zu gehen."

Gegen Mittag, des 6. März bricht die letzte Einquartierung fluchtartig, ohne Abschied zu nehmen, auf. Im Laufe des Nachmittags erzählt man sich, daß Rheinbach bereits unter Artilleriebeschuß liege. Auf der Durchgangsstraße Nierendorfs reißt der Verkehr mit Autos aller Kaliber, Pferden und Wagen nicht ab. Die deutschen Einheiten der zusammenbrechenden Front ziehen sich fluchtartig zurück. Um halbsechs stehen die paar Männer des Volkssturmes auf der Straße, weil sie von halb sechs bis halb acht Dienst tun sollen. Gegen sechs halten Autos still, und eine neue Einquartierung scheint zu nahen. 200 Pferde sollen untergebracht werden. Wie viele tatsächlich eintreffen, erfährt Häbler nicht, denn schon in der Nachtziehen sie weiter. An Schlafen ist nicht zu denken. Ab drei Uhr nachts wird es ruhiger. Schon vorher war in Leimersdorf ein Warenlager der Wehrmacht freigegeben worden. Trotz der dunklen Nacht ziehen die Leute dorthin, um die „Schätze" zu bergen.

Am Morgen des 7. März ist in der Kirche das erste Sterbeamt für den Gefallenen Josef Moog. Als Häbler aus der Kirche tritt, sieht er schon die ersten amerikanischen Panzerwagen vorbeifahren. Esfolgen bis zum Nachmittag ungezählte Wagen von allen Arten und Größen. Die Straßen verwandeln sich infolge der nassen Witterung in eine Schlammflut. Die Amerikaner durchsuchen die Häuser nach Soldaten und Waffen und quartieren sich dann ein. Hinter dem Dort, Richtung Bahndamm, geht schwere Artillerie in Stellung. Ihr Schießen über den Rhein, angeblich, um deutschen Truppenansammlungen zu verhindern, erschüttert die Häuser. Türen und Fenster rappeln.

Auch am folgenden Tag ist die Straße voller Autos. Trupps deutscher Gefangener ziehen unter Bewachung durch den Ort, aber auch französische Kriegsgefangene, die jetzt frei sind. Das Lärmen der Artillerie und der Verkehr auf der Durchgangsstraße setzen sich in den nächsten Tagen fort. Am 10. März zählt Häbler 30 Autos in fünf Minuten, den ganzen Tag macht das tausende, und was für Wagen, Riesenpanzer und Riesenpontos zum Brückenbau bei Remagen. Noch immerfeuern die Mörser hinter dem Dorf. Nachts ist es so laut, daß Häbler das Gefühl hat, als schlüge jemand mit der Axt gegen das Bett.

Trotz der Einnahme durch die Amerikaner ist die Gefahr für das Dort noch nicht gebannt, denn noch droht Beschießung durch die deutsche Artillerie von der anderen Rheinseite her, vor allem aber durch Raketenbeschuß. Zum ersten Mal hatte Häbler in der Nacht vom 15. auf den 16. September 1944 die angebliche Wunderwaffe „V 1" gehört und am 19. September auch zum ersten Mal gesehen: „Vorn ein kugelartiges Licht, schnell und steil sich in die Höhe windend. In höchster Höhe schien das Licht sich loszulösen und weiterzufliegen, während der lange wolkenartige Schwarz, oben dünn, nach unten immer dicker werdend, sich alsbald auflöste und verwand. Es war ein wunderbarer Anblick und wäre eine Glanznummer für ein Feuerwerk." Doch ein Feuerwerkskörper ist dieses Fluggeschoß nicht, wie Nierendorf zehn Tage nach dem Einmarsch der Amerikaner, am 17. März, erfahren muß. Am Morgen dieses Tages waren V 2-Raketen bereits bei Birresdorf und Gedingen eingeschlagen. In letzterem Ort sind sechs Tote und etliche Verletzte zu beklagen. Gegen Abend trifft das Schicksal dann auch Nierendort. Auf dem Hang, ganz nahe oberhalb des Dorfes, schlägt ein solches Geschoß ein. Die Vikarie erbebt, die Fenster fliegen auf, und fast alle Scheiben fallend klirrend zu Boden, eine Zimmerdecke stürzt herunter, die Wand zeigt Risse. Von den höhergelegenen Häusern werden die Dachpfannen abgedeckt. Am stärksten ist jedoch die Kirche getroffen, denn fast alle farbigen Fenster, werden durch den Luftdruck zerstört.

Es sind ereignisreiche Tage für das Dorf, und fast täglich gibt es etwas Neues zu berichten. Am Donnerstag, dem 22. März, einem schönen Frühlingstag, sieht Häbler die befreiten Ukrainertrauen und -mädchen lachend mit viel Gepäck in Richtung Leimersdorf ziehen. Für andere endet der Krieg jedoch noch tödlich. Zwei Tage später fahren sieben Lastwagen mit den übereinandergeschichteten Leichen amerikanischer Soldaten durch das Dort. Am selben Tag zählt man auch zehn Lkw's, auf deren Ladeflächen dicht gedrängt deutsche Gefangene stehen. Und ebenfalls am selben Tag wird der Bengener Lehrer, der auch in Nierendort halbtags den Schulunterricht übernommen hatte, mit durchschnittener Kehle und Pulsader tot auf dem Leimersdorfer Friedhof aufgefunden. Nur langsam normalisieren sich die Verhältnisse, auch wenn der Krieg anderswo noch nicht zu Ende ist, doch darüber erfährt die Dortbevölkerung vorerst nichts. „Wir wissen nur, was es heißt, in den Händen der Feinde sein, wir wissen auch, was es heißt - etliche ahnten es -, was uns bevorstand, wenn Deutschland gesiegt hätte."