Manches Mal drückte der Schuh

Begebenheit aus der Nachkriegszeit

Franz Koll

Schuhe – richtige Schuhe, trocken, warm, bequem und fest; das wäre schon Glücks genug gewesen in jenen Tagen, als uns in Bonn die verhängnisvolle Bombe aufs Haus gefallen war und wir bei Tante Maria und Onkel Alois in Staffel untergekommen waren.

Das eine Paar, das wir Halbwüchsigen in der Regel besaßen, versuchten wir soweit es eben ging zu schonen, liefen im Sommer barfuß, beschlugen es auf dem Dreifuß mit fehlenden Nägeln und rieben das rauhe Leder gegen Nässe mit ekliger Schmiere ein. Meine Schuhe hatte mir ein Ami überlassen. Zunächst waren sie zwei, drei Nummern zu groß gewesen, weswegen ich sie mit Papier und Heu ausgestopft hatte. Dicke Schafwollsocken taten ein übriges. Dennoch boten meine dürren Beine in den weiten Schuhschäften einen erbärmlichen Anblick. Nach und nach war ich dann hinein- und mittlerweile herausgewachsen. An der Druckstelle auf dem Spann war ein schmerzendes Überbein entstanden.

Neue mussten also her; am besten zur Feier der Erstkommunion. Aber sie waren nicht fertig geworden. Nicht, dass Mama zahlungsunwillig gewesen wäre oder es gar an den seinerzeit als Dreingabe üblichen Naturalien hätte fehlen lassen. Trotz Butter und Kesselinger Korns war Schuhmacher Berens nach Anmessung und mehrmaliger Anprobe mit seiner Arbeit ins Stocken geraten und hatte achselzuckend gesagt: „Ech han kee Owerledder mieh”.

Dass ich schließlich in den alten Schuhen, mich vor aller Augen ihrer Unansehnlichkeit zutiefst schämend, in der Kesselinger Kirche zum Tisch des Herrn zu gehen hatte, habe ich Berens lange nachgetragen.

Kurz vor Michelstag waren die neuen endlich fertig, herrlich anzusehen und zu tragen mit ihren glänzenden Nägeln und den bei jedem Schritt hell aufklingenden Stoßeisen. Von Stund an war mein Auftreten um einiges selbstbewusster und das Leben in Staffel schien mit ordentlichen Schuhen an den Füßen auf wundersame Weise weniger schwer – wenn nicht Papa, der damals beruflich noch nicht wieder Fuß gefasst hatte und sich den Tag über langweilte, eine seiner merkwürdigen Ideen ausgebrütet hätte.

Ein bescheidener Rotweinvorrat sei sehr von Nutzen, meinte er. Ahrroter sei, mit eingerührtem Ei zumal, höchst bekömmlich seinem anfälligen Magen, sei bevorzugtes Tauschmittel beim Maggeln und unentbehrlich für Tante Marias köstliche Weinsuppe mit Eischneehäubchen. Nicht zuletzt müsse man ihn bereithalten für unwahrscheinliche, aber immerhin mögliche Gäste.

Wie ihn aber besorgen? Früher, vor dem großen Schlamassel, war eine sichere Quelle ein Recher Verwandter gewesen. Der rückte jedoch gegen wertloses Geld neuerdings nichts mehr heraus. Machen ließe sich allenfalls etwas im Tausch gegen Wingertspfähle.

„Die han mer doch wie se em Booch ston”, fiel es Onkel Alois ein.

Darauf ging Papa täglich mit Axt und Säge die schottrige Straße hinauf bis vor Heckenbach und stieg in den steilen Hang jenseits des Baches, wo unsere jungwüchsigen Fichten standen. Nach der Schule brachte ich ihm das Essen und half bis zum Feierabend.

Zuvor hatte ich jedoch die Schuhe zu wechseln. Obwohl die Amitreter bis zum Gehtnichtmehr verschlissen und hoffnunglos zu klein waren – kein Wunder, dass mich fortan krumme Zehen plagten-, bestand Mama darauf, sie nach dem Essen anzuziehen, um die neuen zu schonen. Und Tante Maria pflichtete bei: „Do se us, dat nix dran kütt!”

Dass ich es erstmals versäumt hatte, bemerkte ich, als ich schon auf dem Rad saß, den Essenskorb an der Lenkstange, und in Richtung Heckenbach fuhr. Einmal ist keinmal, dachte ich und würde ganz besonders achtsam sein.

Papa hatte, als ich eintraf, bereits eine Menge junger Stämmchen gefällt. Sie lagen kreuz und quer im Hang und mußten bis zum Dunkelwerden ausgefegt, auf Länge geschnitten und am Weg abfuhrbereit gestapelt werden.

Zuvor aber hob Papa, auf einem Baumstumpf sitzend, den Topfdeckel, um nachzusehen, was Mama seinem empfindlichen Magen zugedacht hatte: Kartoffeln und saure Bohnen untereinander mit einer weichgekochten Speckschwarte.

Wachholdergebiet im Kesselinger Tal

Während Papa aß und an- schließend, Magenschonung hin oder her, übelriechenden Knaster in der Pfeife rauchte, machte ich mir mit der Axt an den jungen Fichten zu schaffen. Nachher, das war vorauszusehen, würden mir nur mehr niedere Waldarbeiten wie mühseliges Hangauf- und Hangabschleppen der Stämmchen und Zusammentragen der stechenden Nadelzweige bleiben.

Hinter Papas Rücken packte ich eine der Fichten am armdicken unteren Ende und hieb mit der Axt, die ich ganz kurz am Stiel fasste, Ast um Ast dicht am Stamm ab. Der letzte Hieb galt der biegsamen Spitze. Sie gab aber derart nach, dass die Axt meiner Hand entglitt und, Schneide nach unten, auf meinen rechten Fuß fiel. Die Zehen, das spürte ich sogleich, waren zwar heil geblieben, aber das Oberleder wies über die ganze Breite des Vorderschuhs einen klaffenden Schnitt auf. Der Schreck fuhr mir in die Glieder, und ich rieb sie Stelle dick mit feuchter Walderde ein, die in der Farbe dem dunkelbraunen Leder nahe kam. Obwohl ich meine weitere Arbeit ungewöhnlich einsilbig verrichtete und Vater auffällig aus dem Weg ging, bemerkte er bis zum Abend nichts von meinem Missgeschick.

Zu Hause aber konnte die Entdeckung nicht lange ausbleiben, zumal Mama sich sehr wunderte, als ich meine neuen Schuhe für den nächsten Tag ausnahmsweise selbst und noch dazu außer Sichtweite in der entferntesten Ecke des Schuppens putzte und anschließend unter keinen Umständen auf das Brett in der Küche zu den Schuhen der andern stellen wollte.

Mama blieb erstaunlich gefasst, nachdem sie mir auf die Schliche gekommen war. Sie versprach, Papa wegen der magengefährdenden Aufregung zumindest vorerst nichts zu sagen. Die Konsequenzen meiner Fahrlässigkeit stellte sie mir allerdings mitleidlos vor Augen: Vorübergehender Wiedereinsatz der ausgelatschten Amitreter sowie gründlich verdorbenes Aussehen meiner neuen Schuhe durch einen vom Schuhmacher querzunähenden hässlichen Lederflicken.