Die wirtschaftliche Bedeutung der

Eisenbahn für die Stadt Remagen am Beispiel der Spedition Wilhelm Becker

Marlis Föhr

Die Anfänge der Eisenbahn

Mit dem Wechsel von der Postkutsche zur Eisenbahn begann auch auf der linken Rheinstrecke in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein neues Zeitalter. Umfangreiche Arbeiten waren nötig, bis am 21. Januar 1858 der erste Dampfzug von Köln nach Remagen und wenige Monate später auch bis Koblenz „dampfte".

Im Zuge der umfangreichen Baumaßnahmen entstanden Brücken u.a. über den Unkelbach, die Ahr, den Vinxtbach, den Brohlbach und die Nette. Teilweise musste die Bahntrasse vor Remagen dicht am Flussbett des Rheines aufgeschüttet und aus dem Felsen gesprengt werden. Zeitgleich wurde das erste Stationsgebäude Remagen gebaut, ein imposantes Bauwerk im Stil des Klassizismus. Spätere Erweiterungen des repräsentativen Baus nach Süden und Norden machten den ursprünglichen Eindruck leider weitgehend zunichte. Schließlich bedingten Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg und der anschließende Wiederaufbau weitere Veränderungen des Gebäudes.

1880 fuhr der erste Zug auf der neuen Ahrstrecke von Remagen nach Ahrweiler. Vorausgegangen waren viele Diskussionen über den Trassenverlauf, bevor das zuständige Ministerium in Berlin Remagen zum Ausgangspunkt der Bahn bestimmte.

Der Standort Remagen

Die Stadt Remagen zählte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts rund 2000 Einwohner, die hauptsächlich von der Landwirtschaft, dem Weinbau, kleinen Handwerksbetrieben, Pen-sio­nen, Gaststätten und Hotels lebten. Die Weinbau treibenden Familien beschäftigen sich auch mit Weinhandel und nutzten für den Versand des Weines in die nähere und weitere Umge­bung die Bahn oder Schiffe. Die Eisenbahn förderte die Mobilität. Sie ermöglichte Besuche in der Nähe zum Einkaufen, durch sie konnten aber auch Arbeitsstellen in den umliegenden Orten und Städten schneller erreicht werden.

Bad Neuenahr zog als Kur- und Badestadt viele zahlungskräftige Reisende an. Auf dem Weg dorthin unterbrach der eine oder andere seine Reise, um zumindest für einige Stunden in Remagen zu verweilen. Remagen mit seiner berühmten Apollinariskirche war zudem Station für viele Rheinreisende und außerdem Ausgangspunkt für Besucher des Ahrtals und der Eifel.

Durch den Bau der Eisenbahn wurde die Entwicklung der gesamten Region Remagen in starkem Maße beeinflusst, die Infrastruktur gestärkt und die Wirtschaftskraft der Stadt erhöht.

Das Stadtbild von Remagen veränderte sich durch den Eisenbahnbau maßgeblich. 1887 entstand die Unterführung „Provinzialstraße", der heutige Jahntunnel. Gleichzeitig baute man einen Wasserturm an der Ladestraße im Bahnhof und sicherte mit einer neuen Pumpstation am Leinpfad die Wasserversorgung. Der Anschluss an die städtische Gasanstalt Remagen brachte dem Bahnhof Remagen eine bessere Beleuchtung. Die Petroleumlampen wurden durch Gasleuchten abgelöst. Der Übergang Deichweg wurde durch eine Unterführung ersetzt, die die Wartezeiten am Schrankenübergang Drususstraße verkürzte. Vielfach entschieden sich Fußgänger jedoch zu spät zu einem Umweg durch die Unterführung, denn die Schranke war längst wieder geöffnet, bevor der Tunnel durchwandert war.

Die Eisenbahn diente nicht nur friedlichen Zwecken. Während des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 und während des Ersten und Zweiten Weltkrieges erfolgten auf ihr die meisten Truppen- und Waffentransporte. Die Bahn wurde das wichtigste Transportmittel für die deutschen Armeen.

Ansicht des Bahnhofs Remagen, 2002

Die Firma Becker:
Vom Fuhrunternehmen zur Bahnspedition

Nach dem Eisenbahnbau im Rheintal erkannte der Remagener Fuhrunternehmer Wilhelm Becker in einer Zusammenarbeit mit der Bahn wirtschaftliche Chancen. Deshalb gründete er 1880 ein Rollfuhr-Unternehmen. Wilhelm Becker übernahm einen Abhol- und Bringservice für die Eisenbahn. Vielfach handelte es sich bei seinen Fuhren um große sperrige Lieferun­gen, die der Fuhrunternehmer auf einem von kräftigen Pferden gezogenen Plateauwa­gen befördern musste. Sein Pferdewagen war bald aus dem Stadtbild Remagens und dar­über hinaus nicht mehr wegzudenken.

Nach dem Tod seiner ersten Frau Katharina im Jahre 1889 heiratete er 1890 Elisabeth Steinhoff, eine resolute Köchin aus Westfalen, die fortan auch im Geschäft in der Kreuzgas­se mitarbeitete. Als Wilhelm Becker 1904 starb, stand sie mit vier Kindern aus seiner ersten Ehe und sieben Kindern aus der gemeinsamen Ehe vor großen Problemen. Geschäftstüchtig und energisch wie sie war, führte sie neben ihrem großen Haushalt unermütlich das Famili­enunternehmen weiter. Sie konnte bestens mit Pferd und Wagen umgehen. Man sagte von ihr, dass sie zwei Zentner auf einen Wagen heben konnte – und wenn es um das Laden von Bierfässern ging, war man sich ihrer Mithilfe stets sicher.

Trotz unsicherer wirtschaftlicher Lage schloss die beherzte Geschäftsfrau zusätzlich zum bestehenden Vertrag mit der Königlichen Eisenbahndirektion Köln 1915 noch einen weiteren „über die Regelung zur Gepäckbesorgung und -aufbewahrung auf Station Remagen".

Mit diesem mutigen Schritt zur Geschäftserweiterung legte Elisabeth Becker einen weiteren Grundstein für die Firma Becker und ihre nachfolgenden Generationen. Als 1916 die Ludendorffbrücke gebaut wurde, übernahm die Spediton Becker viele Zubringerfahrten vom Bahnhof, aber auch von den Anlegestellen der Schiffe am Rhein zur Brüc­kenbaustelle. So übernahm sie die gesamte Anlieferung der Farbe für den Brückenanstrich.

Bis 1940 beförderten die Köln-Düsseldorfer Dampfschifffahrt und die Holländische Personen­Schifffahrt auch Frachtgüter stromauf und stromab. Remagen war zentraler Umschlageplatz, und die Firma Becker hatte in und um Remagen großen Anteil an der Verteilung der Frachtgüter von den Schiffen aus.

Auch der Transport der Glocken für die Remagener Pfarrkirche erfolgte im Jahre 1913 durch die Speditionsfirma Becker.

Die zweite Firmengeneration

Bis zu ihrem Tod im Jahre 1935 blieb Elisabeth Becker die Chefin des umfangreichen Fuhr­unternehmens, doch sie plante rechtzeitig den Übergang an die nächste Generation. So übernahmen noch zu ihren Lebzeiten der älteste Sohn Wilhelm das Fuhr- und Spediti­onsunternehmen, die Söhne Josef, Heinrich und Karl die Expressgut- und Gepäckabfertigung. Diese waren vom ersten Zug in der Frühe bis zum letzten am späten Abend am Bahnhof präsent. Sie mussten am Gepäckschalter Dienst tun, das ankommende Ge­päck übersichtlich im Gepäckraum stapeln und das ausgehende Gepäck in die Packwagen der jeweiligen Züge einladen. Oft wurden Koffer bei Bahnkunden abgeholt oder zu diesen gebracht.

Bei der Abfertigung von Expressgut galten andere Regeln. Meist handelte es sich um leicht verderbliche Nahrungsmittel, wie Obst und Gemüse, aber auch Tiere. Hunde, Katzen und Küken, die schnell befördert werden mussten. Züge und Waren konnten nicht warten. Wenn oft bis zu zwanzig Kisten und Koffer pro Zug verladen werden mussten, war Tempo ange­sagt. So blieb es nicht aus, dass auch die Ehefrauen mithelfen mussten. Meistens schloss das Bringen des Mittagessens die weitere Mitarbeit am Gepäckschalter für einige Stunden mit ein.

Im Juni 1927 wurde der Nürburgring bei Adenau eröffnet. Viele Rennsportbegeisterte be­nutzten fortan die Züge bis Remagen, um auf die Ahrtalbahn umzusteigen. Oft blieb noch Zeit, sich Remagen anzuschauen, gut zu speisen oder in einem der vielen Hotels am Rhein zu übernachten. Das „lästige" Gepäck stand währenddessen wohl verwahrt in der Gepäckabfertigung, denn Schließfächer gab es damals noch nicht.

Der Zweite Weltkrieg und seine Auswirkungen

Durch den Bau des „Westwalls" gewann die Eisenbahn als Transportmittel weitere Bedeutung. Da die vorhandenen Bahnanlagen nicht mehr den enormen Anforderungen gewachsen waren, mussten sie umgebaut werden. Fünf alte Stellwerke in Remagen wurden abgerissen und drei neue errichtet, ebenso ein neuer Güterschuppen und mehrere Laderampen. Die „Neue Reichsstraße" (heutige B 9) wurde in Remagen als Umgehungsstraße in Angriff ge­nommen, um die Innenstadt vom Verkehr zu entlasten.

Bald mangelte es der Bahn im Kriegsverlauf an Personal, weil viele Eisenbahner zum Kriegsdienst eingezogen worden waren oder in den besetzten Gebieten ihren Dienst verse­hen mussten. Dienstverpflichtete Frauen übernahmen bei der Bahn Tätigkeiten als Schaff­nerinnen, in der Güterabfertigung und im Aufsichts- und Fahrkartendienst, auch in unserer Region. Dabei wurde die Arbeit wegen der ständigen Fliegergefahr immer gefährlicher. Die Luftangriffe konzentrierten sich besonders auf die Rheinbrücke.

Während der Ardennenoffensive Ende 1944 wurde die Ahrtalbahn eine der wichtigsten Nachschublinien zur Westfront. Das veranlasste die Alliierten zu Luftangriffen auf die Ver­kehrswege, um den Nachschub abzuschneiden. Dabei wurde auch die Stadt Remagen stark zerstört. Die Spedition Becker besorgte in dieser Zeit den Gütertransport zur Ahr, nachdem durch Bombentreffer die Schienenstrecke vielfach unterbrochen war. Obwohl das Anwesen der Firma in der Kreuzgasse zerstört wurde, konnte mit dem zum Teil geretteten Fuhrpark auch Remagener Bürgern geholfen werden, ihre Habe in der näheren Umgebung in Sicher­heit zu bringen.

An der Remagener Güterabfertigung vor 1945

Der Krieg bestimmte fortan auch in der Gepäckabfertigung den Arbeitsablauf.

Während seiner kurzen Militärzeit im Jahre erkrankte Karl Becker schwer und starb mit 41 Jahren. Seine Frau Magda Becker übernahm einen Teil seiner Arbeit am Schalter der Gepäckabfertigung und wurde fest eingeplant bei der Annahme und Ausgabe von meist schweren Koffern, unhandlichen Fahrrädern und eiligen Expressgutsendungen.

Nachkriegszeit

Nach dem Einmarsch der Amerikaner befuhren zunächst amerikanische Feldeisenbahner die linke Rheinstrecke mit Nachschubzügen. Sie benutzten ihre eigenen Dieselloks und einfaches Wagenmaterial, während deutsche Eisenbahner zu Aufräumungs- und Aufbauarbeiten eingesetzt wurden. Eine französische Bahnhofskommandatur übernahm im Juli 1945 die Leitung des Bahnhofs Remagen. Ab Juni 1945 verkehrten zunächst drei Züge täglich von Köln-West bis Koblenz und zurück. Für viele Reisende prägte sich wegen der besonders strengen Kontrollen der Name „Zitterbahnhof Remagen" tief ein. Hier spielten sich dramatische Szenen ab, wenn deutsche „Grenzer" im Auftrage der Franzosen Reisenden Lebensmittel abnahmen, die diese vorher auf dem Schwarzmarkt oder auf Dörfern gegen Wert- sachen eingetauscht („gemaggelt") hatten.

Durch die rasante Entwicklung des Kraftfahrzeugs und den Neubau vieler Straßen geriet die Bahn ab den fünfziger Jahren in einen Wettbewerbsnachteil. Die Lastkraftwagen nahmen der Schiene von Jahr zu Jahr immer mehr Markt-anteile auf dem Transportsektor ab.

1956 wurde die linke Rheinstrecke elektrifiziert. In Remagen entstand an der Ubierstraße ein Umformwerk. 1961 besuchten nacheinander der französische Staatspräsident Charles de Gaulle und Bundespräsident Heinrich Lübke mit der Eisenbahn die Stadt Remagen.

1969 siedelte die Fahrradfabrik Schauff in das Gewerbegebiet „Wässerscheid" über, erhielt einen Gleisanschluss und die Bahn einen wichtigen Kunden.

1972 erwarb die Stadt Remagen von der Bahn Reste des alten Bahndamms zur Rheinbrücke und die linksseitigen Brückentürme, in denen dann das weit über die Grenzen Deutschlands bekannte „Friedensmuseum Brücke von Remagen" eingerichtet wurde. Bis zum heutigen Tag ist dieser Ort der Geschichte Ziel von Schulklassen, Reisegruppen und Einzelreisenden, von denen viele auch aus dem Ausland anreisen.

Der Bahnhof Remagen ist nach wie vor ein wichtiger Haltepunkt des Regionalverkehrs und der Interregio-Züge auf der Rheinstrecke geblieben. Er ist Umsteigebahnhof für Kurgäs-te, Wanderer, Pendler und Schüler an die Ahr.

Das Speditionsunternehmen am Ende des 20. Jahrhunderts

1964 übergab Wilhelm Becker (II) das Geschäft an seinen Sohn Wilhelm (III), dessen Sohn Wilhelm (IV) 1967 in das Unternehmen eintrat.

So wie die jeweiligen Firmeninhaber wechselten, so änderte sich auch die Art des Transports. Anfangs zogen Pferde die großen Wagen, dann Traktoren, die schließlich von Lastwagen abgelöst wurden. Zu allen Zeiten hatten die Ehefrauen wesentlichen Anteil an der Erledigung aller anfallenden Arbeiten. Sie nahmen u.a. die Bestellungen an, kassierten die Frachtgelder und erledigten die Buchhaltung.

Nach Schließung der Güterabfertigung besorgten die Beckers auch den Stückgutverkehr pünktlich und zuverlässig für Kripp, Sinzig, Westum, Löhndorf, Koisdorf und Bad Bodendorf, den Frachtdienst für die Botschaften in Oberwinter und Rolandseck und den Express-gut- und Kofferdienst von Bodendorf und Sinzig.

Doch die Zentralisierung der Bahn schritt immer weiter voran, so dass die Fuhrleistungen in den 1980er Jahren bis über Koblenz hinaus erbracht werden mussten. Diese Arbeit konnte mit zwei Leuten nicht mehr bewältigt werden, so dass das traditionsreiche Unternehmen nach über 100 Jahren die Arbeit für die Bahn aufkündigen musste.

Auch in der Gepäckabfertigung fand ein Generationenwechsel statt. Zwei Söhne von Heinrich Becker übernahmen das Geschäft. Bis zu 90 Züge mussten täglich „bedient" werden. Bester Kunde für das Unternehmen wurde die Kleinindustrie von Remagen und Umgebung, die täglich bis zu 300 Pakete anlieferte. 70 Fahrräder und Motorräder wurden an Werktagen eingestellt und am Abend wieder herausgegeben. 1955 arbeitete man bereits mit sechs zusätzlichen Arbeitskräften.

Dann bremste die Bahn auch hier den weiteren Aufschwung. Die Züge fuhren ohne Gepäckwagen, Reisegepäck und Expressgut wurden nur noch auf der Straße transportiert. Am
1. Juli 1990 wurde der Gepäckschalter geschlossen. Heinz und Josef Becker fuhren mit ihrem Lastkraftwagen als freie Unternehmer weiter für die Bahn und mussten auf viele Privilegien früherer Zeiten verzichten. Dreimal täglich mussten in Koblenz Gepäck und Expressgut abgeholt werden. Vom Remagener Güterbahnhof aus, dem neuen angemieteten Firmengebäude der Gebr. Becker, wurden die Güter auf vier LKW’s verteilt und an die Ziel­adressen ausgeliefert.

1999 wurde auch hier die Arbeit mit der Bahn beendet, da die Rentabilität für die Firma Becker endgültig auf der Strecke geblieben war.

Literatur und Quellen: