Gedenken und Erinnern

eines Zeitzeugen an das Kriegsgefangenenlager zwischen Remagen und Sinzig
im Jahre 1945

Johannes Friedrich Luxem

Von April bis Mitte Juli 1945 bestand auf den Feldern und Rheinwiesen zwischen Remagen, Sinzig und Niederbreisig ein riesiges Kriegsgefangenlager.
Eingerichtet wurde es von den Amerikanern, die es am 10. Juli 1945 an die Franzosen übergaben, von denen es bald aufgelöst wurde. Die verbliebenen Gefangenen mussten vom Lager Sinzig aus in das Kriegsgefangenenlager Andernach marschieren.
Insgesamt lag die Höchstbelegung der Lager Remagen/Sinzig im Mai 1945 bei über 250.000 Gefangenen.
Auf dem Bodendorfer Soldatenfriedhof fanden rund 1.200 in den Lagern verstorbene Kriegsgefangene ihre letzte Ruhestätte.
Das Elend der Kriegsgefangenen, die auf den Feldern den Unbilden der Witterung und der Willkür der Bewacher ausgeliefert waren, können diese Fakten nur andeuten.
In einer vielbeachteten Rede hat Johannes Friedrich Luxem, der als junger Soldat in dem Kriegsgefangenlager das Schicksal der Tausende teilte, seine damaligen Eindrücke auf dem Bodendorfer Soldatenfriedhof in der Gedenkfeier zum Volkstrauertag 2002 geschildert.
Seine Rede wird nachfolgend in einer überarbeiteten Form abgedruckt.
(Die Redaktion)

Prolog

Über allem Gedenken und Erinnern an die Zeit im Kriegsgefangenenlager steht die Frage: Was wollen wir tun, was können wir sagen, was versuchen, um denen, die auf dem Bodendorfer Soldatenfriedhof seit fast sechs Jahrzehnten ruhen, jenen Teil der Gerechtigkeit zukommen zu lassen, der ihnen gebührt.

Wir wollen Zeugnis ablegen gegen eine menschliche Schwäche, der auch wir oft unterliegen: Das Vergessen.

Wir wollen durch unsere Zeitzeugenaussage versuchen, etwas von der Anonymität dieser Toten aufzuheben.

Wir wollen sie in unser Gedächtnis zurückrufen, sie wiederfinden wie etwas Verlorenes, ihnen eine Identität verleihen, eine Würde. –

Wir wollen ihre Ruhe nicht stören durch zu laute Worte, wollen versuchen, ihnen, deren Namen wir ja nur ablesen können von den vielen Basaltsteinen auf ihren Gräbern, ein Gesicht zu verleihen.

Was wir heute nicht wollen? - wir wollen nicht analysieren, nicht anklagen, nicht auf- oder abrechnen, uns nicht verirren im Netzwerk von Ideologien. –

Über dem Geschehen von damals, über den Gräbern der Opfer ist Versöhnung angesagt und die unüberhörbare Mahnung: Vergesst uns nicht!

Und so wollen wir ihnen näherkommen, indem wir schildern, was sie vor rund sechs Jahrzehnten am Rheinstrom, in der Goldenen Meile erlebt, erduldet, erlitten haben.

Mit ihnen wahren wir zugleich auch das Andenken an die übrigen unzähligen Opfer der schrecklichen apokalyptischen Epoche des Zweiten Weltkrieges.

Der Tod derer, die auf dem Bodendorfer Soldatenfriedhof ihrer Auferstehung entgegenharren, ist von Tragik gekennzeichnet, denn viele von ihnen mussten noch zu einem Zeitpunkt sterben, als die Kampfhandlungen des mörderischen Krieges schon beendet waren.

Im Hungerlager war zu registrieren, wie sich der Mensch, gepeinigt von Hunger, Durst, Nässe, Kälte – ohne Geborgenheit – zu verändern begann.

Es drohen Verhaltensweisen, die eine plötzliche Einengung der Bewegungsfreiheit erzeugt.

Beklemmungen, Missmut, Zustände ständiger Gereiztheit in erzwungener Monotonie.

Man spürt ein langsames Erlöschen der Aktivität, gehegter Hoffnungen, des Antriebs.

Man muss sich vorstellen: Die körperlichen Funktionen sind auf ein Mindestmaß reduziert,

ein Zustand der Entkräftung und Erschöpfung nimmt von Tag zu Tag zu. Schwer und dumpf

ist der Schlaf der Gefangenen, erfüllt von wirren Traumgestalten. Zuweilen aber Tröstungen: Träume, Bilder und Wege, die hinausführen aus den Zwängen des Elends, die hin­übergeleiten in die Freiheit, in eine ersehnte, bessere, humanere Welt.–

Tragisch ist aber unter allen erlittenen Verlus-ten das Verlieren einer Sinnmitte für den Menschen in einer Stunde, in der sie zur Erkenntnis gelangen, dass letztlich alles Erlebte und Erlittene in den Jahren des Krieges ein Irrweg – also sinnlos gewesen ist. –

Mit solch schmerzender Einsicht, Zweifeln und Skrupeln im seelischen Bereich hatten viele Weg und Ziel verloren und das zu einer Zeitwende, wo sie auf einem kaum vorstellbaren Existenzminimum, einem Endzeitpunkt angekommen waren.

Da findet sich der Mensch im Sinne Nietzsches wieder als ein „fugitivus errans", ein umherirrender Flüchtiger, ohne Wegzehrung, ohne Dach über dem Kopf, in einer Ödnis aus Schlamm, Regen, Kälte, schutzlos preisgegeben, ohne eine Form von Zuwendung und Wärme, ein Bild des Elends. –

So nannte man ja auch dieses Hungerlager ohne jegliche Zuflucht das Feld des Jammers.

Kürzlich stellte jemand die Frage: Wie war es eigentlich den Gefangenen ums Herz damals?

Wir wollen die Antwort in Stichworten zusammenfassen, deren jedes einzelne erfüllt ist von Bedeutungsschwere. –

Da war der verlorene Krieg mit noch unabsehbaren Folgen, ein jahrelanges Heimweh nach Familie und Heim, da waren die zerbombten Städte, vernichtete Existenzen, Verlust von Haus und lieben Angehörigen. Für viele war die Heimat im Osten verloren, Millionen auf schrecklicher Flucht in eisiger Kälte und mit Ängsten vor einer ungewissenen Zukunft. –

Viele Gefangene empfanden eine tiefe Demütigung, dazu kam die quälende Erkenntnis jahrelanger Irrtümer, der verlogenen Parolen, Gefühle zwischen Erleichterung und tiefer Enttäuschung. –

Ich möchte einige Erinnerungsbilder, Beobachtungen und Erfahrungen aus dem großen Hungerlager schildern.

Es ist die Wiedergabe der Wirklichkeit, des ganz konkreten Geschehens hinter dem Stacheldraht.

Die großen Feuer

Vor den riesigen Eingangstoren des Massenlagers brannten die großen Feuer. Die Zäune hochaufragend, stacheldrahtumwickelt, Unheil verheißend: Käfige. –

Die amorphe Masse der Gefangenen steht vor dem halbgeöffneten Tor im Nieselregen, in schweren Mänteln, mit Elendsbündeln aus Zeltplanen, Decken, in denen die Schätze der Geschlagenen liegen. Kleine Garantien für ein Überleben: Büchsen, Schachteln, Dosen, Tabak, Becher, Kochgeschirre, Konserven, Restbestände einer Armee, die geschlagen ist, die den Krieg verloren hat.

Die Rituale der Demütigung vollziehen sich am Feuer, den lodernden Flammen. Schweigend beginnt der Akt des Verzichts, der Entleerung. Vortreten, Geschrei der Wächter, Tempo, alles in Eile, Umstülpen der Behälter, alles fällt, stürzt, rollt zu Boden, alles wird ins Feuer geworfen: Konserven, Sardinenbüchsen, Ersatzwurst, Ersatzkäse, Reis, Schokolade, die kostbaren Zigaretten, Würstchendosen, Kostbarkeiten, nicht mit Geld zu bezahlen. Geld? Hier ist alles Geld nichts mehr wert, nur Papier, aus dem man später Zigaretten drehen wird. Dann:Herunter die Mäntel, fort ins Feuer mit Zeltplanen, Decken, Wäsche, eine Trennung vom Fundamentalen, ach, so unersetzlich für die Zukunft im Schlamm, in Erdlöchern im Dauerregen der Goldenen Meile.

Alles werfen sie in die Flammen, fort damit, in die Waberlohe. Das ist sie: Unsere Götterdämmerung gegen Abend am schönen Rheinstrom, dem Sagenstrom Wagners und der Deutschen. Mit dumpfem Knall explodieren die kostbaren Konservendosen, zornig, voll Abscheu betrachten die Gefangenen das Schauspiel. – Über dem Camp steht eine schwärzliche Rauchwolke, Gestank; sie hüllt die Masse der Wartenden ein.

Ein Windstoß erfasst die Qualmwolke, wirbelt sie hinüber ins Rheintal. Einer sagt: „Welch ein

Menetekel" und er zitiert aus Dantes Göttlicher Komödie: „Ihr, die ihr hier eintretet - lasset alle Hoffnung fahren". - Eine Prophezeiung, die sich erfüllte.

Und aus fernen Jugendtagen vernahmen wir im Geiste die heisere Stimme des alten Lateinlehrers: „Vae Victis! - Wehe den Besiegten"

Hunger

Schwer zu beschreiben sind sie, die Qualen des Hungers; sie begannen im Kriegsgefangenenlager nach wenigen Tagen. Man erlebte ein Entgegenharren den Tag lang bis zur Abendstunde, wo die Verteilung der Essensrationen stattfand. Eine dünne Scheibe bleiches Weißbrot, drei Kekse, winzige Döschen mit etwas Coffeepowder, ein Löffelchen Tomatenmark, vom Verteiler in den Mund geschoben, manchmal ein Döschen Milkpowder, das man ausleckte. –

Beim Brotverteilen die Frage: Wer hat heute Anrecht auf die Krümel?

Erinnerung an die Bibel: Unter dem Tisch der arme Lazarus, der die Krumen aufsammelte und sie aß.

Zeichnung Johannes Friedrich Luxem

Hunger hatte zu tun mit LEERE, mit Zwangsverzicht auf Füllung des Magens, auf seine normale Funktion, auf Erlöschen der Peristaltik, mit Verengung des Denkens: Alles ist nur noch eingestellt auf diesen einen, elementaren Gedanken: ESSEN, SÄTTIGUNG den HUNGER

STILLEN ...

Es bildeten sich eigenartige „Essgewohnheiten". Manche zögerten den Akt des Kauens dieser winzigen Menge heraus, machten aus der Weißbrotscheibe kleine Kügelchen kauten lange.

Als noch Gras und Kräuter auf dem Boden des Gefangenenlagers zu sehen waren, verlängerten viele den schmählichen Essvorgang mit Taubnesselblättern und Spitzwegerich. –

Noch nie drehten sich stundenlange Gespräche so sehr um das ESSEN.

Tausend Rezepte wurden besprochen, Erinnerungen wachgerufen an Festessen im Familienkreis.

Aber hier im Lager: Die krude Wirklichkeit: Hunger!

Bilder der Erinnerung geleiten hinüber in eine freie, bessere Welt...

Durst

Nach wochenlangem Regen und Kälte scheint plötzlich die Sonne. Es ist, als ob ihre Strahlen, ihre Wärme die Gefangenen aus ihren Lehmlöchern zu neuem Leben erweckten.

Man schöpft nach depressiven Regenwochen wieder neue Hoffnung, kann endlich die nassen Kleider, die feuchten Schuhe trocknen. Im Lager herrscht ameisenhaftes Gewimmel, ungewohnte Betriebsamkeit. Endlich Sonne, wenn sie doch nur bliebe.

Und tatsächlich: Die Sonne scheint weiter, Tag um Tag eine Woche hindurch. Eine stechende, durchdringende Hitze trocknet den Schlamm auf den Wegen, lässt das Wasser in den Erdlöchern verdunsten. –

„Misstraut den Geschenken der Götter", sagt der Philosoph, wird als Ketzer, als Miesmacher verlacht.

Doch: Er behält recht. Vor der Sonnenglut gibt es kein Entrinnen, keine Flucht in den Schatten. Man ist den Strahlen hilflos ausgesetzt, wie vorher dem Regen. Und eine neue Qual beginnt, fast noch schlimmer als der nagende Hunger: Durst. Im Zentralcage sind große Zisternen aus gummiertem Stoff errichtet. Sie werden mit Rheinwasser gefüllt, das aus Hygienegründen stark mit Chlor versetzt ist; es schmeckt scheußlich. Endlos die Schlange der Wasserträger zwischen den Camps und den Zisternen. Wir haben einen alten Blechkanister, sind immer zu zweit, lösen uns in der Warteschlange ab. Einmal dauert es vom frühen Morgen bis in die Nacht, bis wir an die Reihe kommen.

Die Sonne dörrt alles aus, auch die Gefangenen. Nun hat der Hunger eine Gefährtin bekommen, den quälenden Durst.

Glücklich die, die sich über dem Geviert des Erdlochs Reste von Papiersäcken, Verpack-ungsschachteln legen können. - Doch, die Besitzer solcher Pappendeckelschätze müssen Wachen einteilen, sonst werden sie nachts bestohlen. –

Die kleine Gruppe der Höhlenbewohner bildete eine verschworene Gemeinschaft, es formt sich ein kollektiver Wille, die Misere zu überwinden, die Höhle abzuschirmen nach außen. „Zwanzigtausend Jahre", sagt der Philosoph, „sind wir zurückgeworfen ins Paläolithikum, sind wieder Crô-magnon-Menschen des Mous-terien und Magdalenien - nur fehlt uns die Erfüllung des Urinstinkts, die Jagd in Wäldern und Steppe und: Die Freiheit.

Regen - Nässe - Kälte

Nie vorher war das Gefühl eines völligen Ausgeliefertseins stärker als in den Tagen und Wochen des ständigen Regens im Frühjahr 1945. Die Erde verlor ihre einst grüne Decke, verwandelte sich in eine zähe Schlammschicht. Die Gefangenen wurden nass von Kopf bis Fuß,

schutzlos ausgeliefert den Unbilden der Witterung. Keine Möglichkeit, die Kleider zu trocknen oder zu wechseln, sich zu wärmen. Schlimm waren die langen Nächte in Kälte und Nässe; sie wollten kein Ende nehmen, dehnten sich quälend.

Viele gingen im Cage hin und her, die Nacht zu überstehen, einen Blick hinauf zu den Sternen, den andern zu Boden, um nicht auf die Schlafenden zu treten. –

Einer sagte: Die Hölle ist nicht feurig-heiß, die Hölle, das ist in der Kälte durchnässt sein ohne jegliche Zuflucht...

Erdgruben

Auf blanker, nasser Erde liegend, ohne Dach über dem Kopf – da gab es nur noch eine Lösung, das Elend etwas zu mildern: Eingraben in die Erde. Die Mutter Erde in der Goldenen Meile wurde zum Zufluchtsort, umhüllte die Hungernden und Frierenden auf den Feldern am Rhein.

Mit primitiven Hilfsmitteln, Blechdosen, gefundenen Schwellennägeln gruben sie sich ein in das Erdreich, bauten eine Grube, in der gerade vier Gefangene dicht nebeneinander Platz

fanden, sich gegenseitig etwas Wärme gebend. Rückkehr ins Neolithikum, in die Steinzeit, so sagte einer damals. Beim Graben ein kostbarer Fund: Eine alte Eisenbahnschwelle und verros-tete Schwellennägel. Damit klopfte man Blechstreifen zu Messerchen, schabte aus eisenhartem Schwellenholz kleine Splitter, entzündete, als endlich einmal die Sonne schien, mit einem Brennglas ein Feuerchen. Das flackerte ärmlich in der Höhle, wurde bewacht, genährt, gab etwas Licht, ein wenig Wärme, war aber Feuer, uralte Zuflucht für den Obdachlosen, Unbehausten. Dann ein feierlicher Augenblick, ein Ritual: In einer Büchse Wasser erwärmen, dann Brotkrümel, Milkpowder, Blättchen von Löwenzahn und vier Männer teilten sich den lauwarmen Inhalt der Elendssuppe, damals ein kostbares Geschenk.

Nach längerem Regen geschah es, dass manche Gruben nachts einstürzten und die Schläfer verschütteten. Die Erde, diese nasse Schwemmlanderde der Goldenen Meile, sie forderte ihren Tribut. –

Die Knollengrube

Am Ende des Stacheldrahtgevierts entdeckten die gefangenen Männer eine alte Knollengrube; für die Halbverhungerten eine Goldader.

Sie schnitten dieses Viehfutter – jetzt köstlicher Besitz – in Scheiben, streuten Coffeepowder darauf, aßen mit Gier, tranken dazu das schreckliche, verchlorte Rheinwasser, mit Dieseltanks geholt direkt aus dem Strom.

Nach erster Sättigung zeigten sich verheerende Folgen: Sie litten an der Ruhr. –

In ihrer Verzweiflung halfen sich die Schwerkranken; sie kauten Kohlenreste der Schwellen-

feuerchen als Gegenmittel.

Die Toten lagen in Dreierreihen auf Stroh; um ihre Münder hatten sie die schwarzen Ränder der Schwellenfeuerkohle – sie brachte ihnen keine Hilfe, keine Rettung mehr.

Manche lagen da mit offenem Mund, so, als hätten sie im Augenblick des Fortgehens, des Abschieds noch etwas sagen wollen – doch das hörte niemand im Lager...

Lieder und Trost

Ermutigend und ergreifend und unvergesslich: Die Zuwendung und Hilfsversuche der Bevölkerung von Remagen, Sinzig, Niederbreisig und Umgebung. Immer wieder brachten Frauen und Kinder, Menschen, die nach sechs Kriegsjahren selbst nur ein Minimum zum Leben hatten, Essen an den Stacheldraht: Äpfel, Kartoffeln, Gartenfrüchte, Töpfe mit Suppe. Oft

wurden sie rüde abgewiesen mit ihrer Gabe. Sie riefen den Eingeschlossenen Trostworte zu, gaben Ermutigungen, fragten nach Lagerinsassen.

Tränen am Osterfest

Unvergesslich: Die Ostermesse 1945 im Schlamm der Lagerstraße!

Anstelle des goldenen Kelches – ein Bakelitbecher. Anstelle der makellosen weißen Hostie - ein Stückchen Brot. Der schreckliche Regen hörte auf. Die Gefangenen knieten stumm im Schlamm. Da plötzlich vernahmen sie vom anderen Rheinufer her verwehte Klänge, Osterlieder, dann alte Volkslieder. Hoch oben auf dem Plateau der Erpeler Ley standen Frauen und Kinder, weißgekleidet, mit bunten Tüchern winkend. Sie sangen für die Elenden da unten im Lager.

Der Priester sprach ergreifende Worte – unvergesslich der uralte Psalm, der Aufschrei Gequälter: „Herr, aus der Tiefe rufe ich zu Dir, erhöre sie, die Stimme meines Flehens..."

Eine unbeschreibliche Stimmung herrschte unter den Gefangenen – die Sonne brach endlich durchs Regengewölk – das war Ostern, Licht, Tröstung, Wandlung und Auferstehung. – Da begannen viele Männer zu weinen.

Epilog: Rückkehr zur Erde

Wir trauern um die Kriegsgefangenen, die auf dem Bodendorfer Soldatenfriedhof am Ufer der Ahr, überschattet von den Wipfeln alter, mächtiger Bäume, ihre letzte Ruhe fanden.

In ihrem Werk „Die Unfähigkeit zu trauern" schrieben Alexander und Margarete Mitscherlich: „Wo Verlust erlitten wurde, ist Trauer die natürliche Konsequenz" und weiter: „Suchen wir in unserer Lage nach einem Mittel, das uns zwingt, unser Handeln moralisch, d. h. menschenfreundlich zu lenken, so kann dies nur in einer unentwegten Bemühung um einfühlendes Denken sein."

Diese beiden Worte sagen uns, dass zur Trauer neben Emotionen auch das Denken gehört, ein Nachsinnen über das schreckliche Geschehen, über Ursachen und Folgen. –

Auf dem Felde des Jammers in der Goldenen Meile fand sie statt: Eine Rückkehr zur Erde. Schutzsuchen und Sichhineingraben in ihre Härte, ihre klebrige Nässe, ihren Geruch. Hier fanden die Gefangenen kargen Schutz in Löchern, Gruben, Cavernen, in denen sie nachts in einer Art Dämmerschlaf hockten; in diesen kalten Nächten am Rheinstrom, die sich endlos dehnten...

Aus dieser ubischen geschichtsträchtigen Erde formte einer unter den Tausenden die „Schwarze Madonna", die heute am Ort der Andacht, der Friedenskapelle – einst mitten im Kriegsgefangenenlager Remagen – unter einem schützenden Dach steht, aber dennoch der Witterung ausgesetzt ist.

Es war diese Erde, die für viele zum Schicksal wurde. Viele der Gefangenen hat sie letztlich nicht mehr losgelassen. Alte und Junge hat sie behalten wie ein Pfand, wie ein stummes Ritual der Beschwörung für unsere Nachwelt, wie eine unauslöschliche Mahnung zu Frieden und Versöhnung.

Und es ist, als ob wir aus der Stille auf dem Bodendorfer Soldatenfriedhof heraus noch einmal ihre Stimmen hörten.

Vielleicht ist es der Ruf des großen Engels, der uns in der Sprache des Dichters Bert Brecht eine Mahnung zuruft:

An die Nachgeborenen III

Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut
In der wir untergegangen sind
Gedenkt
Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht
Auch der finsteren Zeit
der ihr entronnen seid.
Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd
Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt,
Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung
Dabei wissen wir doch:
Auch der Hass gegen die Niedrigkeit
Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser. Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.
Ihr aber, wenn es soweit sein wird
Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Gedenkt unsrer
Mit Nachsicht.

Zeichnung Johannes Friedrich Luxem