Die Auflösung des Kriegsgefangenenlagers Goldene Meile 1945

Ein Zeitzeuge erinnert sich

Eckart Probst

Nach der Einnahme der Remagener Brücke am 7. März 1945 errichteten die Amerikaner in der Goldenen Meile zwischen Niederbreisig und Remagen ein riesiges Kriegsgefangenenlager, in dem bis zur Auflösung im Juli rund 1,5 Millionen deutscher Soldaten durchgeschleust wurden. ImLager Remagen soll die Höchstbelegung bei etwa 185.000 Mann, im Lager Sinzig bei 215.000 gelegen haben. Besonders in der Anfangszeit waren die Lebensbedingungen dieser Kriegsgefangenen sehr schlecht. Sie hausten vielfach in Erdlöchern oder auf der blanken Erde auf den Feldern und Rheinwiesen, wo sie Wind und Wetter ausgesetzt waren. An Erschöpfung, Unterernährung, Krankheit und Hunger starben über 1.000 Soldaten in den Lagern. Die Toten wurden auf dem Soldatenfriedhof in Bad Bodendorf bestattet.

Als das Kriegsgefangenenlager am 20. Juli 1945 aufgelöst wurde, verhängten die Franzosen für die Bevölkerung der Orte, die auf dem Weg zum Andernacher Kriegsgefangenenlager lagen, eine Sperrzeit von morgens 6 Uhr bis abends 18 Uhr.

Auch in Niederbreisig durfte keiner das Haus verlassen. Entlang der Zehner- und der Koblenzer Straße mussten alle Fenster und Türen geschlossen bleiben. Gegen 9 Uhr erreichte der Marsch der Gefangenen den Ort. Ich stand damals mit meiner Mutter und meinen Geschwis­tern hinter den Gardinen der Fenster meines Elternhauses Koblenzer Straße 30, gegenüber dem alten Rathausgebäude, in dem sich heute das Puppenmuseum befindet.

Es war ein gespenstischer Anblick, als die deutschen Soldaten in Sechserreihen, bewacht von französischen Soldaten, an unserem Haus vorbeizogen. Es herrschte eine bedrückende Stille, während sich die ausgehungerten Gefangenen in Richtung Brohl schleppten. Wenn ein Gefangener zusammenbrach, schlugen die Bewacher mit Gewehrkolben auf ihn ein, bis er sich mit Hilfe seiner Kameraden wieder erhoben hatte und weitermarschieren konnte. Die ausgemergelten Soldaten taten uns leid. Sie blickten traurig zu den verschlossenen Fenstern, aber niemand wagte es anfangs, ihnen zu helfen. Meiner Mutter standen die Tränen in den Augen. Sie dachte auch an unseren Vater, der ebenfalls in Gefangenschaft war. Obwohl sie für sich und ihre vier Kinder wenig zu essen hatte, ging sie in die Küche und schmierte Butterbrote. Sie wickelte sie in Papier und warf sie aus dem Fenster, das sie einen Spalt geöffnet hatte. Die Soldaten stürzten sich auf die kleinen Päckchen, worauf die Bewacher sofort auf sie einschlugen. Dann richteten die Franzosen ihre Maschinengewehre auf unsere Fenster. Voller Angst verließen wir unsere Plätze hinter den Gardinen und zogen uns zurück, fuhren aber nach einer Weile wieder mit dem Zuwerfen von Broten fort. Als meine Mutter kein Brot mehr hatte, kam mir eine Idee. In unserem großen Garten standen viele Apfelbäume. Die Klaräpfel waren schon reif. Schnell pflückte ich einen großen Korb voll und stellte mich hinter das Hoftor. Ich öffnete das Tor einen Spalt und rollte einen Apfel nach dem anderen auf die Straße. Die Soldaten stürzten sich auf die Äpfel. Als der Zug zum Stehen kam, machte mir ein Gefangener, der auch einen Apfel bekommen hatte, ein Zeichen. Er deutete auf den Rinnstein am Bürgersteig. Hier hatte der Regen Sand und Schmutz angeschwemmt. Als ich am Abend an der Stelle nachschaute, entdeckte ich ein kleines Leinensäckchen mit Kaffeebohnen, die der Soldat wohl als Dank hier in den Sand gesteckt hatte. Während die Gefangenen vorbeizogen, hatten einige Frauen schwarze amerikanische Soldaten herbeigerufen, die damals im Geyrsprudel-Badehaus wohnten. Sie kamen an die Koblenzer Straße und stellten sich an den Straßenrand. Nun hinderten uns die französischen Bewacher nicht mehr, den Gefangenen etwas zu essen zu geben. Ich hatte meinen Korb zum wiederholten Male mit Äpfeln gefüllt und stand hinter dem Tor, als ein Windstoß die Tür aufstieß, so dass ich mich mit dem Apfelkorb in der offenen Tür befand. Da stürzten sich mehrere Kriegsgefangene auf mich, entrissen mir den Korb mit den Äpfeln und gingen mit ihrer Beute weiter. Den leeren Korb fand ich am Abend in der Nähe des Niederbreisiger Bahnhofs wieder. Der Vorbeimarsch der Kriegsgefangenen durch Niederbreisig, den ich als Kind erlebte, hat sich mir bis heute tief eingeprägt.

Marsch deutscher Kriegsgefangener durch Sinzig im März 1945