Lausbuben am Nürburgring

Ernst Retterath

Ich erinnere mich noch ganz genau daran als mein Vater mich zum ersten Mal auf den Nürburgring mitnahm. Es war das erste Rennen nach dem Krieg im Jahre 1947 und ich war noch eine kleiner Bub von fünf Jahren. Heute bin ich selbst Vater und habe Kinder, die auch schon wieder zu Veranstaltungen wie „Rock am Ring", „Formel 1" oder „Oldtimer-Grand-Prix" auf den Nürburgring fahren. Geändert hat sich seit jener Zeit so viel, dass sich meine Kinder heute kaum vorstellen können, wie das Renngeschehen aus meiner Perspektive vor über 50 Jahren ablief.

Ganz erwartungsfroh war ich jedenfalls als Kind vor meinem ersten Nürburgringbesuch, da mir mein Vater schon viel vom Ring erzählt hatte. Ich freute mich zudem, dass ich nicht im landwirtschaftlichen Betrieb meiner Eltern helfen musste und von zu Hause fort kam.

Öffentliche Verkehrsmittel gab es bis in die 1950er Jahre zwischen meinem Heimatort Lind und dem Nürburgring nicht, so dass wir den etwa 7 km weiten Weg zu Fuß auf Feldwegen marschierten. Der Nürburgring war damals weder abgesperrt noch eingezäunt, wie er es heute ist.

Auch während eines Rennens liefen Zuschauer einfach über die Rennstrecke, wenn sie eine andere Sichtposition einnehmen wollten.

Für uns lag der Streckenabschnitt am sogenannten „Schwalbenschwanz" am günstigsten. Von dort aus beobachteten wir meist das Renngeschehen. Bei späteren Rennen waren Lautsprecherdurchsagen, so zum Beispiel, dass ein Rennfahrer durch ein vorbeilaufendes Reh von der Rennstrecke abgekommen sei, keine Seltenheit. Rehe und anderes Wild wurden verständlicherweise durch die Motorengeräusche aufgescheucht und liefen in Panik auf die Rennstrecke.

Für mich als Kind war es schon interessant, wie die weiß gekleideten Eisverkäufer mit Bauchladen Eis am Stil verkauften. So etwas hatte ich bisher noch nie gesehen. Es war für mich faszinierend zu beobachten, wie das Eis aus dem Bauladen ausgepackt wurde, da damit gleichzeitig auch immer weißer Dampf aus der kleinen Kühlbox zog.

Ein Eis war damals verhältnismäßig teuer und weil ich aus ärmlichen Verhältnissen kam, war es einfach nicht „drin", dass ich ein Eis bekam.

Auch sah ich am Nürburgring zum ersten Mal Bratwurstbuden. Ebenfalls faszinierte mich das lebhafte Treiben der unterschiedlichen Menschen beim Renngeschehen. Angefangen bei den unterschiedlichen Kleidern und der Art wie sie sich gaben. Frauen sonnten sich entlang der Rennstrecke im Bikini, was zu dieser Zeit schon außergewöhnlich war. Das Größte waren für mich die Rennwagen, die mit hoher Geschwindigkeit in die Kurven rasten. Mich beeindruckten diese Autos ohne Kotflügel, bei denen die Räder im Ganzen sichtbar waren.

Bei nachfolgenden Rennen kann ich mich daran erinnern, dass ich nur wegen eines Papierfähnchens oder Sonnenschirmchens aus Pappe zu Fuß bis zum Nürburgring gegangen bin.

Zu Werbezwecken wurden solche Sachen auf den Zufahrtsstraßen aus vorbeifahrenden Autos herausgeworfen. Wenn ich dort eine leere Papierschachtel fand, so war das für mich als kleiner Junge schon ein Schatz. Es gab auch kurz nach dem Krieg bereits wieder Leute, die sich Pralinen leisten konnten und die für uns Kinder so begehrten Pappschachteln achtlos wegwarfen.

An den Motorengeräuschen hörten wir von meinem Heimatort aus schon einige Tage vor einem Rennen, dass auf dem Ring etwas los war. Rennfahrer trainierten dort. Die Vorfreude war groß, denn man wusste, dass es sonntags nach der heiligen Messe zum Autorennen gehen würde. Zu Essen nahm man sich Butterbrote in einer Tasche mit. Ich kann mich noch an ein Rennen erinnern, bei dem ich 5-Pfennig Papiergeld gefunden habe. Ich war stolz, denn ich erhielt für diese 5 Pfennige im Nachbarort im dortigen Kolonialwarengeschäft 5 Bonbons dafür. Um zu diesem Geschäft zu kommen, musste ich von meinem Heimatort aus 3 km weit laufen.

Weil wir bei Rennen nicht immer nur am „Schwalbenschwanz" stehen wollten, sind wir auch gelegentlich zu „Start und Ziel" gegangen, was immerhin 4 bis 5 km entfernt lag. Aber wir wollten uns die Faszination des lebhaften Treibens der Menschen auf den Tribünen und an den Hotels nicht entgehen lassen.

Einige Jahre später, so um 1949, kannte ich den Fußweg zum Nürburgring schon recht gut. Mit gleichaltrigen Jungen taten wir uns dann zusammen und liefen gemeinsam zum Ring.

Zu diesem Zeitpunkt war der Ring allerdings schon mit Maschendrahtzaun abgesichert, und es wurde Eintritt an einer Sperre erhoben. Da wir nur wenig Taschengeld erhielten und das nicht ausgereicht hätte, um den Eintritt von etwa 3 Mark zu bezahlen, sind wir unter dem Drahtzaun hindurchgekrochen.

Das Problem waren jetzt auf dem Nürburg­ringgelände die vielen Kontrolleure, die auch innerhalb des Geländes kassierten. Wer schon bezahlt hatte und wer nicht, war für die Kontrolleure leicht zu erkennen, denn diejenigen, die Eintritt bezahlt hatten, erhielten jeweils ein Ansteckfähnchen.

Das Aufsichtspersonal machte auch vor uns kleinen Steppkes nicht Halt und verwies uns vom Zuschauergelände, wenn wir entdeckt wurden.

Deshalb waren wir immer auf der Lauer. Eine musste ständig nach Kontrolleuren Ausschau halten, während der Rest sich auf das Rennen konzentrieren konnte. Für uns Buben war so ein Rennen daher im doppelten Sinne aufregend und voller Spannung. Zum einen wegen des Rennens an sich und dann noch wegen der Angst, ohne Eintrittskarte erwischt zu werden.

Ich kann mich noch gut an einen Vorfall erinnern, als wir Kinder auf dem Weg vom „Schwalbenschwanz" in Richtung „Start und Ziel" waren und auf der Zufahrtsstraße reger Betrieb herrschte. Ein Polizeifahrzeug hielt neben uns an. Uns allen fiel das Herz in die Hose. Wir dachten, wir würden verhaftet, weil wir keine Eintrittskarten hatten. Jeder von uns guckte den anderen an. Ein Polizist stieg aus und fragte uns, wo wir herkämen. Da wir ja aus einem kleinen Dorf kamen, waren wir den starken Autoverkehr auf der Zufahrtsstraße nicht gewöhnt und mussten scheu und ängstlich auf den Polizisten gewirkt haben. Er ermahnte uns, wir sollten gut aufpassen. Dann fuhr er weiter. Wir alle waren glücklich und glaubten einer Verhaftung entgangen zu sein. Dabei war es der Polizei egal, wer Eintritt gezahlt hatte und wer nicht.

Das war nur die Aufgabe der Kontrolleure.

Der Weg zum „Start und Ziel" hat uns deshalb so gereizt, weil dort nach dem Rennen die Siegerehrung stattfand. Das war der Höhepunkt eines jeden Rennens. Wenn ein deutscher Fahrer Sieger wurde und unsere Nationalhymne gespielt wurde, lief es mir als Kind immer kalt den Rücken runter, so dass ich eine Gänsehaut bekommen habe. Ich beobachtete auch, dass Leute dabei geweint haben.

Um als kleine Jungs auf den Vorplatz des Sporthotels an „Start und Ziel" zu kommen, krochen wir am Kontrollhäuschen auf allen Vieren unter der Kontrollluke vorbei, da wir ja kein Geld für den Eintritt hatten. Wir waren dabei natürlich ängstlich und aufgeregt, aber der Reiz des Nürburgrings war größer. Einmal auf diesem Platz angekommen, musste man auch

keine Kontrolleure mehr fürchten, denn hier wurde man nicht mehr auf Eintrittskarten überprüft.

Durch Zufall fand ich einmal sogar eine Eintrittskarte für einen Tribünenplatz, so dass ich mit meinen Kumpels die gute Aufsicht auf den Ring von der Zuschauertribüne genießen konnte. Das hatte allerdings böse Konsequenzen.

Als das Rennen vorbei war und die Zuschauer die Tribüne verließen, hörten wir, wie ein Herr Jugendlichen unter Schreien und Schimpfen die Taschen entriss.

Auch ich hatte eine Tasche dabei, worin ich meine Butterbrote mitgenommen hatte. Die Tasche war jetzt voll gepackt mit allen Sachen, die ich an diesem Tag auf dem Nürburgringgelände gefunden hatte. Darunter befand sich ein Rennprogramm, einige Rennzeitschriften, Sonnenschirmchen aus Papier, Papierfähnchen usw.

Als der Herr mich sah, kam er auf mich zu und entriss auch mir die Tasche. Ich bat ihn unter Tränen, mir die Tasche zurückzugeben, aber er störte sich überhaupt nicht daran. Es war die einzige Ledertasche meines Vaters, die er mir nur ausnahmsweise geliehen hatte. Weinend kam ich nach Hause und erzählte den Vorfall.

Mit meiner Mutter fuhr ich am nächsten Tag mit dem Fahrrad zum Sporthotel, um die Angelegenheit aufzuklären. Dazu musste ich für einen Tag vom Schulunterricht befreit werden.

Von Angestellten des Sporthotels erfuhren wir, dass der Chef des Hotels Jugendlichen die Taschen abgenommen hatte, weil einige Tassen oder Teller des Sporthotels mitgenommen hatten.

Es gelang uns schließlich, den Chef zu sprechen. Er konnte sich natürlich an den Vorfall erinnern. Aber zu einer Entschuldigung wegen seines zu Unrecht erfolgten Verdachts konnte er sich nicht durchringen. Meine Ledertasche hatte er aber bereits bei der Polizei des Nürburg­rings abgeliefert.

Es dauerte dann noch Wochen, bis ich die Tasche über den Bürgermeister meines Heimatortes ausgehändigt bekam.

Im Laufe der Jahre wurden die Einlasskontrollen und die Absicherung des Geländes mit Zäunen immer strenger.

Als die Eltern meines Freundes auf dem Nürburgringgelände eine Trink- und Imbissbude unterhielten, hatten diese selbstverständlich Eintrittskarten, um auf das Gelände zu kommen. Die Karten wurden uns dann durch den Maschendrahtzaun gereicht. So konnten wir oft 7-8 Jugendliche auf den Zuschauerplatz schleusen. Auch jetzt mussten wir auf Kontrolleure achten, aber darin hatten wir Übung.

Durch das Sammeln von Pfandflaschen besserten wir uns bei unseren Rennbesuchen unser Taschengeld auf.

Im Laufe der Jahre habe ich viele aufregende Renntage auf dem Nürburgring verbracht.

Ich hoffe, dass meine Kinder heute ebenfalls schöne Stunden am Nürburgring verbringen, damit auch sie ihren Kindern davon berichten können.