Vom Nutzen der Vielfalt

Betrachtungen zum Erlebniswert der Kulturlandschaft

Dr. Bruno P. Kremer

Kalenderfotos und Landschaftsbildbände über eine Region sind ein gleichermaßen zuverlässiger Indikator: Üblicherweise bieten sie als Motive keine finsteren Fichtenforste an, ebenso wenig horizontweite Rübenäcker oder die Asphaltbänder grauer Landstraßen. Ein Mittelgebirgsausschnitt mit sanft geschwungenen Hügelketten und verträumt eingebetteten Dörfern hat schon eher Chancen für die Bildauswahl. Vielfältige landschaftliche Ensembles sprechen das Gemüt eben erfahrungsgemäß unmittelbarer an. Offene Fluren mit Tälern und Höhen, mit Ebenen, Mulden und Hügelketten, Bächen und Weihern, Höfen und Weilern ist sozusagen die Bilderbuchlandschaft schlechthin. Sie gilt vielfach als Inbegriff einer ganzheitlich erlebniswerten Natur.

Landschaft mit Doppelnatur

Die umschriebene Idylle besteht unbestritten, aber ihr Naturbegriff bedarf der genaueren inhaltlichen Abgrenzung. Streng genommen ist die prächtige, abwechslungsreiche Szenerie, die sich in Gestalt der skizzierten Sonntagslandschaft darbietet, durchaus keine Natur im Sinne primärer, unberührter, vom Menschen gänzlich unbeeinflusster Räume und ihrer Lebensgemeinschaften. Fast alle benannten Flächenstücke erweisen sich bei näherer Betrachtung ausnahmslos als Ersatzlösungen sie sind nämlich das Ergebnis einer auch in Mitteleuropa Jahrtausende langen und auf weiten Strecken durchweg kämpferischen Auseinandersetzung des Menschen mit der vorgefundenen Wildnis. Auch wenn Sonnenschein und stahlblauer Himmel in viel versprechendes Grün und sprichwörtlich "hinaus in die Natur" locken, besteht das bunte Fleckenwerk, welches uns draußen aufnimmt, überwiegend aus anthropogenem Naturersatz. Seit der jüngeren Altsteinzeit richtete sich der Mensch in der Naturlandschaft ein. Über rund ein Jahrzehntausend hinweg ist daraus eine Flächen überspannende und dabei recht vielschichtige Kulturlandschaft entstanden.

Seine enorme Beliebtheit verdankt der Rotweinwanderweg den Weitblicken in die Landschaft.

Deren Einzelphasen und Zeithorizonte sind (auch) für das Rheinland hervorragend dokumentiert. Unbeeinflusste, unveränderte Natur aus erster Hand gibt es demnach nicht mehr. Selbst kleine, eingestreute Lebensraumflecken von annähernd natürlicher Beschaffenheit wie Moore oder Seen sind rundum von Kulturland umgeben und daher unvermeidlich seinen Beeinträchtigungen ausgesetzt. Hätte dieser stetige und folgenreiche Wandel zur Kulturlandschaft nicht stattgefunden, sähe das Landschaftsbild in Mitteleuropa völlig anders aus. Unter den sich verbessernden Klimabedingungen der Nacheiszeit wurden sommergrüne, Laub werfende Bäume auf allen geeigneten Standorten die mit Abstand konkurrenzstärksten Pflanzen. Die natürliche, Jahrhunderte und Jahrtausende umfassende Vegetationsentwicklung lief noch vor dem Anbruch der eigentlich historischen

Landschaft ist immer dann besonders erlebnisreich, wenn sie den Eindruck von Vielfalt bietet.

Zeit auf dichte, weithin geschlossene Laubwälder hinaus. Abhängig von Boden, Ausrichtung zur Sonne, Hangneigung, Niederschlagsversorgung und anderen Umweltfaktoren entwickelten sich unterschiedliche Waldgesellschaften, beispielsweise Buchenwälder, Eichen-Hainbuchenwälder oder Auenwälder, wie man sie an vielen Flussabschnitten der Ahr findet. Allein für das Gebiet des Landkreises Ahrweiler ist ein rundes Dutzend unterschiedlicher Waldgesellschaften kartierbar. Ohne den kontrollierenden Einfluss des wirtschaftenden Menschen trüge die mitteleuropäische Landschaft demnach bis heute immer noch recht ausgedehnte, aber ziemlich gleichförmige Urwälder. Allerdings hat die Naturlandschaft diesen Endzustand der spontanen nacheiszeitlichen Vegetationsentwicklung wohl nie auf ganzer Fläche erreichen können. Einerseits diskutiert man in diesem Zusammenhang zunehmend die lenkenden Effekte der in der Nacheiszeit auch in unserem Gebiet herdenweise umher ziehenden Pflanzenfresser. Andererseits breiteten sich lange vor den klimatisch vorgegebenen, abschließenden Übergängen zu den verschiedenen standortabhängigen Wald-Dauergesellschaften im Rheinland die ersten bäuerlichen Kulturen der Jungsteinzeit aus. Spätestens in dieser Phase setzte eine stärkere Beeinflussung mit beabsichtigter Veränderung der natürlichen Gefüge ein. Für die ökologische Stabilität der verschiedenen Waldökosysteme blieben diese Eingriffe anfangs wohl noch ohne größere Bedeutung. Die Fähigkeit zur Selbstregulierung geriet allerdings sichtlich an die Grenzen, als die Wälder erstmals beim Übergang in die historische Zeit und dann erneut während der frühmittelalterlichen Rodungsperioden immer wieder intensiv genutzt wurden. In der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert waren weite Teile der Eifel nahezu waldfrei, eindrucksvoll dokumentiert beispielsweise in den Landschaftsbildern des Düsseldorfer Malers Fritz von Wille.

Offenlandsäume und Gebüschgruppen bringen Vielfalt in den Wegverlauf.

 Nachdem die Waldbestockung fast überall aufgelichtet oder sogar flächig entfernt war, hatte die Landschaft ihre zweite Natur angenommen primäre Waldstandorte waren schrittweise, offensichtlich unaufhaltsam und auf großen Strecken auch unumkehrbar in das kulturlandschaftliche Flächenwerk der Siedlungs-, Acker- und Verkehrsflächen umgewandelt. Selbst die verbleibenden Waldstücke sind unterdessen fast überall in unterschiedlichem Maße kulturlandschaftlich überformt.

Anreichernde Flächenvielfalt

Landschaftsökologisch betrachtet setzte mit der Zurückdrängung des Waldes durch agrikulturelle Flächensysteme eine bemerkenswert folgenreiche und äußerst vielschichtige Entwicklung ein, die einerseits zwar einen großflächigen Verlust an primärer Naturlandschaft mit sich brachte, auf der anderen Seite paradoxerweise jedoch überhaupt erst die (kultur)landschaftliche Vielfalt schuf, die wir heute unvoreingenommen als vielgliedriges, höchst lebendiges und betont erlebniswertes Gefüge schätzen. Mit dem auflockernden Wandel des ursprünglichen Waldlandes hielten nämlich völlig neue, bisher nicht vorhandene Lebensraumtypen Einzug in die mitteleuropäische Landschaft: An die Stelle von Natur (d.h. dem Wald als Primärbiotop) setzte der siedelnde, rodende und ackernde Mensch die Sekundärbiotope seiner Kulturlandschaft und schuf damit ein mosaikartig zusammengesetztes Flächengefüge von völlig andersartigem und zuvor nie gekanntem ökosystemarem Aufbau.

Die Radwanderwege im Kreisgebiet bieten abwechslungsreiche Szenerien: In der Goldenen Meile bei Sinzig. 

Mit der frühesten im Gebiet nachweisbaren bäuerlichen Kultur (Linienbandkeramik, etwa ab 5300 v. Chr.) und der davon getragenen neolithischen Revolution erfolgten gestaltende Eingriffe mit bleibenden Folgen für Vegetationsstruktur und Bodenbeschaffenheit. Die weitere Entwicklung der Pflanzendecke war seither nicht mehr allein von Klimaentwicklung und Spontanzuwanderung einzelner Arten (gruppen) abhängig, sondern in zunehmendem Maße von den lenkenden Eingriffen des Menschen. Spätestens mit der älteren Eisenzeit (ab 700 v. Chr.) ist der Beginn einer großflächigen Veränderung der natürlichen Vegetation anzusetzen, ablesbar an der beträchtlichen Zunahme von Gräser- (Getreide-) und Krautpollen als Offenland-Indikatoren in den entsprechenden Pollenhorizonten. Die jetzt zunehmend zur Kulturlandschaft umgestaltete Natur zeichnet sich nun im Gegensatz zur reinen Waldbedeckung durch eine beachtliche und neue Vielfalt ihrer Raumstrukturen auf vergleichsweise kleinen Flächendistanzen aus. Wo sich in der Naturlandschaft recht einheitliche Biotope ausbreiten, finden sich nunmehr nutzungsbedingt zahlreiche kleinere Ensembles höchst unterschiedlichen Charakters, deren Gemeinsamkeit ihr zum Wald erheblich kontrastierender Offenlandcharakter ist. In buntem Wechsel überzieht fortan ein Flickenteppich verschiedener Flurstücke das Land. Einerseits sind es die vielen Acker-  und Grünlandparzellen mit ihrer jeweils spezifischen Nutzung, dazu aber auch die verbliebenen Restwälder, Gehölzinseln, Raine, Säume, Wegränder oder Brachflächen. Der Umbau der nutzbaren Naturlandschaft zur tatsächlich genutzten Kulturlandschaft zog damit eine beträchtliche landschaftliche Differenzierung und Anreicherung nach sich. Jeder mitteleuropäische Landschaftsausschnitt integriert somit in seinem Vegetationsmosaik Anteile völlig verschiedenen Entstehungsdatums. Der beträchtliche Zugewinn an solchem Abwechslungsreichtum in der Flächenbemessung, den wir heute als besonders erbauendes und geradezu ästhetisches Naturerlebnis empfinden, beschränkte sich nicht allein auf das Erscheinungsbild der Landschaft. Im Unterschied zur eher gleichförmigen Naturlandschaft weisen die abwechslungsreichen anthropogenen Sekundärbiotope des Kulturlandes nicht nur andere, sondern durchweg neue Artenensembles aus Flora und Fauna auf. Überwiegend waren es Arten aus den von Natur aus waldfreien Räumen Südeuropas und Vorderasiens, die nach und nach in die neuen Lebensraumtypen nördlich der Alpen spontan einwanderten oder verschleppt wurden. Beispiele aus der Tierwelt sind neben etlichen Wildbienen vor allem solche Arten die bezeichnenderweise die Namensbestandteile "Feld-" oder "Haus-" tragen, beispielsweise Feldgrille, Feld- und Haussperling, Feldhamster, Feld- und Hausmaus sowie verschiedene weitere "kulturfolgende" Gliederfüßer, Vögel und Kleinsäuger, die bevorzugt oder sogar ausschließlich Offenlandbiotope besiedeln. Beispiele aus der Pflanzenwelt sind die als Archäophyten bezeichneten Arten, die wie Kamille, Kornblume oder Klatsch-Mohn zu den typischen Begleitkräutern der Getreideäcker werden oder allmählich die Gesellschaftsgefüge der Ruderalvegetation aufbauen, darunter Weiße Taubnessel, Schöllkraut oder Große Brennnessel. Man kann davon ausgehen, dass ein sehr großer Teil des heute in der Kultur- und Siedlungslandschaft vertretenen Artenbestandes auf diese frühe Einwanderungswelle zurückzuführen ist. Rund gerechnet verzehnfachten sich die Artenaufkommen der Kulturlandschaft gegenüber dem Ausgangsbestand der ehemaligen Waldstandorte. Waldinseln oder andere Reste von Natur "aus erster Hand" sind in der Kulturlandschaft nunmehr nur noch ein Bestandteil neben vielen, die zuvor nicht vorhanden waren. Insofern vermag das Kulturland also im Gegensatz zum eher einheitlichen Waldland eine beachtliche, ja fast unglaubliche Fülle verschiedener Lebensräume und entsprechend vielfältig zusammengewürfelter Artengefüge anzubieten. Mit einem modernen Begriff lässt sich dieser Sachverhalt auch so ausdrücken: Gegenüber der Naturlandschaft hat die Biodiversität in der unter der Hand des Menschen entwickelten Kulturlandschaft beträchtlich zugenommen.Überall fällt der Gesamteindruck demnach, wie die eingangs zitierte Bilderbuchlandschaft unschwer erkennen lässt, selbst im städtischen oder stadtnahen Umfeld entsprechend bunt und reichhaltig aus. Wo sich ein Ackerrain mit üppigem Blütenflor aus Kamille oder Klatsch-Mohn schmückt, sieht auch ein ansonsten auf optimale Ertragsleistung getrimmtes Flurstück nach üblicher Einschätzung zwar natürlich aus, ist aber ausschließlich anthropogen bedingt. Wenn im Laufe des Frühjahrs und Sommers nacheinander gelbe, weiße und blaue Blühwellen über eine Futter- bzw. Mähwiese rollen, inszenieren sich nach vegetationskundlichen Kriterien auch nicht die reine Natur, sondern lediglich ihre Folgeentwicklungen, denen der wirtschaftende Mensch den Bedingungsrahmen setzt. Selbst die von weitem so nichtssagend und unproduktiv aussehenden Magerrasen entlang des oberen Ahrtals, die jedoch mit überaus prächtigen Orchideenvorkommen überraschen, sind letztlich nur historisch entstandenes Kulturland. Wenn man sie nur lässt, verwirklicht sich die Natur auch unter den veränderten Bedingungen der Flächenbewirtschaftung und füllt dabei den abgesteckten Rahmen der Kulturlandschaft mit vielen verfügbaren Mitteln aus. Selbst im Siedlungsraum, im unmittelbaren Wohn- und Arbeitsumfeld des Menschen, kann sich reichhaltige Ersatznatur einstellen. Gärten und Obstbaumbestände (Streuobstwiesen), dazu auch Trockenmauerwerk und Lesesteinriegel, Hecken und Brachlandstreifen sind bei näherem Hinsehen recht wertvolle, weil artenreiche und in ihrer Artendynamik geradezu überbordende Sekundärbiotope. Sie sind überdies auch nur in ihrer ökosystemaren Vernetzung und bei fortdauernder Einwirkung erhaltungsfähig, die fallweise immer wieder die Sukzession unterbrechen muss.

Streuobstwiesen (bei Waldorf) gehören zu den ökologisch wertvollsten Bestandteilen einer Kulturlandschaft.

Schutz der Ersatznatur

Der historisch gewachsene Lebensraum aus zweiter Hand kann also durchaus paradiesische Züge annehmen. Mehr noch: Die "second hand"-Natur gilt häufig vor allem wegen ihres unerwarteten und ausgefallenen Artenreichtums als ausgesprochen schützenswert. Die Liste der Naturschutzgebiete in Rheinland-Pfalz und eben auch im Landkreis Ahrweiler weist es klar aus. Aus ökologischen, floristischen und/oder faunistischen Gründen sind tatsächlich nicht nur die so genannten Primärbiotope wie Urwaldreste, Moore, Quellfluren, Gewässer, Felsen oder Binnendünen geschützt, sondern in stattlicher (und sogar überwiegender) Anzahl gerade die unter dem Flächenregime des Menschen entstandenen Ersatzstandorte wie Orchideenwiesen, Enzianmagerrasen, Wacholderheiden, Nassfluren oder künstlich angelegten Gewässer. "Natur"schutz bezieht - so versteht es auch §1 des unlängst neu gefassten Bundesnaturschutzgesetzes als ausdrücklichen Auftrag - auch die reale Ersatznatur der Kulturlandschaft ein. Zum einen erweist sie sich oft als unverzichtbares Artenrefugium, während andererseits nach dem Willen des Gesetzgebers "die Vielfalt, Eigenart und Schönheit von Natur und Landschaft als Lebensgrundlagen des Menschen und als Voraussetzungen für seine Erholung nachhaltig zu sichern" sind.

Historische Kulturlandschaft wird gern gesehen: Hahnensteiner Mühle bei Insul.

Obwohl der gelegentlich zitierte Begriff der "second hand"-Natur in der öffentlichen Wahrnehmung nicht unbedingt positiv besetzt ist, müssen die solchermaßen etikettierten Lebensräume durchaus keine abgegriffenen, minderwertigen, ökologisch entwerteten Ersatzlösungen darstellen. Natur und Kultur sind nach modernem landschaftsökologischen Verständnis auch kein grundsätzlicher begrifflicher Gegensatz, sondern eher komplementär zu sehen. Ohne die gewachsene Reichhaltigkeit der Kulturlandschaft wäre unser aktives oder passives Naturerleben deutlich ärmer und mit Sicherheit einseitiger bzw. langweiliger. Auf diesem Hintergrund stellt sich natürlich auch die Frage, welche "Natur" im konkreten Fall beim Vollzug des Bundesnaturschutzgesetzes oder der damit fast identischen Vorgaben der entsprechenden Landesgesetze (in Rheinland-Pfalz Landespflegegesetz genannt) zu schützen ist. Dieses Problem betrifft außerdem die gesamte Leitbilddiskussion in der modernen, ökologisch orientierten Kulturlandschaftspflege. Der Wandel zur Kulturlandschaft, der die ursprünglich vorhandenen Naturräume Jahrhunderte lang durchgliederte und auf mancherlei Wegen beträchtlich mit neuen Arten und Lebensgemeinschaften anreicherte, hielt etwa bis zum Beginn der industriellen Revolution vor der Wende zum 20. Jahrhundert und gebietsweise auch noch bis etwa zum Zweiten Weltkrieg an. Indessen sind seit geraumer Zeit gegenläufige Trends zu beobachten. Steigender Flächenverbrauch für eine erheblich angewachsene Bevölkerung, die enorme Intensivierung der zunehmend monostrukturierten Agrar- und Forstwirtschaft, dazu auch eine zuvor nie dagewesene Quantität in der Infrastruktur und Vernetzung dörflicher und urbaner Siedlungen brachten seit den 1960er Jahren eine Welle der Entdifferenzierung und Nivellierung von Landschafts- und Siedlungsbildern mit sich. Der immer bedrohlichere Rückgang der Artenvielfalt, dokumentiert im Anwachsen der ständig fortgeschriebenen Roten Listen bedrohter Pflanzen- und Tierarten, ist dafür ein unmittelbar fassbares Maß. Wir erleben somit gegenwärtig eine beträchtliche Verarmung von Kleinstrukturen und ihren Arteninventaren der Kulturlandschaft, die zu großer Sorge Anlass gibt und mit dem Schlagwort von der ökologischen Entwertung nur allzu summarisch umschrieben wird. Merkwürdigerweise nimmt auch das Maß an Toleranz deutlich ab. Da sich Natur oder Ersatznatur nach ihren eigenen Ordnungsprinzipien entfalten und mithin durchaus chaotisch aussehen können, kollidieren sie mit dem an einfachen, weil linearen Ordnungsstrukturen orientierten Empfinden vieler Menschen, die folglich versuchen, die angeblich bedrohlich ungezügelte Vielfalt in übersichtliche, saubere Bahnen zu lenken, dabei alles wieder zu vereinheitlichen, geradlinig einzurichten und vor allem pflegeleicht umzugestalten. Ökologisch ist die sich nach wirtschaftlichen Kategorien progressiv gebärdende Nutzungsintensivierung der bisher gegebenen kulturlandschaftlichen Vielfalt zur Agrar-, Industrie- und Siedlungssteppe ein enormer Rückschritt, mit einer bedenklichen Bereitschaft, die vielen sympathischen Züge einer erlebniswerten Umwelt zu opfern. Dabei steht viel auf dem Spiel, vor allem (die auch in den Zielvorstellungen des neuen Bundesnaturschutzgesetzes benannte) Erhaltung der Funktions- und Leistungsfähigkeit des Naturhaushaltes, der in der verödeten Industriesteppe nicht mehr greifen kann.

Sichern und Bewahren

Die traditionelle Kulturlandschaft, einschließlich ihrer dörflichen oder städtischen Siedlungsräume, weist mit ihrem Artenreichtum und ihrer Flächenvielfalt gleichermaßen schutzwürdige Elemente und Ensembles auf. Was sich in Jahrtausenden und Jahrhunderten extensiver Landnutzung entwickelt hat, bleibt nach wie vor ein vordringliches und sicher auch lohnendes Entwicklungsziel unserer schon weithin ausgeplünderten und abgeräumten Landschaft. Insofern verzahnen sich in der konkreten Kulturlandschaftspflege die Interessenfelder von Naturschutz, Denkmalpflege und historischer Kulturgeographie. Schließlich ist auch die wirtschaftlich konsolidierende Rolle eines umweltverträglichen Ökotourismus nicht zu unterschätzen. Für fast alle mitteleuropäischen Landschaften lassen sich am Freizeiterleben orientierte Erlebnispotenziale definieren, auch wenn die natürliche Ausstattung fallweise nicht immer so reichhaltig ist wie beispielsweise in der Vulkaneifel oder entlang des Rotweinwanderweges. Insbesondere die Land- und Forstwirtschaft stehen gegenwärtig am Verzweigungspunkt zwischen weiterer Industrialisierung und behutsamer Ökologisierung. Der Mensch als Produkt der Natur ist zugleich ihr Ausbeuter und Kostgänger, besitzt aber auch die einzigartige Chance, seinen Platz verantwortlich neu zu bestimmen. Man wird die Qualität (agrar- und struktur)politischer Entscheidungen künftig wohl verstärkt daran messen müssen, ob sie die landschaftliche Vielfalt erhalten, naturgegebene Ressourcen schonen und Traditionelles bewahren oder einfach in Kauf nehmen, dass uns die Zivilisationslandschaft beim Sonntagsausflug schon in naher Zukunft nur mit Asphalt und Beton, mit stummem Frühling ohne Vogelgesang und überwiegend mit Fichtenforsten oder Maisäckern empfängt. Dieser Sachverhalt bedarf der nachhaltigen Verankerung auch im öffentlichen Bewusstsein.

Literatur: