DIE Familie

Von feremias Gotthelf

Wo das Ringen mit der Gegenwart den Menschen nicht mehr allein faßt, sein Herz sich losgemacht hat von den Dornen und Disteln des gemeinen Lebens, da denkt er an die Vergangenheit, kümmert sich um die Zukunft, sorget für das Los seiner Kinder, forschet nach denen, die ihn auf die Welt gestellt, ihm sein Dasein verschafft. Über der Menschheit tiefsten Niederungen, wo der Mensch beginnt, Vergangenheit und Zukunft in Beziehung auf sich und die Seinen ins Auge zu fassen, entsteht die Familie.

Der Familie Schatzkästlein soll aber nicht sein das Verzeichnis der bloßen Namen der gestorbenen Familienmitglieder, soll nicht bloß enthalten Sparpfennige der haushälterischen Ahnen, sondern dieses Schatzkästlein soll enthalten Sitten und Erlebnisse der Väter, zur Warnung und Weisheit der Kinder. An dieser Familiengeschichte sollen Kinder aufwachsen wie am Spalier der edle Fruchtbaum. Der Väter Sinn und Art, welche sie über das Gestrüpp erheben, wird auf die Kinder übergehen. Dieses wird vergessen, Namen oder Geld, am liebsten Namen und Geld, meint man, machen die Sache, das sind aber beides tote Dinge und erhalten sich nicht, ohne Seele sind sie, ein Leib, der verfault, weil eben die Seele gewichen. Freilich schämt man sich zuweilen der Familiengeschichte, darf den Kindern sie nicht erzählen; Torheit! Wie treu und schön erzählt nicht das Alte Testament den Kindern das Tun der Väter Israels, beides, zum Vorbild und zur Warnung!

Man spotte darüber, wie arg man mag, und nenne es ein durch den Zeitgeist überwundenes Vorurteil, wenn eine Familie gern alt ist und ihren alten Bestand nachzuweisen sucht, es ist ein Gefühl, welches tief in der Natur liegt, welches kein Zeitgeist überwindet. „Es sind ja alle Familien gleich alt", pflegt man zu spotten, „oder bist du älter als von Adam her, so sag's!" Das ist ein dummer Witz, so genommen sind wir alle gleich alt und stammen alle aus einem Blute, aber wir haben nicht bloß ein leibliches Dasein wie jedes andere Lebewesen, wir haben auch ein geschichtliches Dasein. Dies ist das Vorrecht der Menschen so gut als Ehe und Erbrecht.

In das geschichtliche Dasein tritt eine Familie oder kommt zum historischen Bewußtsein ihrer Existenz durch festes Besitztum oder eine bedeutende Persönlichkeit. Durch diese beiden Faktoren hauptsächlich werden Namen gemacht, die Familie erhält Bedeutung in ihrer und anderer Augen, man spricht von ihr, man erzählt von ihrem Werden, ihrem Sein, sie erhält eine Vergangenheit; wer eine Vergangenheit hat, darf auf eine Zukunft hoffen. Das Tier kennt das eine nicht, hofft auf das andere nicht. Um der Zukunft willen soll der Mensch die Vergangenheit hochhalten, sie soll ihm heiligen die Gegenwart. Tut sie das nicht, bewahrt und pflegt der Mensch die Tugenden nicht, welche der Familie ihr Dasein gegeben, so untergräbt er die Zukunft, es bewahrt sich die Familie nicht, sie fault in den Wurzeln ab, der Wind verweht ihren Staub. Es ist sonderbar: eine Masse, welche keinen Namen hat, kein historisches Dasein, tobt nicht bloß gegen solche Namen, sondern verhöhnt und verspottet auch die Tugenden, durch welche sie erworben werden, und kommt einer aus dieser Masse zu der Hoffnung, eine Familie zu gründen, den Fuß irgendwie in den Bügel zu setzen, so ist er, durch die Natur gezwungen, umgewandelt, und sein eifrigstes Bemühen geht auf die Erhaltung dessen, was er früher aufs leidenschaftlichste verfolgt. Der wütende Saulus wird zu einem Paulus. Nun freilich fehlt ihnen dann der Verstand, in der Wahl der Mittel haben sie keine Erfahrung, daher auch keine Weisheit, und werden um so größere Toren; je mehr der sogenannte Zufall bei ihrer Erhebung beteiligt war, um so kürzer wird dann gewöhnlich aber auch die Herrlichkeit.