Ein wiedergefundenes Paradies

VON JULIUS EIGNER

Wir kamen von der Großstadt und zogen in ein altes Haus am Wald, in dem seit Menschengedenken niemand mehr gewohnt hat. Anfangs war uns manches so unheimlich, so das Rufen der Käuze in der Nacht, die vielen Tierlaute, auch das Geräusch, das der Sturm im Geäst der Bäume verursachte. Aber wir gewöhnten uns an das viele Neue und waren bald überzeugt, daß wir hier ein Paradies gefunden hatten. Zu= erst war es der Wald und sein geheimnisvolles Leben, das uns fesselte; dann die Tiere, die in ihm wohnten: die Fuchsfamilie, der Dachs, das Rehkitz, das wir unter Farnen fanden. Und schließlich wären es die Vögel, die uns begeisterten, und ihnen gehört noch heute unsere ganze Liebe. Die Vögel, die draußen in der großen Freiheit leben, teilen unser Haus mit uns; sie kommen ans Fenster und begehren Einlaß, sie fliegen auf den Tisch, ja sie setzen sich uns auf die Hand. Durch ihr Vertrauen zu uns erhalten wir Einblicke in eine Welt, die den Menschen noch weitgehend verschlossen ist, denn wir nehmen teil an den Ereignissen, die ihr Dasein bestimmen, und wir sind einbezogen in ihr Leben. Dadurch weitet sich unser Blick für die ganze Schöpfung.

Es ist sicherlich rührend und vielleicht auch aufregend, wenn Vögel der freien Natur — die wohl das Symbol der Freiheit sind — sich dem Menschen zutraulich anschließen. Durch das allmähliche echte Vertrautwerden erhalten wir viele Einblicke in ihr Leben, die uns manches erklären. Mit den Kohlmeisen sind wir am längsten befreundet. Wir wissen ziemlich genau, wie die Pärchen zusammengehören. Wir kennen die „Urahne", die „Großtante", den „Schwiegervater" und die „Enkel". Wir kennen diese Verwandtschaft sicherlich besser als die Meisen selbst. Da ist zunächst einmal die „Kluge", die Mutter vieler unserer Jungmeisen. Ihr Federkleid ist unansehnlich; aber sie unterscheidet sich von allen anderen durch Mut, Witz und Klugheit. Wir schätzen sie von allen Kohlmeisen am meisten, denn sie überlistet uns häufig. Unser Tagebuch ist voll von merkwürdigsten Erlebnissen mit ihr. Ihr Männchen heißt despektierlich der „Dicke".

Ein Meisenkind holt sich einen Mehlwurm

Er ist ein schönes Tier, aber bequem und auch wohl ein bißchen feige. Sein Bruder heißt „Schecki", denn der schwarze Streifen, den jede Kohlmeise auf der gelben Brust trägt, ist bei ihm in viele Punkte aufgelöst, so daß seine Brust wie gescheckt wirkt. Eines der Kinder heißt „Philosoph", weil es sehr langsam ist, sehr viel überlegt und auch beim Fressen auf der Hand oftmals einhält und nachzudenken scheint.

Junge Drossel

Leicht ist „Baby Schwarzbäckchen" zu erkennen, das nicht nur ungewöhnlich zutraulich ist, sondern auch auf der linken Backe einen schwarzen Punkt trägt. Außer denen, die wir gut kennen, gibt es viele, bei denen es nur zu einer flüchtigen Bekanntschaft reicht, sei es, daß sie nicht so oft zu uns kommen oder aber aus der Masse sich nicht durch auffallende Merkmale herausheben. Das war überhaupt eine der erstaunlichsten Entdeckungen für uns, daß man bei den Kohlmeisen, wie auch den ändern Vögeln, ähnliche Unterscheidungsmerkmale in Aussehen, Charakter und Temperament findet wie bei den Menschen.

Sehr viel Freude machen uns die Nonnenmeisen, auch Sumpfmeisen oder Schwarzköpfchen genannt, von denen eine viel lieber ihr Futter von meiner Hand holt als etwa von der Fensterbank. Diese enge Freundschaft erlaubte es mir, von ihr eine Reihe schöner Flugaufnahmen zu machen, die uns die ganze Schönheit und Anmut fliegender Vögel offenbaren.

Leider ist das Leben der Singvögel nur kurz, und das bedeutet für den Menschen, der sich mit ihnen befreundet, ein ewiges Abschiednehmen. Und der Abschied von manchen dieser Vögel, die einem in ihrem kurzen Leben recht ans Herz gewachsen sind, ist oft schwer. Wenn man manchmal draußen einen toten Vogel findet, ist es oft nicht leicht, ihn zu erkennen, denn nur das Leben verleiht das Gepräge. Einmal aber fand ich auf meinem Schreibtisch eine tote Kohlmeise. Sie war die Mutter der „Klugen", ein Tierchen, das wir seit vier Jahren kannten. Wir wissen nicht, woran es starb, auch nicht, wie es kam, daß wir die kleine Leiche auf meinem Schreibtisch fanden. So ist ihr Tod für uns von einem Geheimnis umgeben.

Am aufregendsten wird es für uns, wenn wir die vielen Jungvögel draußen in Wald und Wiese beobachten. Oft begegnet man einem solchen jungen Vogel am Wegrand, der — so scheint es — von seinen Eltern verlassen wurde. Wir wissen aber auch, daß diese Annahme falsch ist, denn die Alten sind nur klüger als die dummen Kleinen und halten sich vor den Menschen versteckt. Wir können es aber nicht verhindern, daß viele Menschen solchen vermutlich verstoßenen Vogelkindern helfen wollen. Sie fangen sie also und bringen sie dann nach Hause. Wenn es uns gelingt, genau das Revier zu erfahren, in dem die Vogelkinder gefangen wurden, so bringen wir sie sogleich wieder zurück. Wir haben dann fast immer festgestellt, daß die Alten kamen und das zurückgekehrte Kind füttern. Oft allerdings gelingt uns das nicht, und so müssen wir sehen, daß wir die Kleinen erhalten. Das bringt zwar Arbeit und Sorge, aber auch unwahrscheinlich viel Freude. Auf diese Weise haben wir vielerlei Vogelarten und Vogelgewohnheiten kennengelernt. Am interessantesten sind vielleicht unsere Erlebnisse mit den Amseln und Drosseln, die als Kinder bei uns eingeliefert wurden und die, sobald die Zeit kam, von uns freigelassen wurden. Diese Vögel sind auch aus ihrer Freiheit noch viele Monate lang zu uns gekommen und setzten so ihr Zusammenleben mit uns auf ihre Weise fort.

Voller Vertrauen kommen die Vögel auf die Hand
3 Fotos von Julius Eigner

Sie wußten in unserm Hause gut Bescheid und folgten uns überall hin/ ohne jede Spur von Angst, denn wir waren für sie ja die Ersatzeltern, und vor Eltern braucht man keine Angst zu haben. Morgens um fünf Uhr erschienen sie am Schlafzimmerfenster und weckten uns und schrieen so lange, bis einer aufstand und sie fütterte. Aßen wir draußen im Garten, so flogen sie oft auf den Tisch und schauten zu; und es kam manchmal vor, daß sie durch den Suppenteller oder die Soße wateten und sich schließlich auf den Pudding setzten, von dem sie gerne aßen. Die Freundschaft löste sich, sobald die Tiere erwachsen waren, zu dem Zeitpunkt also, da sie sich auch von ihren Eltern trennten. Wenn wir im Jahr darauf eine besonders zahme Amsel oder Drossel in unserm Garten beobachten, dann überlegen wir, ob sie wohl eines unserer Kinder sein könnte. Aber diese Frage können wir nicht beantworten.

Die Intelligenz der Vögel ist unterschiedlich, sowohl unter den Arten wie auch innerhalb der Arten. Die Klugheit der Kolkraben, der Papageien, der Dohlen usw. ist bekannt. Wegen seiner Klugheit war uns ganz besonders ein Rotkehlchen ans Herz gewachsen, das fünf Jahre lang unser bester Hausfreund war, aber im letzten kalten Winter erfror. Es kam ans Fenster, um uns herbeizurufen, wenn es etwas zum Fressen wünschte; es kam aber auch ins Zimmer, um sich zu wärmen, wenn es draußen kalt war. Einmal war es nahe daran, in meinem Zimmer ein Nest zu bauen, unterließ es dann aber doch. Wenn ich im Garten arbeitete, dann leistete es mir Gesellschaft. Oft auch setzte es sich auf die Bücher, wenn ich an der Schreibmaschine arbeitete, und sah mir zu. Wenn man die Lieder der Vögel kennt, mehr noch die unterschiedlichen Rufe der einzelnen Vogelarten in ihrer Bedeutung, dann wird man fast gegen den Willen hineinbezogen in das Gewebe ihres Daseins und nimmt unwillkürlich Anteil an ihren Kämpfen und ihren Freuden. An ihren Rufen erkennt man, ob sie z. B. in Bedrängnis sind. Zweimal folgten wir solchen Rufen der Angst, und wir konnten so den Tieren helfen. Unvergeßlich ist uns der Zaunkönig, der uns eines Tages zu Hilfe rief. Er kam durch die offene Haustür ins Wohnzimmer, wo wir mit unserm Besuch zusammensaßen, und durch sein klägliches Rufen erregte er unsere Aufmerksamkeit. Wir folgten ihm zu seinem Nest, das wir kannten, sahen aber keinerlei Gefahr. Schließlich flog er dicht über eine Päonie weg, und als wir uns darüber beugten, sahen wir die Katze, die sich dort versteckt hielt. Natürlich halfen wir dem tapferen Zaunkönig und sorgten dafür, daß er seine Kinder künftig ohne. Sorge auf ziehen konnte. Schließlich verraten die Vogelrufe uns auch, wo der Waldkauz seinen Tag verbringt, und es macht viel Freude, diesen schönen Nachtvogel ganz aus der Nähe zu beobachten.

Es ist leider nur ein frommer Wunsch, wenn Menschen meinen, daß das Dasein der Vögel nur eitel Freude und Wonne sei. Davon kann gar keine Rede sein, denn alle Geschöpfe sind dem gleichen Gesetz unterworfen, alle kennen in gleichem Maße Kampf und Not. Wir haben Vogelschicksale erlebt, die hart und nicht weniger schrecklich sind als die mancher Menschen. Eines Morgens fand ich auf der Wiese einen Kernbeißer, der beim Durchfliegen eines Maschendrahtes den linken Flügel gebrochen hatte. Er hielt sich dicht bei unserm Häuschen auf. Wir warfen ihm geriebene Haselnüsse und Walnüsse hin, und er fraß von ihnen, wenn wir nicht dabei waren. Wir beobachteten ihn viele Tage und sahen, wie er elender wurde und die schönen Farben seines Federkleides verlor. Manchmal beobachteten wir ihn bei seinen erneuten Flugversuchen; aber noch war der Bruch nicht verheilt. Schließlich kam der Tag, da wir beobachten konnten, daß dieser traurige Zwischenfall doch noch glücklich geendet hat. Ich habe ihn wieder im Unterholz gesucht, und er hopste vor mir her, immer ein paar Meter entfernt.

Als er den freien Weg erreicht hatte, spannte er die Flügel. Er schwang sich in die Höhe und verschwand in den Baumkronen. An diesem Tag war mein Herz voller Dankbarkeit.

Zu einem so vertrauten Verhältnis mit den Tieren der Freiheit kann man nur durch unerschöpfliche Geduld und viel Liebe gelangen. Eine solche Freundschaft kann obendrein für den Menschen auch anstrengend werden. Nur deshalb, weil wir immer hilfreich für die Tiere sind, konnten wir uns jene Vertrauensstellung erringen, die wir heute genießen. Das ist nicht gering zu achten, denn — so glauben wir fest — durch große Selbstlosigkeit gelang es uns, jene Einblicke in das Leben der Vögel zu gewinnen, die uns heute dafür so beglücken. Und wir glauben ferner, daß die Menschen der Gegenwart weniger von Unruhe und Angst geplagt wären, wenn sie nicht immer und ausschließlich nur an sich selbst dächten, sondern ihre Sorge auch einmal den vielen kleinen Mitgeschöpfen widmeten, die es ihnen dann durch ihr Verhalten reichlich danken.