Das Teufelsbläuchen

Erlebnisse mit einem Blaumeisenpärchen

Von Julius Eigner

Seit unsere Vögel im Garten sich so an uns gewöhnt haben, daß sie jederzeit ins Haus, auf den Tisch oder auf die Hand kommen, haben wir viele Gelegenheiten, mit ihnen bekannt zu werden. Was wir auf diese Weise beobachten, ist oft erstaunlich genug. Die Vögel, die zu unserm Freundeskreis gehören, sind nicht mehr nur Meisen oder Rotkehlchen für uns. Wir kennen sie als Einzelwesen, und jedem einzelnen haben wir einen Namen gegeben. Unter der Masse der Vögel, wie auch unter der Masse der Menschen, gibt es hie und da Persönlichkeiten, die sich durch ihre nur ihnen eigene Prägung von den andern unterscheiden. Diese Unterscheidung macht die Geschichte unserer Blaumeisen so aufregend.

Die Blaumeisen gehören zu den bezaubernsten der sechs Meisenarten, die sich in unserer Nachbarschaft angesiedelt haben. Sie sind zierlich, gewandt, elegant. Das tiefe Blau auf den Flügeldecken, auf Kopf und Schwanz hat etwas Geheimnisvolles, hierzu kommt das Zitronengelb ihres Bäuchleins und der schwarze, schräge Strich durch die Augen, so daß sie, von der Seite gesehen, wie chinesisch wirken. Das erste Blaumeisenpaar, das wir kennenlernten, wohnte in der alten Schwarzkiefer, westlich von unserm Häuschen. Es war Ende April, sie hatten sich längst ihren Nistkästen ausgewählt, vielleicht auch schon das Nest gebaut. Eines Morgens, kurz nach Sonnenaufgang, sah ich dort einen Kampf zweier Meisen, einen Heldenkampf, es ging um Revier und Frau. Das Weibchen saß vor dem Nistkasten und sah zu; dem Sieger würde es sich unterordnen. Offenbar war der Revierinhaber auf einen Eindringling gestoßen und hatte ihn zum Kampf gestellt. Der Fremde war der Stärkere, wohl auch der Glücklichere, und er kämpfte erbittert bis zum Sieg. Er nahm dem rechts mäßigen Besitzer nicht nur Frau und Nest, sondern auch das Revier. Der Unterlegene hielt sich von da an dicht bei unserm Haus auf und fraß am Fettnapf, und so konnten wir sehen, daß er bei diesem Kampf das linke Auge verloren hatte. Sicherlich war dies nur ein Zufallstreffer, aber dieser Zufall hatte den Sieg des Fremden ermöglicht. Der Vertriebene mußte nun sehen, wie er sich am besten einrichtete, und da die Männchen bei den meisten Singvögeln ohnehin in der Überzahl sind und die Blaumeisinnen vergeben waren, blieb er von nun an allein. Sein Schicksal, das wir lange verfolgen konnten, ging uns sehr nahe, und es zeigte uns hier abermals, wie hart und grausam das Leben in der Tierwelt sein kann. Es sang damals sehr viel, vielleicht hoffte es, sich doch noch ein anderes Weibchen heransingen zu können, und so wußten wir fast immer, wo es sich gerade aufhielt. Es sang auch noch gegen Sommerende, als die anderen längst verstummt waren, es sang sogar noch im Winter. Es schien, als könne das Tierchen nicht anders, als immer nur singen. Wenn es vor dem Fenster fraß und uns dabei die verheilte Wunde seines leeren Auges zeigte — nur diese Seite drehte es uns zu, denn vor uns, das wußte es, brauchte es sich nicht zu fürchten — da konnten wir nicht anders als es bewundern.

Es kam der Winter. Das Leben der Vögel wurde härter. Manchmal sahen wir den Sperber in der Luft, und einmal erlebte ich, wie er, keinen Meter von der Haustür entfernt, eine Kohlmeise schlug und mit sich wegriß. Die halblinde Blaumeise war immer noch da. Es fiel der Schnee, es kam der Frost, Nordwinde bliesen über die Eifel, und da sah ich eines Morgens, daß das verheilte Auge wieder eine offene Wunde geworden war. Vor Schreck sprang mir das Herz in die Kehle, ich konnte kaum mehr atmen. Es sah aus, als hätte sich das Tierchen am Auge gekratzt und dabei verletzt. Oder war die Wunde in der Kälte aufgesprungen? Am Abend, kurz bevor die eiskalte Nacht begann, sah ich das Blaumeischen zum letztenmal. Die Wunde war größer geworden. Am nächsten Morgen warteten wir vergebens auf seinen Besuch. Dann suchten wir das Revier ab, konnten aber nichts von ihm entdecken. Wahrscheinlich war das Tierchen in der Nacht gestorben, und wenn es nicht in einem der vielen Nistkästen lag, dann hatte ein Raubtier die kleine Leiche, gefressen.

Nun blieb in der Nähe unseres Häuschens nur noch der Eindringling und die von ihm gestohlene Frau. Nachdem sie die erste Brut aufgezogen hatten, verließen beide den Nistkasten an der Schwarzkiefer und siedelten in den am Goldregen um. Dort wohnen sie noch immer. Wir müssen gestehen, daß wir den Fremden lange haßten und nichts von ihm wissen wollten. Aber allmählich gewann er doch unser Herz, weil er so schön und unternehmend war. Und beide rührten uns tief dadurch, da sie immer beieinander sind, im ganzen Jahr, nicht nur in der Brutzeit. Sie führen ein vorbildliches Eheleben, und es scheint, als seien sie immer in den Flitterwochen. Taucht das Männchen in unserer Nähe auf, dann ist sie nicht weit entfernt. Haben sie sich verloren, dann hören wir, wie sie sich mit ihren süßen Stimmchen unaufhörlich rufen. Das schönere der beiden ist eindeutig das Männchen, sein Blau ist besonders dunkel und leuchtend, und meine Frau nennt ihn daher Himmelsbläuchen. Seine hervorstechendste Eigenschaft ist sein Kampfesmut. Wo immer er ist, gibt es Kampf, selbst mit den so viel größeren Kohlmeisen. Es ist eindrucksvoll zu beobachten, welcher Mut in diesem kleinen Herzen wohnt. Er ist immer der Herausforderer, und schließlich mußten wir erkennen, daß eine Mahlzeit ohne Rauferei eine schlechte Mahlzeit für ihn war.

Fotos: Julius Eigner

Nachdem wir viele Kämpfe beobachtet hatten und uns von dem teuflischen Mut der Blaumeise überzeugt hatten, blieb uns nichts anderes übrig, als ihn nun anerkennenderweise Teufelsbläuchen zu nennen.

Daß er alle anderen Blaumeisen aus dem Felde schlug, versteht sich von selbst, oft genug jagte er die eigene Frau davon, wenn sie so vermessen war, mit ihm zur gleichen Zeit am gleichen Napf fressen zu wollen. Manchmal auch gestattete er es ihr, heranzukommen, und fraß mit ihr gemeinsam. Am meisten Spaß machte sie es ihm offenbar, die Kohlmeisen zu jagen, das Rotkehlchen oder die Heckenbraunelle. Zu diesem Zweck bediente er sich der von uns so genannten Sturzbombertaktik. Flügelrauschend und schreiend kam er herbei, streifte den Gegner, als wollte er sich auf dessen Platz setzen, und landete dann in einiger Entfernung von ihm. Meist erschrak der andere und flog davon, und Teufelsbläuchen fraß dann solange, bis ihm etwas Besseres einfiel. Allmählich gewöhnten sich Kohlmeisen daran, so daß er bald eine andere Taktik entwickeln mußte. Diese bestand darin, daß er an den Napf, an dem bereits eine Kohlmeise fraß, von unten anflog, sich am Rande hochzog und zu fressen begann, dabei aber den ändern heimlich bedrohte, so daß diesem bald der Appetit verging und er ärgerlich davonflog. Das allerdings entwickelte sich nicht immer so, wie Teufelsbläuchen es erhoffen mochte. Die Kohlmeisen, besonders wenn es sich um Männchen handelte, die gleich ihm von ihrer eigenen Bedeutung überzeugt waren, blieben nämlich auch manchmal sitzen und fraßen ungeniert weiter, so daß Bläuchen nun gezwungen war, sie offen anzugreifen, mit aufgesperrtem Schnabel und heftigem Zischen. Oft sahen wir auch, daß der so Herausgeforderte für eine Weile seine Zuflucht bei der sogenannten Imponierhaltung suchte, aber Teufelsbläuchen ließ sich das nicht anfechten: er griff entschlossen an und war nicht eher zufrieden, bis er Napf und Futterhaus für sich allein hatte.

Seit drei Jahren kennen wir nun Teufelsbläuchen, und bis jetzt hat er seinen Meister noch nicht gefunden. Er wird es wohl solange weitertreiben, bis er eines Tages von einem Stärkeren besiegt wird. Noch aber steht er in der Kraft seiner Jahre und, so scheint es uns, erfreut er sich der blinden Verehrung seiner Frau, die, obgleich untertänig und bewundernd, ihn dennoch zu immer größeren Taten der Tapferkeit anzustacheln vermag.