Der totale Sieg

VON JOSEF KREUTZBERG

Wer mit dem Kraftwagen einmal im Hochgebirge war, lernt Straßen kennen, die oft so schmal sind, daß auf ihnen nur der Verkehr in einer Richtung möglich ist. Sie werden daher für den Hin- und Rückverkehr stundenweise wechselnd gesperrt oder freigegeben, damit Unglücke vermieden werden.

Ernst Jünger hat andeutungsweise in den „Strahlungen", ausführlicher in seinem Roman „Heliopolis" die Geschichte zweier Karawanen erzählt, die sich auf einem solchen Saumpfad begegneten und legt den Zeitgenossen die Denkaufgabe vor, wie in einer scheinbar unausweichlichen Lage doch ein Ausweg zu finden ist. An einer utopischen Küste springt weit in das Meer hinaus ein Vorgebirge, dessen Wände aus der Tiefe der Flut steil und unbesteigbar nach oben streben. Langsam ansteigend und sich dann auf gefährlicher Höhe haltend, führt an dieser Steilwand ein Pfad, nicht breiter, als daß ihn ein Mensch oder ein Saumtier eben beschreiten kann.

Der schmale Saum läßt kein Ausweichen, kein Aneinandervorbeigehen zu. Wer diesen Todespfad betritt, spricht ein Gebet und gibt durch lautes Rufen seine Absicht kund, damit ihm von der Gegenseite niemand begegne. Der Weg ist zwar voller Tücken und Gefahren, aber er schneidet eine sonst tagelange Wanderung durch eine erbarmungslose Wüste ab. Und doch trafen sich eines Tages auf dem Zenit dieses Saumpfades zwei Karawanen, deren Warnschreie vom Brausen des Sturmes oder von der Brandung des Meeres verschluckt worden waren. Bald standen sich an der Spitze beider Karawanen die zwei wegekundigen, aber auch verwegenen Bergführer mit feindseligen Blicken und eingelegten Lanzen gegenüber. Hinter jedem von ihnen folgte das erste Saumtier, dann folgten auf jeder Seite der Scheich, dahinter abwechselnd Tier und Mensch. Die Karawane aus dem Osten führte Salz, die aus dem Westen Gold mit sich.

Was war zu tun?

Der Pfad war hier oben besonders schmal, noch nicht zwei Handlängen breit. Unmöglich, einander auszuweichen. Also Kampf bis aufs Letzte? Der Scheich des Ostens sah keinen anderen Ausweg als den Streit.

Der Scheich des Westens war groß und weise und hatte ein weites Herz. In diesem gefährlichen Augenblick fühlte er sich nicht nur für die Seinen, sondern auch für seine Gegner verantwortlich; und das ließ ihn zum Herrn der Lage werden.

Er gebot Ruhe; jeder verharre an dem Ort, wo er gerade stehe, Lanze und Schwert seien einzuziehen.

Nach kurzer Überlegung unterbreitete er dem Gegner ein Angebot: „Was habt Ihr geladen?" „Salz", lautete die Antwort. „Gut. Jeder von Euch wende sich auf seinem Platze um — so breit ist der Pfad —, dann verbinde er seinem Tier die Augen und stürze es in die Tiefe. Danach geht Ihr in der eingenommenen Richtung nach Osten zurück, und wir folgen Euch."

In diesem Augenblick durchzuckte das Hirn des Ostscheichs ein Blitz des Mißtrauens. Sollte er dem Gegner den ungedeckten Rücken zeigen? Allein, er faßte Vertrauen.

„Euren Verlust an Tieren und Handelsgut", so schloß der große Scheich, „werde ich Euch in Gold ersetzen."

So geschah es, und alle wurden gerettet. Der Sieg war vollkommen. Ein Sieg ist nur dann vollkommen, wenn man den Feind nicht nur mit List und Stärke, sondern auch sein Herz mit dem eigenen Herzen überwindet. Ach, wenn doch die Großen der Erde diese Geschichte lesen würden! Aber ich fürchte, sie wird vom Lärm verschluckt, wie die Warnschreie der Karawanen. „Die Völker werden erst glücklich, wenn die Könige zu Weisen und die Weisen zu Königen werden", sagt der Philosoph Plato.