Das deutsche Volkslied darf nicht vergessen werden!

VON DR. W. OTTENDORFF-SIMROCK

Wir erleben es nicht selten, daß „Kulturkritiker" Sinn und Aufgabe des Männerchorwesens in der heutigen Zeit in Frage stellen. Insbesondere erscheint diesen Kritikern das von den Männerchören gepflegte Liedgut nicht mehr zeitgemäß.

Diese Auffassung verkennt jedoch eine wesentliche Tatsache: Der Mensch, der durch den Alltag des modernen Lebens zermürbt und von den Sorgen des Existenzkampfes bedrangt wird, bedarf eines Ausgleiches, der ihn die vielfach verschütteten Persönlichkeitswerte wieder empfinden läßt. Hier bieten sich die von den Männerchören gesungenen Volkslieder geradezu an. Sie lassen dem Menschen die Allmacht des Schöpfers, die Schönheit der Natur, die Liebe zur heimatlichen Landschaft, Liebesfreud und Liebesleid immer aufs neue zum Erlebnis werden.

Ein Volk, das diese alten und neuen Weisen nicht mehr singt, beraubt sich selbst eines seiner edelsten Güter. Der Wert eines Volkes wird aber immer an der inneren Haltung seinen Kulturgütern gegenüber gemessen. Noch vor kurzem berichteten junge Deutsche, die eine Studienreise nach Irland unternommen hatten, folgende bezeichnende Episode: Ihre Gastgeber sangen ihnen irische Volksweisen vor und erbaten sich als Gegengabe einige deutsche Volkslieder. Zu ihrer Beschämung mußten die Deutschen gestehen, daß ihnen solche Lieder unbekannt seien.

Sollten wir nicht von den anderen Völkern lernen, die auf ihre alten Lieder stolz sind? Wenn wir das Volkslied pflegen und in Ehren halten, so schlagen wir singend eine Brücke zu den anderen Völkern hinüber.