Althergebrachtes Nachbarrecht in unserer Heimat

VON DR. PAUL KRAHFORST

Das Nachbarrecht ist ein Musterbeispiel dafür, daß auch heute noch eine weitgehende Rechtszersplitterung existiert, die es in einzelnen Bereichen erforderlich macht, auf landesgesetzliche Vorschriften zurückzugreifen, deren Entstehungszeit lange zurückliegt. Nur einen geringen Teil der nachbarrechtlichen Regelung finden wir bundeseinheitlich im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) behandelt. In den §§ 906 bis 924 BGB ist ein Teil der Fälle dargelegt, in denen der Eigentümer eines Grundstückes Einwirkungen vom Nachbargrundstück abwehren kann oder dulden muß. Außerhalb des BGB bestehen zahlreiche nachbarrechtliche Landesgesetze, die gemäß Art. 124 des Einführungsgesetzes zum BGB vom 18. 8. 1896 (EGBGB) ausdrücklich als weiter verbindliches Recht beibehalten wurden. Demgemäß gelten im Nachbarrecht, z. B. im Bereich des früheren Preußens, nach wie vor die einschlägigen Bestimmungen des Preußischen Allgemeinen Landrechts vom 5. z. 1794 und im Gebietsbereich Bayerns die Vorschriften des „Kur-Bayerischen Landrechts vom 2. i. 1756 (Codex Maximilianus Bavaricus civilis).

Für unser Heimatgebiet stellt sich deshalb die Frage, ob auch hier „im Ernstfall" auf derart alte Vorschriften zurückgegriffen werden muß. Je nach Lagerung des nachbarlichen Streitfalles ist diese Frage zu bejahen.

Zum Verständnis der Rechtsentwicklung müssen die Verhältnisse in der Zeit der Wende vom 18. in das 19. Jahrhundert näher ins Auge gefaßt werden. Nach erfolgreichem Verlauf der Französischen Revolution wurde unsere rheinische Heimat im Jahre 1794 von französischen Truppen besetzt. Die Franzosen errichteten im Rheinland eine eigene Zivilverwaltung, die von oben nach unten in Departements, Arondissements und Kantone eingeteilt wurde. Zum Sitz der Zentralverwaltung des Departements „Rhin et Moselle" erwählte man Koblenz. Zu diesem Departement gehörte u. a. das Arondissement Bonn mit den Kantonen Ahrweiler, Remagen, Wehr, Adenau und Virneburg aus dem Ahrkreis. Aus dem Arondissement Bonn war lediglich, was den heutigen Ahrkreis betrifft, das früher zum Stift Essen gehörende Breisiger Ländchen ausgeklammert, welches dem Kanton Andernach und damit dem Arondissement Koblenz zugeordnet war. Durch den Friedensvertrag von Luneville vom 9. 2. 1801 war das gesamte linksrheinische Gebiet als französisches Territorium dem französischen Staat einverleibt worden. Damit wurden die französischen Gesetze eo ipso auch im Ahrkreis geltendes Recht. Das bedeutendste der französischen Gesetze war der „code civil" vom 21. 3. 1804, auch „code Napoleon" genannt. Dieses das Zivilrecht regelnde Gesetz zeichnete sich durch einfache und verständliche Sprache sowie durch übersichtliche und kurze Fassung der Bestimmungen aus. Es erlangte in Frankreich selbst dadurch größte Bedeutung, daß es die seit Jahrhunderten bestehende Aufteilung des Rechts in einzelne Gewohnheitsrechte und in die verschiedenartigsten Einzelgesetze beseitigte und im Bereich des Zivilrechts für ganz Frankreich die so überaus wichtige Vereinheitlichung des Rechts herbeiführte. Der code civil enthält insgesamt 2281 Artikel — unser heutiges BGB hat 2385 Paragraphen — und ist in drei Bücher aufgeteilt. Das erste Buch trägt den Titel „Von den Personen" (Art. 1 bis 515), das zweite Buch den Titel "Von den Sachen und den verschiedenen Beschränkungen des Eigentums" (Art. 516 bis 710) und das dritte Buch den Titel „Von den verschiedenen Arten, das Eigentum zu erwerben (Art. 711 bis 2281). So schwer eine Besatzungszeit für die Bevölkerung allgemein zu ertragen ist, und so schwierig die Unterstellung der Rechtsuchenden unter ein fremdländisches Recht im besonderen ist, so hatte die Einführung des code civil in unserem Heimatgebiet doch eine gute Seite. Vor der Besetzung durch die Franzosen im Jahre 1794 bestand allein in dem kleinen Gebiet des Ahrkreises eine heute nur noch schwer vorstellbare Rechtszersplitterung, die darauf beruhte, daß auf so geringem Raum 16 verschiedene Herrschaften vorhanden waren. Von diesen Territorialherren sind Kurköln mit der Stadt Ahrweiler und den Ämtern Altenahr und Nürburg, Kurpfalz mit den ehemaligen jülichschen Ämtern Neuenahr und Sinzig-Remagen und Kurtrier mit dem Gebiet um Nohn hervorzuheben. Ähnlich wie es in größerem Umfang in Frankreich der Fall war, bewirkte auch in unserem Heimatbereich die Einführung des code civil schlagartig die Herbeiführung der Rechtsvereinheitlichung. In dieser Tatsache, wie aber auch in der Erkenntnis, daß in dem französischen Zivilgesetzbuch vertraute Elemente germanischen Rechts vorhanden waren, wird letztlich der Grund dafür zu erblicken sein, daß der code civil auch dann bei uns geltendes Recht blieb, als nach dem Sturz der napoleonischen Herrschaft gemäß den Beschlüssen des Wiener Kongresses das Rheinland im Jahre 1815 dem preußischen Staate eingegliedert wurde. Zwar entwickelte die preußische Regierung Pläne, das französische Recht in der Rheinprovinz durch das preußische Allgemeine Landrecht von 1794 zu ersetzen, doch bewirkten die Gutachten der 1816 zur Prüfung dieser Frage eingesetzten Rheinischen Immediat-Justizkommission, diese Pläne vorerst auf unbestimmte Zeit zurückzustellen. So kam es schließlich, daß der code civil als „Rheinisches Civilrecht" im linksrheinischen Teil der Rheinprovinz und in den rechtsrheinischen Gebieten des ehemaligen Herzogtums Berg bis zu dem am l. l. 1900 erfolgten Inkrafttreten des BGB geltendes Recht blieb. Gemäß Art. 124 EGBGB blieben die nachbarrechtlichen Bestimmungen des code civil darüber hinaus bis auf den heutigen Tag in Kraft. Erst wenn das jetzige Land Rheinland-Pfalz ein neues Nachbarschaftsrecht erläßt, wie es in den Bundesländern Hessen (Gesetz vom 1. 11. 1962) und Baden-Württemberg (Gesetz vom 1. 1. 1960) bereits zum Zwecke einer modernen, einheitlichen und übersichtlichen Regelung geschehen ist, wird ein Zurückgreifen auf die einschlägigen Bestimmungen des code civil nicht mehr erforderlich sein.

Nach diesem kurzen rechtshistorischen Überblick interessiert nun, welche Sachgebiete des Nachbarrechts und in welcher Weise in unserem Heimatgebiet noch auf der Regelung des code civil basieren. Auf Grund des Vorbehalts in Art. 124 EGBGB handelt es sich im wesentlichen um folgende vier Materien:

1. Grenzabstand von schädigenden Anlagen,

2. Grenzabstand von Pflanzen,

3. Fenster- und Lichtrecht,

4. Traufrecht.

Der Grenzabstand von schädlichen Anlagen ist in Artikel 674 code civil geregelt. Als Anlagen i. S. dieser Bestimmung werden genannt: Brunnen, Vertiefungen, Schornsteine, Schmieden, Backöfen, Ställe und Salzmagazine. Ein bestimmter Entfernungsabstand ist in dieser Gesetzesnorm nicht aufgeführt. Es wird vielmehr summarisch darauf verwiesen, daß soviel Zwischenraum einzuhalten ist, wie es in Ansehung dieser Anlagen besondere Verordnungen oder das Herkommen bestimmen. Es wird also auf das örtlich bereits vorhandene Recht verwiesen. Infolgedessen kann es im Einzelfall notwendig sein, noch ältere Vorschriften als den code civil selbst in Anspruch zu nehmen. So bestimmt z. B. die Stadtordnung der Stadt Ahrweiler aus dem Jahre 1615, daß bei Errichtung von Brennereien („Breukessel") und Backöfen die besondere Genehmigung des Bürgermeisters und Stadtrates eingeholt werden mußte. Leider lassen sich aus den noch vorhandenen alten Ratsprotokollen der Stadt Ahrweiler keine Einzelheiten über erforderliche Grenzabstände entnehmen. Die besondere Schwierigkeit in solchen Fällen liegt also darin, zunächst nach einer Regelung in einer örtlichen Verordnung, und wenn eine solche nicht vorhanden ist, nach einer Regelung auf Grund des „Herkommens" zu suchen. Dabei ist Herkommen, ebenso wie die Observanz, eine Unterart des Gewohnheitsrechtes. Die Anspruchsgrundlage für den nachbarrechtlichen Anspruch auf Einhaltung des Grenzabstandes setzt demgemäß beim Herkommen objektiv eine andauernde, längere Übung und subjektiv die Überzeugung voraus, daß diese Handhabung rechtens ist. Aus Artikel 674 code civil läßt sich grundsätzlich entnehmen, daß die schädliche Anlage in jedem Fall einen solchen Abstand vom benachbarten Grundstück haben muß, daß ein Nachteil verhütet wird.

Mit dem Grenzabstand von Pflanzen befassen sich die Artikel 671 bis 673 code civil. Zwar darf ein Grundstückseigentümer beliebig viele Bäume und Sträucher anpflanzen, auch wenn er dadurch dem Nachbarn Licht, Sonne und Aussicht entzieht. Er muß aber bestimmte Grenzabstände einhalten. Für Bäume, Sträucher und lebende Hecken richtet sich der einzuhaltende Grenzabstand in erster Linie nach den bestehenden Sondervorschriften und örtlichen Gebräuchen. Auch hier ergibt sich eventuell die Notwendigkeit, auf ältere örtliche Regelungen Bezug zu nehmen. Fehlen diese oder sind sie nicht ersichtlich, so darf man hochstämmige Bäume nur in einer Entfernung von zwei Metern, andere Bäume, Sträucher und lebende Hecken nur in einem Abstand von einem halben Meter von der Grenze des Nachbargrundstückes anpflanzen. Das gilt auch für Weinstöcke. Die vorgeschriebene Grenzentfernung bezieht sich nur auf das benachbarte Grundstück, nicht dagegen auf Abstände zur Straße oder zum öffentlichen Platz. Im einzelnen Falle kann die Abgrenzung zwischen hochstämmigen und anderen Bäumen schwierig sein, etwa bei niedrig beschnittenen und gekappten Bäumen. In diesem Falle wird man nicht auf die Natur des Baumes, sondern auf seine tatsächliche Höhe abstellen müssen, weil der gesetzliche Grund darin zu erblicken ist, daß nach Möglichkeit lästige Einwirkungen der Zweige und Wurzeln dem Nachbargrundstück ferngehalten werden sollen. Das Fenster- und Lichtrecht ist einer der bedeutendsten Bestandteile des Nachbarrechts. Während man unter „Fenster-recht" die Berechtigung versteht, ein Fenster zum Grundstück des Nachbarn anbringen zu dürfen, versteht man unter „Lichtrecht" (besser: Lichtschutzrecht) den Schutz eines einmal angelegten Fensters gegen nachbarliche Eingriffe, insbesondere durch Verbauen, durch Hochziehen der Grenzmauer. Der code civil befaßt sich in den Artikeln 665 bis 680 nur mit dem eigentlichen Fensterrecht und geht im Gegensatz zum preußischen Allgemeinen Landrecht davon aus, daß ein Lichtschutzrecht nur in Ausnahmefällen in Betracht kommt. Im Rahmen des Fensterrechts ist bei der Anbringung eines Fensters zu unterscheiden, ob die Mauer, in die das Fenster eingesetzt werden soll, den Nachbarn gemeinschaftlich gehört oder nur demjenigen Nachbarn, der das Fenster einbauen möchte. Steht die Mauer im gemeinsamen Eigentum, so darf ein Fenster gemäß Artikel 675 code civil nur dann eingebaut werden, wenn der Nachbar ausdrücklich zustimmt. Verweigert der Nachbar die Bewilligung, so darf weder ein Fenster noch irgendeine Öffnung, nicht einmal ein Fenster von blindem Glas — heute von besonderem Interesse bei Glasbausteinen — angebracht werden. Steht dagegen die Mauer im Alleineigentum des Fenstereigentümers, so kommt der Unterscheidung zwischen der bloßen Lichtöffnung und dem Aussichtsfenster maßgebliche Bedeutung zu. Die Lichtöffnung („jour") darf keine Aussicht auf das Nachbargrundstück ermöglichen. Sie darf deshalb in beliebiger Größe in der Grenzmauer, also unmittelbar an der Grundstücksgrenze, angebracht sein. Ihr Zweck besteht ausschließlich darin, Licht in den hinter ihr liegenden Raum einzulassen. Die Fenster müssen blind sein und in nicht zu öffnenden Rahmen sitzen. Vor ihnen muß ein eisernes Gitter angebracht sein, dessen einzelne Stäbe höchstens 10 cm voneinander entfernt sein dürfen. Die Lichtfenster dürfen nicht der Luftzufuhr dienen und müssen in bestimmter Höhe über dem Boden des zu erleuchtenden Raumes angebracht sein. Parterre beträgt die erforderliche Höhe 2,60 Meter (acht Fuß), in einem höheren Stockwerk 1,90 Meter (sechs Fuß). Völlig anders ist die Regelung bei den Aussichtsfenstern („vues"). Da diese in der Regel einen Ausblick auf das Nachbargrundstück gestatten, müssen sie einen Abstand von der Grundstücksgrenze einhalten. In einer Grenzmauer dürfen sie also nicht angebracht werden. Ist die Aussicht auf das Nachbargrundstück gradlinig, beträgt der geforderte Abstand 1,90 Meter. Die Aussicht ist dann gradlinig, wenn man das Nachbargrundstück sehen kann, ohne sich aus dem Fenster hinauszubeugen oder den Kopf zu drehen. Liegt nur eine schräg gerichtete Möglichkeit der Aussicht vor, ist also ein Ausblick auf das Nachbargrundstück nur dann möglich, wenn man sich innerhalb des Raumes in einer Richtung aufstellt, die von der Fensterachse abweicht, dann genügt es, wenn das Fenster 60 cm von der Grundstücksgrenze entfernt bleibt. Balkons und andere Gebäudevorsprünge müssen vom Nachbargrundstück den gleichen Entfernungsabstand einhalten wie die Aussichtsfenster, also 1,90 Meter, wenn von ihnen eine gradlinige Aussicht auf das benachbarte Grundstück möglich ist, und nur 60 cm, wenn die Aussicht sich lediglich aus schrägem Winkel eröffnet.

Ein Lichtrecht, durch das ein bestehendes Fenster gegen nachbarliche Einwirkungen geschützt wird, sieht der code civil nicht vor. Ein solches Recht kann aber nach allgemeinen Regeln durch ausdrückliche Vereinbarung zwischen den Nachbarn oder durch Ersitzung mittels dreißigjährigen, offenkundigen ununterbrochenen Besitzes begründet werden. Anders als im Geltungsbereich des früheren preußischen Rechts, wo gemäß § 142 Allgemeines Landrecht ein Lichtschutzrecht bereits zehn Jahre nach Anlegen des Fensters zur Entstehung gelangt, erfordert die Entstehung des Lichtrechts durch Ersitzung in unserem Heimatgebiet den langen Zeitraum von 30 Jahren. Ist das Lichtrecht einmal entstanden, muß der Nachbar seinerseits mit einem Neubau von der Grenze zurückbleiben, und zwar bei Lichtöffnungen so weit, daß weiterhin eine genügende Lichtaufnahme gesichert ist, und bei Aussichtsfenstern je nach gradliniger oder schräger Aussicht 1,90 Meter oder 60 Zentimeter.

Das Trauf recht befaßt sich mit der Frage, ob der Eigentümer des Hauses das von der Dachtraufe fließende Wasser auf das Grundstück des Nachbarn fallen lassen darf. Artikel 681 code civil bestimmt, daß jeder Eigentümer seine Dächer so einzurichten hat, daß das Rcgenwasser auf seinen eigenen Grund und Boden oder auf die öffentliche Straße fällt. Auf das Grundstück seines Nachbarn darf er es nicht abfließen lassen. Auf Grund dieser Vorschrift wurde der Eigentümer häufig gezwungen, bei der Errichtung eines Gebäudes einen solchen Abstand von der Grenze einzuhalten, daß das Dachregenwasser noch auf das eigene Grundstück fallen konnte. Hieraus wurde später dann wieder der Rückschluß gezogen, daß bei alten Gebäuden die unter einer Dachtraufe liegenden Teile eines Grundstücks eigentumsmäßig zu dem betreffenden Grundstück gehörten. Das Vorhandensein einer Dachtraufe führt also zur Eigentumsvermutung für den darunter liegenden Boden. Allerdings kann diese Vermutung im Streitfall durch Gegenbeweis entkräftet werden.

Vorstehende Ausführungen geben einen Überblick über einzelne nachbarrechtliche Regelungen in unserem Heimatgebiet, die aus alter Zeit überkommen sind. Abschließend sei auf die in der Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofes entwickelte Generalklausel des „nachbarrechtlichen Gemeinschaftsverhältnisses" hingewiesen, wonach bei allen nachbarlichen Konflikten die Grundstücksnachbarn unter Beachtung der Grundsätze von Treu und Glauben zur gegenseitigen Rücksichtnahme verpflichtet sind. Wenn auch oft die Verschiedenartigkeit der Benutzung der Grundstücke und das verständliche Streben nach größtmöglicher Ausnutzung des Grund und Bodens die Gegensätze oft hart aufeinanderstoßen lassen, so wird immer wieder das Überdenken des eigenen Standpunktes und die Bemühung um einen gerechten Ausgleich erforderlich sein, um den nachbarlichen Frieden zu erhalten.