"Am Reckarsch . . ."

Erinnerung an alte Grenzbräuche

VON DR. JOSEF H. FOLLMANN

In früher Zeit bildeten die naturgegebenen Formen der Landschaft die Grenzen der Stammesgebiete: Sümpfe, Ödland, Wälder, Gebirgskämme, Wasserläufe. Nach dem Bericht Caesars diente ein vieltausend Schritte breites, wüstes Gelände dem Gebiet der Sueben als Grenze; Horaz nennt den Wald „Schützer der Grenzen". Unser nächstliegendes Beispiel einer natürlichen Grenze ist das untere Vinxtbachtal mit den anschließenden südwestlichen Höhenzügen zur Kohlstraße hin als Grenze zwischen Treverern und Eburonen, dann zwischen jenen und den Ubiern, als diese auf die linke Rheinsdte kamen, in der Folge von den Römern zur Grenze zwischen Ober- und Niedergermanien bestimmt. Ihre Bedeutung erhielt sich durch die Jahrhunderte, zuletzt als Grenze zwischen Kurköln und Kurtrier und noch in unseren Tagen fortwirkend auf sprach- und volkskundlichem Gebiet. Mit fortschreitender Ausbildung fester Besitzformen an Grund und Boden, insbesondere mit dessen Aufteilung in Gemeindeland und Besitz einzelner Höfe, ergab sich die Notwendigkeit linearer Grenzziehung, sowohl für den Einzelbesitz als besonders zur Festlegung des Umfanges der Dorfmark, nicht zuletzt zu deren Sicherung gegenüber Nachbargemeinden. Auch hier boten sich wiederum naturgegebene Merkmale an wie Wälder, Hecken, Bachläufe, Höhenzüge. Der durch Marienthal fließende „Hubach" war Westgrenze der Ahrweiler Gemarkung, ihre Nordgrenze der Wald am „Holzweiler Kreuz", während im Osten der Bachemer Bach gegenüber der Grafschaft Neuenahr Grenze war. Größere Gemeinden sicherten ihr Gebiet durch Anlage von breiten Hecken und Gräben, wie wir es z. B. vom Rheingau und von Rothenburg o. T, wissen. Dessen Landgraben wurde von einer etwa 40 m breiten Hecke beschirmt.

Für ihren Bestand war der Hegereiter verantwortlich. Er bewohnte das bekannte, schmucke „Hegereiterhaus". (Eine Nachbildung dieses Rothenburger Hegereiterhauses ist in Linz am Rhein zu sehen, im Berghang oberhalb des Leetors.} Als Naturdenkmal unter gesetzlichem Schutz steht der Landgraben von Ahrweiler, an den die Flurbezeichnung „Auf dem Landgraben" erinnert. Wo die Straße nach Ramersbach den Wald verläßt, zog er sich vom Oberlauf des Bachemer Baches aufwärts ostwestlich in Richtung der jenseits der Straße liegenden Häuser („Waldwinkel") und weiter westlich auf einen der Ausläufer des Hungertales hin. Er bildete hier zugleich einen Teil der südlichen Grenze von Kurköln. Spuren eines Landgrabens haben, sich u. a. auch südlich vom Heimersheim, in Richtung Löhndorf und Westum ziehend, erhalten.

In der Gegend des oberen Geisbachtales bei Ahrweiler deutet der Name eines Waldstücks „Arn Loogstrunk" darauf hin, daß man mit Vorliebe markante Bäume als Grenzzeichen wählte: Lach- oder Malbäume, hierzulande „Looch" genannt (hergeleitet von lache = Kerb, Einschnitt, wohl auch von lag = Gesetz, engl. law). Wie der Name der Waldparzelle andeutet, behielten die Baume ihre Eigenschaft als Grenzzeichen, auch wenn ihr Alter nur mehr einen „Strunk" übriggelassen hatte. Allerdings war es streng verboten, Zweige und Äste von ihnen abzuhauen. Auch dort, wo kein Name mehr ausdrücklich auf ihre alte Bedeutung hinweist, kann man in unseren Wäldern oft derartige Bäume sehen, die wegen ihres Alters gegenüber dem sie umgebenden Jungholz ins Auge fallen. Geht man im Neuenahrer Wald („Im Dettelforst") vom Parkplatz der Klimastation nicht nach rechts in Richtung Steckenberg, sondern den Pfad geradeaus, entlang einem mit dichtem Unterholz bewachsenen, eingezäunten Waldstück und an der bald kommenden Gabelung nach links, so trifft man auf drei im Abstand von etwa 25 bis 35 m stehende große Eichen. Am Anfang und am Ende der von ihnen gebildeten geraden Linie steht je ein alter Grenzstein, mit einem Kreuz und den Buchstaben P . A und C . S versehen. Sie weiset! deutlich aus, daß die drei Bäume den Grenzverlauf zwischen den beiden Steinen als Loochbäume markieren. (Merkwürdigerweise befindet sich auch im Bodenbelag des Vorraums vor der Pforte des Klosters Calvarienberg, dicht an der rechten Wand, ein Stein mit den Buchstaben PAS und der Jahreszahl 1787. Das C fehlt hier.)

Foto: Dr. A. B. Follmann
Alter Grenzstein des Klosters Marienthal

War man später dazu übergegangen, Grenzen durch eigens zu diesem Zweck gesetzte Steine zu bezeichnen, so dienten auch Kapellen, Kreuze, markante Felsblöcke oder Bildstöcke als Grenzzeichen, wie das Bild des hl. Petrus, des Sinziger Kirchenpatrons, an der Gemarkungsgrenze zwischen Sinzig und Westum. Grenzsteine kirchlichen Besitzes tragen oft ein einfaches Kreuz, einen Kelch oder Abtsstab, zuweilen (in neuerer Zeit) mit dem Zusatz „Kirche" oder „Vicarie" versehen oder mit den Anfangsbuchstaben des Eigners, wie im Wald oben am Ostrand von Marienthal: C(onvcntus) M(ergenthalensis). In der Fülle von Grenzen, die es zu sichern galt, denken wir an die zahlreichen größeren oder kleineren Herrschaftsgebiete, an die Jagd-, Forst-, Fischerei- oder Weidegerechtsame, spielte naturgemäß eine ganz besondere Rolle die Grenze der Dorfgemarkung, da sie der bäuerlichen Bevölkerung ihre Lebensgrundlage: den Besitz des Landes und seine Nutzung sichern sollte. In den altertümlichen Formen ihrer Sicherung steckten zuweilen noch altheidnische kultische Vorstellungen von der Heiligkeit und Unantastbarkeit des Grenzverlaufs. Auf solche Vorstellungen deutet die in alteifeler Sagen anzutreffende Empfehlung : verhextes Vieh über die Grenze auf die Nachbargemarkung zu treiben, weil jenseits der Grenze der nur im eigenen Gemarkungsbereich wirksame Spuk seine Kraft verliere. Daher auch die grausamen Strafandrohungen alter ländlicher Rechtsquellen für willkürliche Versetzung der Grenzzeichen: Abhauen des Kopfes auf dem Stumpf des gefällten Loochbaums, Enthauptung in der Grube des ausgegrabenen Marksteins oder gar das Abpflügen des Kopfes mit einem bisher noch nicht gebrauchten Pflug und Pferden, ,,die des ackers nit gewont sind". Ob man diese Drohungen der in den ländlichen Bestimmungen gern mit Übertreibungen und in starken Ausdrücken redenden vox populi tatsächlich ausgeführt hat, ist nicht wahrscheinlich, jedenfalls für das Mittelalter nicht nachzuweisen. Aber sie zeugen von der Bedeutung der Grenze im Bewußtsein des Volkes. So sind auch die allenthalben umlaufenden Sagen vom Grenzverrücker zu begreifen, der nach seinem Tode keine Ruhe findet und mit seinem versetzten Stein, oft als feurige Gestalt, umgehen muß, bis einer den Mut findet, die immer wiederholte Frage: „Wo tu ich den hin?" zu beantworten: „Wo du ihn hergenommen hast!" Die Bedeutung der Gemarkungsgrenze macht es verständlich, daß die ländlichen Weistümer immer wieder Grenzbeschreibungen von höchster Genauigkeit enthalten, wie z. B. das von "Wilhelm Knippler veröffentlichte "Weistum von Arernberg vom Jahre 1641, in welchem auch öfter „alte Stock" als Zeichen genannt sind. Das wichtigste Mittel, den Verlauf der Gemarkungsgrenze im Bewußtsein der Gemeindegenossen lebendig zu erhalten, war zweifellos der regelmäßig stattfindende Grenzbegang der Dorfgenossen. Er war feierlich ausgestaltet: in festlicher Kleidung, mit Fahnen, Trommeln und Pfeifen, zuweilen gar „mit bewaffneter Hand", nahm man an ihm teil. In dieser Umgehung der Gemarkung verbarg sich die alte Rechtsform der Besitzergreifung durch Umwandern des Geländes. In einem Bericht heißt es, der zum Christentum bekehrte König Chlodwig habe dem hl. Remigius ein so großes Stück Land für die Reimser Kirche zugesagt, wie es der Bischof während der königlichen Mittagsruhe umschreiten (und damit in Besitz nehmen) werde. Mancherorts hat sich aus dem Grenzbegang eine bis in unsere Zeit am Himmelfahrtstage gehaltene sakramentale Flurprozession entwickelt. Inwieweit Elemente des Grenzbegangs in diese und in die Flurprozessionen des Markustags und der Bittwoche oder gar in die Fronleichnamsprozession übergegangen sind, muß hier unerörtert bleiben. Bei den Flurprozessionen überwog später eindeutig der religiöse Sinn der Fürbitte für das Gedeihen det Feldfrüchte den der Grenzsicherung. Jedenfalls gingen im alten Dorfe Herschbach die Flurprozessionen „an die Grenzen der Pfarrei". Auffallend bleibt auch, daß die Fronleichnamsprozession in Ahrweiler — anders als sonstige Umzüge und Prozessionen — ihren Weg noch heute um die alte Stadt herum nimmt.

Der weltliche Grenzbegang war nun, in lebhaftem Zusammenspiel von Recht und Volksbrauch, mit vielfach recht merkwürdigen Gepflogenheiten ausgestattet, die alle der Verfestigung der Erinnerung an den Grenzverlauf dienen sollten. Aufgrund der Erfahrung, daß Jugenderlebnisse bis ins hohe Alter unvergessen bleiben, war es Sitte, bei den Umgängen eine Anzahl junger Knaben mitzunehmen und diesen

Foto: Dr. A. B. Follmann
Alter Grenzstein „im Dettelforst" bei Bad Neuenahr

besonders markante Stellen der Grenze eindringlich einzuschärfen. Zur Stärkung ihres Gedächtnisses hatte man vielerlei Mittel zur Hand: Man beschenkte hier die Kinder mit bunten Lederriemen, mit Obst oder Geld, man zupfte sie an den Ohren und an den Haaren oder man gab ihnen „Dachteln", d. h. mehr oder minder kräftige Ohrfeigen zu bleibender Erinnerung. In letzterem steckte ein uralter germanischer Rechtsbrauch, von dem neben anderen schon das Volksrecht der nördlich der Vinxt dem Rhein entlang wohnenden Ripuarier spricht (aufgezeichnet in der Zeit um 600 n. Chr.): Bei einem Grunderwerb sollen mangels anderer Beweise 6 oder 12 Knaben zugegen sein, und der Erwerber solle jedem einzelnen von ihnen Backenstreiche (alapas) geben und ihnen das Ohrläppchen herumdrehen (torqueat auriculas), „damit sie ihm später Zeugnis geben können". Dieser schon in sehr früher Zeit nachgewiesene Rechtsbrauch eines Schlages, meist in der Form eines „Backenstreichs", läßt sich durch das ganze Mittelalter bis in die Neuzeit verfolgen als Mahnung: Niemals die bei seiner Anwendung vorgenommene, "wichtige Rechtshandlung und ihre Folgen zu vergessen. Schon früh begegnet er als Freilassungssymbol, später bei Erteilung des Ritterschlags, beim Frei Spruch des Lehrbuben zum Gesellen, bei der Wehrhaftmachung des Jägerburschen, bei der Überreichung des Degens an den Pagen fürstlicher Höfe. Ja er ist sogar, nachdem er wahrscheinlich in der fränkischen Kirche schon lange in Übung war, im Mittelalter auf germanischem Boden, (wie auch andere germanische Rechtsreformen), in die Liturgie der römisch-katholischen Kirche übergegangen: Dies in dem „leichten Backenstreich", den der Bischof dem Firmling nach der Salbung der Stirn bei Spendung der Firmung mit den Worten: „Fax tecum" gab. Erst vor kurzem ist dieses alte deutsche Rechtssymbol des Backenstreichs, das die Liturgie über die ganze Erde verbreitet, geheiligt und bis in unsere Tage lebendig erhalten hatte, im Zug nachkonziliarer Neuerungen als „anachronistisch" (!) abgeschafft worden.

Während von einem Ort in Schwaben berichtet wird, man habe auf einen neugesetzten Grenzstein einen Schulknaben gesetzt, ihm mit Kohle einen Bart gemalt und ihn dann mit Geldstücken beschenkt, bestand eine andere, recht kräftige Weise, die Erinnerung zu stärken, darin, daß man bei der Setzung eines Marksteins „die Knaben mit den Köpfen" in das vorgegrabene Loch „gestutzet" und „demnächst einen Stein darein gesetzet" hat, (so beim Grenzbegang in Arzbach/Wwd., 1694). Angesichts der oben schon genannten Gemarkungsgrenzen hatten die Ahrweiler Grenzgänger einen weiten Weg zurückzulegen. Reichte doch die Grenze im Süden bis an die Gemarkungen von Kesseling und Staffel. Gegen Mittag — so berichtet Jakob Rausch — traf man sich hier mit den Vertretern dieser Gemeinden, denen eine Bewirtung der Grenzgänger mit Brot, Wein und Käse oblag; dies als Gegenleistung für gewisse Weiderechte im Ahrweiler Wald, z. B. südlich des „Häuschens". Auch hier ist überliefert, daß mit Stadtrat, Förstern, Flurschützen und den für die Grenzsicherung verantwortlichen „Steingeschworenen" Knaben und Jugendliche teilnahmen, die, auf einem Grenzstein sitzend, von einem der Letztgenannten eine Ohrfeige erhielten, zugleich aber auch mit einem großen Weck bedacht wurden. Robuster ging es anderswo zu. Hier faßte man die Knaben am Kopf und an den Beinen und stieß sie unsanft mit dem „gereckten" Hinterteil auf den Markstein, um ihnen den Grenzverlauf unvergeßlich zu machen. Der „Stutzärschelstein" in der Handschuhsheim er Gemarkung bei Heidelberg, wie auch der „Bubenstein" bei Hirschhorn am Neckar (vielleicht auch der „Beutelstein" in den Waldungen bei Osburg Kr. Trier), bekamen ihre Namen von diesem merkwürdigen Tun, das hier und da noch als Hänselbrauch fortlebt, im Süden stutzen, stauchen, stumpfen oder stutzärscheln genannt, im Niederdeutschen bottarsen oder bollarschen.

Damit kommen wir zu einem kuriosen heimatlichen Flurnamen: „Am Reckarsth". Er begegnet uns in der Gemarkung von Brohl am Rhein. Verläßt man auf der Brohitalstraße die geschlossene Ortschaft, so kommt man (etwa in Höhe des jenseits des Tales liegenden Schießstandgeländes) in eine flache Rechtsbiegung der Straße. Sie läuft hier, links von der Bahn begleitet, dem Prallhang des Tales entlang. Hier liegen nebeneinander über 60 Parzellen, die den bewußten Namen tragen. Sie liegen als flache Gartenstücke rechts der Straße, eingefaßt vom Brohlbach und dem jenseitigen Mühlenteich. Sollten nicht etwaige archivalische Forschungen zu anderem Ergebnis führen, so werden wir wohl nicht fehl gehen in der Annahme, daß auch der Name „Am Reckarsch" (in dem Heinr. Dittmaier „eine scherzhafte Bezeichnung für die Bodengestalt oder auch das Endstück eines Geländeteils" sehen möchte), eine Flurbezeichnung ist, welche auf den besagten, in alter Zeit an dieser Stelle geübten Grenzbrauch zurückgeht. Dies um so mehr, als unweit von hier die Gemarkungsgrenze verläuft.