Gerhart Hauptmann, die Summe Schlesiens

VON HEINRICH O. OLBRICH

„Willst du den Dichter recht verstehn, mußt du in seine Lande gehn." Diese gute Empfehlung beachtend, wollen wir zunächst in der Heimat unseres großen Dichters, Schlesien, kurze Umschau halten.

Wie in einen riesigen Schmelztiegel sind die aus allen deutschen Stämmen und der nächsten Nachbarschaft Böhmen und Österreich-Schlesien zugezogenen Einwohner vor Jahrhunderten nach Schlesien gekommen und haben hier durch die Vermischung ein Volkstum besonderer Prägung geschaffen. Durch seine erwiesen glückliche Blutmischung und Begabung ist es das zweite Dichterland Deutschlands neben Schwaben. Schlesien ist die oft gerühmte Perle in der Krone der deutschen Landschaften. Ausgedehnte gelbe Fruchtgelände, dunkle Wälder mit glitzernden Seen und weite einsame Heide, unterbrochen von einigen Stromtälern und Hochebenen, Großstädte und träumende alte Städtchen und stille Dörfer, die sich in emsiger Arbeit und Besonnenheit ein gutes echtes Brauchtum erworben haben, schließlich Zonen beherrscht von Schloten in den Revieren der schwarzen Diamanten Oberschlesiens und Waldenburgs, liebliche Hügel und wilde Felsen und Hochgebirge, dies alles ist in dem Landschaftsbild Schlesiens enthalten.

Gerhart Hauptmann

Die Ahnen kamen nach Schlesien aus Niedersachsen, Thüringen und Franken. Böhmen, Österreicher und Polen wurden, an der südöstlichen Zone seßhaft. Die Jahrhunderte dauernde Bindung zu Böhmen und somit an die Habsburger Monarchie brachte bedeutende Einflüsse auf künstlerischem Gebiet und befruchtete stark das schlesische Wesen im Sinne heiterer Lebensbräuche und Aufgeschlossenheit.

In dieser glücklichen Landschaft ist Gerhart Hauptmann in Bad Salzbrunn, das inmitten der Berge liegt, geboren. Seine Ahnenforscher haben den Stammbaum der Familie Hauptmann bis ins 16. Jahrhundert nachgewiesen.

Bereits 1913 wurde Gerhart Hauptmann der Rufer Schlesiens, als ihm der Rat der Stadt Breslau die Aufgabe stellte, für die großangelegten Jahrhundertfeiern und die Einweihung der Jahrhunderthalle das Feststück zu schreiben.

Im Abstimmungskampf um Oberschlesien 1918 bis 1922 stellte sich der Dichter als Redner in großen Massenversammlungen zur Verfügung und mahnte die Entente als die Siegermächte zur Mäßigung und Gerechtigkeit. Im Auftrage der deutschen Verbände aus dem abgetretenen Gebiet (Ostoberschlesien) hatte ich Gelegenheit, dem Dichter persönlich den Dank für seinen mannhaften Einsatz im Abstimmungskampf in seinem Heim Wiesenstein in Agnetendorf zu überbringen. Die Begegnung fand in seiner Bibliothek statt. Es waren klare, tief ansprechende und überzeugende, herzliche und zugleich aufrüttelnde Worte, die er für die Ostoberschlesier an mich richtetete. — Wir hätten auch trotzdem weiter unsere große Deutschtumsaufgabe zu erfüllen. — Er tadelte die Schuldigen und den Mangel der Sorge in der Not. Seine mahnenden Worte waren und bleiben Bekenntnisse zum Geist, zum unersetzlichen Geist. ,,Die Herzen empor, dies heute und immerdar!" Zu diesen Ausführungen sagt er an einer Stelle: „Es ist jeweils bloß ein Wort, aber Worte sind Geist. Und wir haben nichts anderes, als auf den Geist zu wirken." In allen seinen Werken bringt der Dichter tief überzeugende und eindrucksvolle Proben seines Schaffens, die in ihrer Aussage einst und auch heute bedeutungsvoll sind. Gerhart Hauptmann hat in eine unendliche Vielzahl der Seelen seiner Landsleute tief hinein geschaut und läßt so durch den Mund fast aller vorhandenen .Berufsgruppen und Schichten, Vertreter aller Stände und Altersstufen, Eltern und Kinder seine Stimme überzeugend und unnachahmlich klar ertönen.

Aus der Fülle dieser Beobachtungen wollen wir nur einen Teil als Beweisstücke herausheben. Er hat sie alle in ihren verschiedensten Lebensformen und Lebenstagen, in Freud und Leid, in Freundschaften oder Zwietracht belauscht, und voller plastischer Lebendigkeit läßt er sie so überzeugend zu uns sprechen. Durch diese überragende Fähigkeit ist unser Dichter ein Menschenbildner ersten Ranges geworden, wobei Wesensart und jeweiliger Standort des Menschen zu einer treffenden Einheit vereint sind.

In „Vor Sonnenaufgang" läßt er uns die liebliche Welt seiner frühen Jugendzeit mit Salzbrunn und Umwelt schauen und verstehen. Kinder und Gespielen, Onkel, Tanten und Besucher treten lebendig vor uns auf; der Lumpensammler kommt in die Elendsviertel der armen Weber. Er reist ins arme Eulengebirge, um dort die Not und die braven Menschen, die dieses Elend zu tragen haben, persönlich in ihren verschiedenen Lebenslagen zu beobachten. „Die Weber" wurde ein Welterfolg bis zum heutigen Tage. Die einzelnen Menschengruppen treten in bunten Bildern auf in: „Die versunkene Glocke", „Fuhrmann Henschel", „Schluck und Jan", „Gespenster" u. a.

Pascher (Schmuggler) streifen durch die Grenzgebirge, Waldarbeiter kehren von ihrer schweren Arbeit heim; dann, das drohende Unwetter; Glasbläser sitzen beim Grog und besprechen ihre Angelegenheiten im Krug, der Förster trifft mit seinen. Bekannten hier zusammen, im Schweidnitzer Keller der Großstadt Breslau, der Oberförster erzählt, heute gut gelaunt, die geheimnisvolle Geschichte vom Schuß im Park; Bergarbeiter ziehen in langen Reihen vorbei und protestieren; die Hofleute, Knechte und Mägde auf den größeren und kleineren Höfen bilden auch eine Gemeinschaft; Fuhrherren und fahrende Kaufleute ziehen, durch Schlesien, Pferdehändler begeben sich von Markt zu Markt; eine politische Versammlung im Hirschberger Tal findet statt.

Wir erleben Glashütten und Hotels, den Kurdirektor im Kurhotel und das Kleinstadthotel; wir erleben den Stammtisch der Honoratioren eines kleineren Orts; Studenten, Künstler, Bauern.

Draußen auf dem Lande, da sitzen sie, „die Stillen" in Zurückgezogenheit, die Sinnierer, Pharisäer, wohl auch ordentliche Christen, aber ebenso Sektierer und schließlich mit ihnen „Emanuel Quint" mit seinem Kreis. In der kleinen Kreisstadt des „Peter Brauer" treffen wir den Landadel, und selbst an Gefängnissen und seinen Insassen kommt der Dichter nicht vorbei.

Mit welcher Liebe umfaßt der Dichter die, die gefährdet sich auf abschüssiger Bahn befinden; wie erkennt er auch in Ihnen den göttlichen Funken. Wir begegnen dem Kunstfotografen mit dem echt schlesischen Namen Schmolcke — aber auch dem auf dem Lande damals schwer arbeitenden Landarzt. Wie reich ist die Zahl edler Frauengestalten aller Stände, die in seinen Werken auftreten — und die Reihe seiner kindhaften Mädchen.

Die große Zahl jener Schlesier, die der Dichter sein Denken und Fühlen aussprechen läßt, ist noch lange nicht erschöpft. Dabei bringt er uns die Landschaft immer wieder ganz nahe, läßt uns teilhaben an den gemeinsamen Erlebnissen i 11 Freud und Leid und Trauer. Es gelingt selten einem Dichter, die Landschaft seines Schaffens und die darin wirkenden Menschen in einer solchen Echtheit zu erkennen, wie bei Gerhart Hauptmami. Das in Schlesien wurzelnde Brauchtum, aus Urzeiten kommend, begleitet den Jahreslauf und läßt erkennen, daß gerade Kinder als Träger der Gebräuche auftreten. Ja, gerade letztere läßt er spielend plaudern, am Krankenbett tröstend verweilen und auch in. Scharen auftreten, oder den älteren Gefährten zuhörend — und dabei in der Nase bohrend. Die treffende Kennzeichnung der Gebirgsbewohner durch den Dichter darf ich unseren Lesern nicht vorenthalten. „Die Männer, die fast das Leben lang mit Säge und Axt hantierten, hatten selbst mit Bäumen eine gewisse Ähnlichkeit, und sie rochen nach Wald, Erde, Harz und Moos."

Noch in der höchst kritischen Lage der Ostfront Ende 1944 besuchte unser Dichter seine Lieblingsstadt Dresden, um dort Heilung seines Leidens zu finden. Die Vernichtung der Kunststadt Dresden traf ihn überaus hart. Unter Überwindung größerer Schwierigkeiten gelang es ihm, seine geliebte Heimat Agrietendorf noch zu erreichen. Er arbeitete unentwegt weiter an seinem letzten großen Werk „Christophorus" und unterhielt eine ausgedehnte Korrespondenz. Nach dem völligen Zusammenbruch 1945 ahnte auch er sein nahendes Ende. In dem allgemeinen Chaos dieser Zeit erklang noch einmal die mahnende Stimme des Dichters. Er sprach die erhabenen Worte; „Gott möge die Menschen mehr lieben, läutern und klären zu ihrem Heil als bisher." Die Besatzungsmächte rückten auch in Agnetendorf ein, verschonten jedoch ihn und sein Heim. Der Greis war indessen den seelischen und körperlichen Belastungen nicht mehr gewachsen. Er kränkelte zwar sehr, pflegte aber dennoch einen lebhaften Schriftverkehr mit Freunden, wie man dem geschlagenen deutschen Volke vor allem geistig helfen könnte. Am 2. Juni 1946 verlor er das Bewußtsein. Am 6. Juni 1946 entschlief er. Am 9. Juni 1946 fand in Wiesen-Stein im engeren Kreis der Familie eine Trauerfeier statt. Er lag im Sarge bekleidet mit einer Franziskanerkutte, die ihm ein italienischer Mönch vor Jahren geschenkt hatte. Fast sechs Wochen lang stand seine Leiche im versiegelten Sarg im Haus Wiesenstein, bis am 18. Juli 1946 der von den Besatzungsmächten zugesagte Sondergüterzug für die Überführung bereitgestellt worden war. Die irdische Hülle des Dichters wurde in einem schmutzigen Güterwagen befördert. Auf beschwerlichen Umwegen durch verwüstete Landschaften wurde der Transport bis Berlin geleitet und von hier aus nach Stralsund. Die offizielle Trauerfeier fand im Saal des gotischen Rathauses statt. Dann bewegte sich der Trauerzug zum Hafen. Am 28. Juli 1946, kurz nach Sonnenuntergang fand auf dem schönen Friedhof des Klosters Hiddensee die Beisetzung statt.

Sein großer Verehrer Gerhart Fohl widmete dem Heimgegangenen folgende Gedanken: „Gestalten wie diese sind das kostbarste Geschenk der Welt an sich selbst, auf daß der Mythos von der Menschengröße immer wieder Nahrung findet..."

Zu seinem 80. Geburtstag schrieb der Dichter u. a. folgende Verse:

Der Weg, den ich noch schreite,
geht freilich in die Weite,
und auch
um Gott zu loben,
erführt vielleicht nach oben.
Doch hier, im Erdenleben,
ist keine. Wahl gegeben.
Hier heißt es abwärts steigen
und in das große Schweigen.

Schlesiens großer Sohn fand nach langen Verhandlungen mit den Besatzungsmächten auf der einsamen Insel Hiddensee bei Rügen seine letzte Ruhestätte.