Briefschreiben, eine aussterbende Kunst?

Wilhelm Knippler

„Schlimm sieht es aus mit unserer Handschrift. Wir sind ein Volk von Schmierern und Kritzlern geworden." Das schreibt L. Jankowski in der Monatsschrift „Das Beste". Ich möchte ergänzen, daß das handschriftliche Schreiben sehr vernachlässigt wird und daß viele unsere eigene deutsche Schrift nicht mehr lesen können.

Als Beispiel diene vorstehender Brief Bismarcks:

29. Okt. 1862
Verehrter Freund u. College, ich weiß mit der Anlage für den Augenblick nichts Anderes zu thun, als sie Ihnen ans Herz zu legen. Ich hoffe Montag zurück zu sein, finde Sie aber voraussichtlich nicht mehr in Berlin. Die kürze der Zeit u. die Menge der Geschäfte. u. Besuche zwingen mich, mit herzlicher Empfehlung an Ihre Frau Gemahlin, diese Zeilen auf Vorstehendes zu beschränken. Treu ergeben der Ihrige v. Bismarck

Dieser Brief Otto von Bismarcks ist in deutscher Schrift verfaßt. So hat er auch an seinen König geschrieben. Ein Glück, daß der König diese Schrift wenigstens lesen konnte. Er konnte sie sogar schreiben. Damals lernte man das in der Schule.

Repro: Kreisbildstelle

So ist das heute, viele deutsche Menschen können die eigene deutsche Schrift und die Briefe ihrer Eltern und Großeltern nicht mehr lesen. In Frankreich ist das anders. Da doziert, wie der Rheinische Merkur berichtet, der Germanistikprofessor Metz in Montpellier und verlangt von jedem französischen Studenten, daß er die deutsche Schrift — man nennt sie dort gotische Schrift — lesen und selbst schreiben kann. Seine Schüler mußten im Schillermuseum in Marbach Heidelberger Germanistikstudenten die Briefe der großen Deutschen, die dort in Schaukästen einen Ehrenplatz einnehmen, vorlesen.

Nun zum Briefeschreiben! Die moderne Technik hat vielfach das handschriftliche Briefeschreiben erwürgt, die Schreibmaschine machte die schöne oder wenigstens lesbare Handschrift überflüssig, gleichzeitig wurde der Brief ersetzt durch das Telefon. Nach dem längsten Redefluß und dem Auflegen des Hörers bleibt jedoch kaum eine tiefe Spur zurück. Anders beim Brief, der noch nach vielen Jahren zum Leser sprechen kann.

Da behaupten viele Zeitgenossen, die Kunst des Briefschreibens sei seit der Biedermeierzeit immer mehr geschwunden. Die beiden Weltkriege aber haben vielen Menschen nicht nur gezeigt, wie gut trockenes Brot schmeckt, wenn man nur den rechten Hunger hat, sie haben auch Hunderttausende wieder schreiben gelehrt. Die Feldpost beförderte damals Millionen Briefe. Für viele draußen und daheim waren sie ein kostbarer Schatz, immer wieder hervorgeholt als Brücke zum Gedankenspiel mit dem geliebten Menschen. Viele Tausende hat der Kontakt des Briefes zusammengeführt.

Wieviel Gedanken wären ungedacht geblieben, wenn es keine Briefe gegeben hätte, die erst manchen Gleichgültigen zwangen, seinen Geist zusammenzuraffen zu Zeilen, die dem Menschen auf der anderen Seite etwas Teilnahme oder gar Freude bereiten konnten, denn das ist ja doch des Briefschreibens schönster Sinn.

Goethe verbrannte 1797, als er in die Schweiz reisen wollte, viele an ihn gerichtet Briefe. Er hatte eine Abneigung gegen ihre Veröffentlichung, da er Achtung hatte vor der Intimsphäre. Briefe gehören aber zu den wesentlichen historischen Quellen und Dokumenten. Sie sind Abbilder der Persönlichkeit. Ihr Verlust ist unersetzlich.

Wie arm wären wir ohne den Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller! Darin finden wir gleich zu Beginn das Musterbeispiel für den Glücksmoment, der Schiller im Brief vom 23. 8. 1974 die Gedanken aussprechen ließ, die den Schlüssel zum Wesen Goethes darstellen und dadurch brieflich das Tor öffneten zu der schicksalsträchtigen Freundschaft unserer großen deutschen Geister!

Achten wir aber auch die schlichten Briefe unserer Vorfahren! Auch aus ihren Schreiben spricht ein Mensch mit seinem Denken und Fühlen, und das braucht nicht ein druckreifes Gedankengebäude zu sein, aber es kann sein ein sichtbares Zeugnis einer verwandten Seele.

Tragen wir dazu bei, daß unsere Nachfahren die Handschreiben ihrer Ahnen wenigstens zu lesen vermögen! Das wäre sicher eine interessante und ersprießliche Freizeitbeschäftigung!