Aufbruch zu neuen europäischen Ufern

Europagedanke und Europa-Union Deutschlands im Kreis Ahrweiler

Karl Hatwig

»Hier der Kreisverbandsvorsitzende Garmisch-Partenkirchen der Europa-Union Deutschland!« Eine Stimme mit unverkennbar bayerischem Akzent am anderen Ende des Telefondrahtes bittet um Auskunft, sucht den Kontakt mit dem Vorsitzenden des Kreisverbandes Ahrweiler der Europa-Union. Und dann folgen kurz und präzise die Fragen: »Worauf sind die bemerkenswerten Erfolge, die überraschend hohe Zahl der verschiedensten Aktionen des Kreisverbandes Ahrweiler zurückzuführen?« Und anspielend auf die starke Jugendgruppe des Kreisverbandes Ahrweiler und den hohen Altersdurchschnitt der meisten anderen Gliederungsverbände der Europa-Union in der Bundesrepublik: »Wie kommt ein Kreisverband zu so vielen jugendlichen Mitgliedern?«

Nun ist der überraschte Vorsitzende des Kreisverbandes Ahrweiler an der Reihe, seinem Europa-Unionskollegen Rückfragen zu stellen. Zwar werden die Aktivitäten des hiesigen Kreisverbandes in der überregionalen, auf Bundesebene erscheinenden »Europa-Zeitung« lobend beschrieben, aber sollte in Bayern dafür Interesse bestehen?

Die Aufklärung erfolgt schnell. Als Kurgast in einem der renommiertesten Hotels in Bad Neuen-ahr machte ein junger, angehender Hotelfachmann den älteren, europaengagierten Grafen aus Bayern mit diesen europäischen Phänomenen im Kreis Ahrweiler bekannt. Phänomene, die in ihrer Entstehung denkbar einfach sind, deren letztendliches Mißlingen für fast alle vorprogrammiert erschienen und von daher ihre auf Landes- und Bundesebene überraschend hohe Effektivität wie ein halbes Wunder gewertet werden muß. Der Aufbruch zu neuen europäischen Ufern gelang im Kreis Ahrweiler inmitten einer saturierten Gesellschaft mit Hilfe der Jugend.

So fing es an!

Ende 1978 entstand in Gesprächen eines Lehrers mit Jugendlichen, die er in den Abschlußklassen der Realschule Ahrweiler unterrichtete, der Wunsch, für die ein halbes Jahr später anstehende 1. Direktwahl zum Europäischen Parlament etwas zu tun.

Die Voraussetzungen für einen Erfolg waren dürftig, die Hindernisse schier unüberwindlich. Da kam ein Zufall dem Häuflein der 14 für die europäische Sache aktionswilligen Schüler zur Hilfe. Aus einer bescheidenen Anforderung von Informationsmaterial beim Bundesverband der Europa-Union in Bonn entwickelte sich auf Anhieb ein glänzendes Einvernehmen mit dem damaligen Genralsekretär Dr. Jansen, das seinen ersten Höhepunkt in der Beauftragung zur Neugründung eines Kreisverbandes der Europa-Union Deutschland im Kreis Ahrweiler fand. Und das von vielen belächelte Wagnis gelang: Im Januar 1979 fanden sich im Evangelischen Gemeindehaus in Bad Neuenahr 14 Jugendliche und einige wenige Erwachsene zu ihrer ersten Mitgliederversammlung ein und wählten ihren Vortand. Und nun jagte eine Aktion die andere: Tischausstellungen, Fußgängerzonenveranstaltungen, Verteileraktionen in Schulen, Krankenhäusern, Kurheimen oder einfach auf der Straße, Vorträge, Schulungsabende, eine Fernsehsendung u. a. m. 800 Arbeitsstunden einer Handvoll Aktiver, von Januar bis Juni gelegentlich unterstützt von einer weiteren Handvoll Aktionsbereiter, zeugen von einer Einsatzbereitschaft fast rund um die Uhr, die ihre Wurzeln einmal in der Einsicht hatte, daß nur totales Engagement Aussicht auf Beachtung erhalten kann, und zum anderen in dem die politische Einheit Europas begründenden Ausspruch: »Ein Volk, das aus der Vergangenheit nicht gelernt hat, ist gezwungen, die Vergangenheit zu wiederholen!«

Engagierte Jugendliche initiierten einen neuen Start für Europa im Kreis Ahrweiler

Schwer war dieser Weg, dieser Aufbruch zu neuen europäischen Ufern. Einige gaben schon sehr bald angesichts der Intoleranz, Unbeweglichkeit und beißenden Ironie ihrer Mitbürger auf, andere kamen neu hinzu. Und immer wieder waren es in der Mehrzahl Jugendliche, die bei Wind und Wetter in Ahrweiler, Bad Neuenahr, Altenahr, Adenau, Sinzig, Remagen überparteiliches Informationsmaterial den oft sehr skeptischen Passanten anboten und viele hundert motivierende Gespräche führten. Und alles das ohne irgendwelche Belohnung, im Gegenteil: auf manche Freizeitstunde und alles Entgelt für den Einsatz von Fahrzeugen wurde verzichtet.

Am Ende dieser Plackerei stand im Juni 1979 die Europa-Wahl und damit ein nie erhoffter, nachweisbarer Erfolg: Während alle Welt die Europa-Wahl im Windschatten der gleichzeitig stattfindenden Kreistags- und Kommunalwahl segelnd, prophezeit hatte, kehrte das Ergebnis der Wahlen nicht nur in Bad Neuenahr-Ahrweiler diese Prophezeiung ins Gegenteil: Mit über 78 % wählten die Bürger dieser Stadt ihren Europakandidaten ins Parlament nach Straßburg, während gleichzeitig ca. 1 000 Bürger weniger einem der Kandidaten für den Stadtrat zu Sitz und Stimme verhalfen. Im Bundes- und Landesdurchschnitt bildete dieser Prozentsatz die absolute Spitze.

Der erste Vorstand des Kreisverbandes Ahrweiler nach der jugendlichen Europainitiative

Trotz einer stillen Vereinbarung zwischen den Jugendlichen und ihrem Lehrer, dem jetzigen Vorsitzenden des Kreisverbandes Ahrweiler der Europa-Union Deutschland, bis zur Europa-Wahl, bei der vielgestaltigen Informations- und Motivationsarbeit der Europa-Union mitzuhelfen, blieben viele auch nach dem erfolgreich durchgeführten Auftrag als Mitglieder dem Kreisverband treu. Es war gleichsam so, als fühlten die 15- bis 17jährigen Jungen und Mädchen, daß ihr Aufbruch zu neuen Ufern mehr als ein einmaliges Kommandounternehmen gewesen war. Unter Anleitung ihres Lehrers fingen sie behutsam an, einen Übergang, eine Art geistige Brücke vom vertrauten Ufer einer Konsumgesellschaft zu dem erst umrißhaft deutlich werdenden neuen Ufer einer politisch vereinigten europäischen Gesellschaft zu schlagen. Sie mußten im Umgang mit den inzwischen auf 50 Mitglieder angewachsenen alten und älteren »Europäern« des Kreisverbandes bei den Diskussionen auf den Mitgliederversammlungen lernen, nicht mit politischem Ungestüm, mit Angriffslust und kompromißloser Forderung nach Anerkennung und Bestätigung die älteren Mitglieder zu verprellen. Diese wiederum nahmen erstaunt zur Kenntnis, daß die konsequente und detaillierte Kritik der 25 Jugendlichen, ihre tiefwurzelnde Skepsis gegenüber dem Bestehenden, ihre theoretisch fundierte und zielstrebige Konzeption mit romantischer Schwärmerei nichts zu tun hatte.

Natürlich konnte dieses Aufbegehren der Jugendlichen auch als Generationenproblem gedeutet und damit abgehakt werden. Damit wäre der Bruch in dem Kreisverband zwischen alt und jung vollzogen und zementiert worden. In mühseliger Überzeugungsarbeit, mit sehr viel Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß gelang es, Brücken über diesen Generationsgraben zu schlagen. Es war nicht leicht für die ältere Generation, einzusehen, daß es keine Machtfrage, sondern eine Zeitfrage ist, wann sie den nachdrängenden Jüngeren Platz machen muß. Und daß diese jungen Leute mit zunehmendem Alter ihre früh erworbenen sozialen Einstellungen und politischen Präferenzen in der Regel nicht mehr wesentlich ändern, ist eine Erkenntnis, die unter Soziologen und Sozialpsychologen nicht mehr strittig ist. Sie bedeutet, daß die politische Zukunft Europas in der heutigen Jugend vorgeformt ist. Und so bedarf es der Klugheit, der Gerechtigkeit, der Tapferkeit und des Maßes, wenn die Erwachsenengeneration verhindern will, daß die europäische Jugend in ihrem Streben nach einer Veränderung der bestehenden Machtverhältnisse einseitig von rechts oder links ideologisch vereinnahmt wird.

Obligates Gruppenfoto vordem Europa-Parlament anläßlich der 2. Fahrt nach Straßburg im Mai 1981
Fotos: Kreisbildstelle

Ein deutliches Zeichen in dieser Hinsicht setzt die anwachsende Bewegung der Grünen überall in der Bundesrepublik. Das vielbeachtete »Ahrweiler Experiment«, die Europa-Idee durch Jugendliche den Bürgern nahezubringen, scheint auch die vorliegenden empirischen Befunde der Sozialforschung zu bestätigen. Sie besagen, daß

Die Erfahrungen des Ahrweiler Experiments zeigen deutlich auf, daß Jugend sich nicht in die üblichen Vereinsformen pressen lassen will, daß sie als nicht-etablierte Elite sich gegen jegliches Vorstandsmanagement wehrt, daß sie sich letztlich deswegen gegen die Europäische Gemeinschaft in ihrer heutigen Form — trotz prinzipieller Zustimmung, wendet, weil sie in ihr ein Instrument der etablierten Parteien sieht, die sie ablösen will. Eine wachsende, prinzipiell eher unpolitische Skepsis gegenüber den Werten der industriellen Leistungsgesellschaft, wie sie etwa für die Jugendlichen Amerikas festgestellt wurde, bewirkt z. B. in der Bundesrepublik, wie die letzten Wahlen beweisen, daß sich in den nächsten zwei Jahrzehnten die soziale Basis für Bewegungen, die radikale gesellschaftliche Veränderungen anstreben, rapide vergrößern wird.

Tanzdarbietungen der griechischen Gruppe aus Gummersbach erfreuten viele hundert Gäste auf der Veranstaltung der Europa-Union in der Ahrweiler Fußgängerzone 
Foto: Vollrath

Nachdem das Zeitalter der Macher, der Politiker, der Juristen dem Ende zugeht, wäre es wieder an der Zeit, daß echte Erzieher, Pädagogen nicht Pädagogiker sich der Jugend annähmen, Scheinwerte von Werten trennten, Verführer entlarvten und so der Jugend Wege wiesen, die über den engen nationalstaatlichen Horizont in die Weite eines zukünftigen Europas führten, eines Europas des Friedens und der Freiheit. Die Brücke zu diesem Europa ruht auf den wieder neu zu vermittelnden Werten der Klugheit, der Gerechtigkeit, der Tapferkeit und des Maßes, auf 4 Pfeilern also, die einmal grundgelegt, für alle Stürme unangreifbar sind. Diese Brücke führt — wie schon erläutert — vom alten zum neuen Ufer, verbindet bruchlos altbewährte Traditionen mit neuen gesellschaftlichen Phänomenen. Wer über diese Brücke geht, gibt an Traditionen, wenn er sich dort heimisch fühlt, nichts auf, aber geht gleichsam auf einen neuen geistigen Horizont zu, der es ihm erlaubt, alles Bisherige von einer höheren Warte aus zu überblicken. Dieser Auf bruch zu neuen Ufern gelang einer relativ kleinen Gruppe von Jugendlichen, die sich weiterhin für Europa einsetzen und von deren Aktivitäten die »Europäische Zeitung« im Mai 1982 berichtete: »Mit drei großen Veranstaltungen, einem europäischen Jugendhüttenfest, einem griechisch-deutschen Fest der Begegnung und einem Vortrag des ehemaligen Außenministers von Luxemburg, Gregoire MdEP, gelang es dem aktiven Kreisverband Bad Neuenahr-Ahrweiler der Europa-Union die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Eine offene Waldhütte war von etwa 70 Jugendlichen aus Frankreich, Marokko, Belgien, den Niederlanden und aus dem Kreis Ahrweiler überfüllt. Disco-Musik animierte über sechs Stunden zum Tanz, dazwischen faszinierte eine marokkanische Studentengruppe mit Darbietungen. Der durch bunte Lampions erhellte Vorplatz bot zu zwangloser Unterhaltung ebenso die Möglichkeit wie ein großes Imbiß- und Informationszelt, wo Europagedrucktes verteilt wurde und Europagesprochenes zu hören war. Spontan wurden Lieder auf Französisch und Deutsch gesungen; fremde Menschen waren einander nähergekommen. Kaum vier Wochen später folgte das Fest der Begegnung in der von mittelalterlichen Fachwerkhäusern geprägten Fußgängerzone in Ahrweiler. Unter einem Zeltdach ein Tanzpodium, flankiert von Musikzelt, Würstchenbude, Info-und Buchausstellungstischen, Verkaufswagen mit griechischem Wein und Ahrwein nebst Spezialitäten. Zwischen Folkloremusik eingestreut Grußworte des EU-Vorsitzenden Hatwig, von Landrat Dr. Plümer und eines Vertreters der griechischen Botschaft. Zwei Gitarristen und die griechische Tanz- und Musikergruppe aus Gummersbach begeistern die Menge, die auf mehrere hundert Personen anschwillt. Zwei Mutige aus der Menge springen auf das Podium, tanzen mit. Plötzlich ist das Podium zu klein, der Funke ist übergesprungen — ein Volksfest, das in den örtlichen Medien großen Widerhall findet.«

Es müßte oberstes pädagogische Bestreben aller im Kreis Ahrweiler sein, diese engagierte Gruppe und die ihnen Nachfolgenden nicht zu hindern, das Ufer eines politisch vereinigten Europas mit seiner vielfältigen Kultur und Tradition zu erreichen.