30. Januar 1933

Fakten und Hintergründe zur nationalsozialistischen Machtergreifung vor 50 Jahren

Karl Deres

Am 30. Januar 1983 wird sich die nationalsozialistische Machtergreifung zum fünfzigsten Male jähren.

Am 30. Januar 1933 wurde Hitler vom Reichspräsidenten von Hindenburg zum Reichskanzlerernannt.

Viele Deutsche, insbesondere die jüngere Generation, fragen sich in diesen Tagen, wie es zu dem Verfall der Demokratie und der sich anschließenden Diktatur mit ihren schrecklichen Folgen kommen konnte. Einen Beitrag zu dieser Frage und der notwendigen Diskussion soll die folgende Darstellung der wesentlichen Faktoren und Hintergründe zur nationalsozialistischen Machtergreifung leisten.

Die Wirtschafts- und Finanzkrise des Jahres 1929

Die 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise zerstörte die Grundlagen für eine weitere wirtschaftliche Stabilisierung, wie sie in den mittleren Jahren der Weimarer Republik eingesetzt hatte.

Die industrielle Krise begann schon im Winter 1928/29, als der Zugang an Arbeitskräften von der Wirtschaft nicht mehr aufgenommen werden konnte und die Zahl der Erwerbslosen auf über zwei Millionen anstieg. Im Winter darauf waren es schon drei Millionen Arbeitslose. Die Folge war eine erhebliche Belastung des Reichsetats durch erhöhte Leistungen an die Arbeitslosenversicherung. So wies der Reichshaushalt des Jahres 1929 infolge der Steuersenkungen, Gehaltserhöhungen und umfangreichen öffentlichen Aufwendungen aus den Jahren 1926 -1928 ein Defizit von 600 Millionen Mark aus.

Der Rücktritt des Kabinetts der Großen Koalition unter Hermann Müller (SPD) Die wirtschaftliche und soziale Depression verschärfte unmittelbar die wirtschaftlichen, sozialen und vor allem die politischen Gegensätze in Deutschland. Die Wirtschafts- und Finanzkrise weitete sich zu einer Krise des parlamentarischen Systems aus. Die Fronten in der Wirtschafts- und Sozialpolitik verhärteten sich in einem nicht mehr überbrückbaren Gegensatz zwischen den Flügelparteien des Kabinetts Müller, der Deutschen Volkspartei (DVP) und der Sozialdemokratie. Trotz der akuten staatspolitischen Gefahr waren beide Parteien nicht mehr bereit oder auch nicht mehr fähig, sozialpolitischen Kompromissen wie der Erhöhung der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge zur Arbeitslosenversicherung zuzustimmen. Daraufhin brach die Große Koalition auseinander. Das Kabinett Müller trat am 27. März 1930 zurück. »Der Anlaß für ihren Rücktritt stand in keinem Verhältnis zu den furchtbaren Folgen. Es ist in den nächsten Jahren nicht mehr gelungen, eine Regierung auf parlamentarischer Grundlage zu bilden. Durch den Bruch der Großen Koalition am 27. März 1930 schaltete der Deutsche Reichstag sich selber aus. Damals waren von 491 Abgeordneten nur 12 Nationalsozialisten und 54 Kommunisten. Der Parlamentarismus der Weimarer Republik ist nicht von außen zu Fall gebracht worden. Er ging an sich selber zugrunde, als die Flügelparteien der Großen Koalition nicht mehr die Kraft und den Willen aufbrachten, über den widerstreitenden Interessen der hinter ihnen stehenden Gruppen eine zum Kompromiß fähige undoktrinäre Staatsgesinnung zur Geltung zu bringen.«1) Die Stellung der Partelen Die Mehrheit der SPD hatte den Entschluß gebilligt, Sozialpolitik, d. h. Arbeitslosenhilfe, vor Staatspolitik, d. h. Rettung des bedrohten parlamentarischen Systems, zu stellen. Sie nahm damit ihre Selbstausschaltung in Kauf. Doch meldete sich bald darauf eine Minderheit, die nicht bereit war, die so geschaffenen Tatsachen als unumstößlich hinzunehmen. Ihr Sprecher Hilferding ließ keinen Zweifel daran, daß ihm die Entscheidung in keiner Weise behagte2), »daß, wenn das Parlament in seiner grundlegenden und wichtigsten Funktion versagt, nämlich eine Regierung zu bilden, die Macht des Reichspräsidenten sich auf Kosten und durch Schuld des Parlaments erweitert und der Reichspräsident Funktionen ausüben muß, die zu erfüllen der Reichstag sich versagt« Er fuhr fort und sagte: »Es ist nicht gut, aus Furcht vor dem Tode Selbstmord zu begehen.« Dennoch gab es nach der Entscheidung, die Große Koalition aufzukündigen, für die SPD keine Möglichkeit mehr, große politische Entscheidungen herbeizuführen. So war sie nicht in der Lage, sich gegen die große Welle von rechts durchzusetzen. Die Kommunisten waren durch den Komintern-Beschluß von 1928 auf die »ultralinke« Taktik festgelegt, die SPD mit allen Mitteln zu bekämpfen. So konnte die KPD nicht zum innenpolitischen Bundesgenossen gemacht werden. Vielmehr wurde die SPD von der KPD als »Sozialfaschisten« und Arbeiterverräter beschimpft. Dieser Sachverhalt hat nicht wenig zur Lähmung der SPD in den Jahren 1930 -1933 beigetragen.

Die Rechtsparteien sahen sich zunehmend einer Abwendung ihrer Wähler zum Nationalsozialismus gegenüber. Ein Grund für diese Abwanderung war auch die Verdrossenheit der Wähler gegenüber dem Vielparteienparlamentarismus, der schließlich die Richtung auf ein »Hindenburg-Kabinett«3 unter Leitung Brünings begünstigte. Aus der Krise des Parteienstaates war eine Krise des Parlamentarismus geworden. Es hat in jener Zeit aber nicht an demokratischer Selbstkritik gefehlt; doch sind entsprechende Konsequenzen aus dieser Selbstkritik und aus der Analyse jener Zeit nicht gezogen worden. Gustav Stolper, von 1930 - 1932 Mitglied der Deutschen Staatspartei, formulierte schon 1929:

»Was wir heute haben, ist eine Koalition von Ministern, nicht eine Koalition von Parteien. Es gibt überhaupt keine Regierungspartei, es gibt nur Oppositionsparteien. Daß es so weit gekommen ist, bedeutet eine schwere Gefährdung des demokratischen Systems, als Minister und Parlamentarier ahnen.«

Die Präsidial-Kabinette 

Mit der Berufung des Führers der Zentrumsfraktion im Reichstag, Heinrich Brüning, war Reichspräsident von Hindenburg fest entschlossen, der SPD in Zukunft keine Teilhabe an einer Regierung mehr zuzugestehen. Vielmehr sollte der neue Reichskanzler ein Kabinett führen, das mit Hilfe der Vollmachten des Reichspräsidenten nach Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung auf Koalitionsbindungen keine Rücksicht mehr zu nehmen brauchte. So entstand eine Staatsgewalt »über den Parteien«. »Das präsidiale Notverordnungsrecht wurde in der Folge, so wenig öffentliche Sicherheit und Ordnung< zunächst noch bedroht waren, zur Umformung des Regierungssystems selbst verwendet.«5 Damit wurde ein »stiller Verfassungswechsel«6 zur Präsidentschaftsrepublik vollzogen.

Septemberwahlen und Weltwirtschaftskrise

Die Septemberwahlen von 1930 brachten den Nationalsozialisten einen Zuwachs von 3 auf 18 % (= 107 Mandate). Die Kommunisten gewannen 13 % statt bisher 11 % der Wähler, so daß 31 % der Reichstagssitze jetzt von revolutionär-radikalen, den demokratischen Staat und die Präsidial-Kabinette ablehnenden Abgeordneten eingenommen wurden. Die SPD konnte sich knapp behaupten (statt 153 jetzt 143 Mandate). Der Anteil der DNVP halbierte sich von 14 auf 7 %. Eine vernünftige Mehrheitsbildung im Reichstag war damit noch weniger möglich als im alten. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten verschlimmerten sich in den folgenden Monaten. Nach den Septemberwahlen begann der Abfluß des Auslandskapitals. Überzogene Spekulationen amerikanischer Banken führten zu einer Krise, die die ganze Welt in Mitleidenschaft zog. Das englische Pfund wurde um 30 % abgewertet; im Mai 1931 brach die österreichische Kreditanstalt zusammen, am 13. Juli 1931 stellte die DA-NAT-Bank ihre Zahlungen ein. Die Arbeitslosigkeit stieg bis 1932 auf 6 Millionen. Löhne und Gehälter wurden gekürzt, wobei die Senkung der Preise für landwirtschaftliche Produkte nicht Schritt hielt.

Hoffnungslosigkeit machte sich in der in eine Dauerarbeitslosigkeit hineinwachsenden Jugend bemerkbar. Für die außenpolitisch motivierte Deflationspolitik mußte ein innenpolitischer Preis gezahlt werden, d. h. Verzicht auf die sofortige energische Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Größere Mittel sollten erst zur Verfügung gestellt werden, wenn der Haushalt stabilisiert war, der Abbau der Reparation in Aussicht stand und der schlimmste Tiefpunkt der Rezession überwunden war.

Das Kabinett Hitler

Nach dem Sturz des Kabinetts Brüning am 30. Mai 1932 übernahmen kurz nacheinander Franz von Papen und Kurt von Schleicher die beiden folgenden Regierungen, nach wie vor gestützt von den präsidentiellen Vollmachten Hindenburgs nach Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung.

Innenpolitisch rückte das Verhältnis zum Nationalsozialismus immer stärker in den Vordergrund. Schon zur Zeit Brünings waren durch von Papen und Schleicher Versuche unternommen worden, den Nationalsozialismus für eine präsi-dentielle Regierung zu gewinnen, d. h. eine Tolerierung des Präsidialsystems zu erreichen und Hitler damit zu zügeln. Diese Rechnung ging jedoch nicht auf, weil Hitler die gesamte »Staatsgewalt in vollem Umfang« forderte, nachdem die Nationalsozialisten bei den Reichstagswahlen im Juli 1932 ihre Mandate mehr als verdoppeln konnten, von 107 auf 230. Die bürgerlichen Parteien erlitten schwere Einbußen, Zentrum und Bayerische Volkspartei gewannen im ganzen 10 Sitze hinzu; die gleiche Anzahl ging der SPD verloren (133 statt 143 Sitze). Die Kommunisten gewannen noch einmal 12 Sitze dazu. Die NSDAP und KPD mit gut 37 und 14 % der Stimmen bildeten somit im Reichstag eine negative, absolute Mehrheit. Mehrheitsbildungen waren im Reichstag im Rahmen der bisherigen Kombinationen unmöglich geworden.

In der Umgebung des Reichspräsidenten sah man jetzt nur noch zwei Möglichkeiten, die Regierung fortzusetzen: Die Fortführung der Regierung Schleicher (seit 2.12.1932) mit diktatorischen Vollmachten unter zeitweiliger Ausschaltung des Reichstages, um Hitler auf diese Weise von der Regierung fernzuhalten, oder den legalen Weg einer rechten Koalitionsregierung unter der Kanzlerschaft Hitlers. Hindenburg wurde jedoch aus seiner Umgebung klargemacht, daß die erste Möglichkeit einen Verfassungsbruch zur Folge gehabt hätte. Damit blieb nur der Weg, Hitler als Führer der stärksten Partei im Reichstag mit der Übernahme der Regierungsgeschäfte zu betrauen. Die neue Koalitionsregierung war keine nationalsozialistische, vielmehr ein Kabinett des »nationalen Zusammenschlusses«, das am 30. Januar 1933 vereidigt wurde. Die Nationalsozialisten waren sogar in der Minderheit. Frick erhielt das Innenministerium, Göring wurde Minister ohne Geschäftsbereich. Im März 1933 trat Göb-bels in die Regierung ein und erhielt das neugeschaffene »Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda«. Alle übrigen Minister gehörten den Rechtsparteien an. Sie alle hatten geglaubt, Hitler »zähmen« zu können. Papens Meinung war: »Wir haben ihn uns engagiert.«7 Diese Ansicht sollte sich als folgenschwerer Irrtum erweisen.

Fragt man, warum der Nationalsozialismus diese Anziehungskraft entwickeln konnte, dann ist auf mehrere Faktoren zu verweisen. Conze schreibt:

»Freilich war der Nationalsozialismus nur deswegen eine Volksbewegung von ungeheurer Gewalt, weil die Wirtschaftskrise bei diesen Massen Verzweiflung und Hoffnung zugleich erweckt sowie weit zurückliegende Ressentiments gegen »Demokratie« und »Parteienstaat« erneuert hatte. Diese waren vorher weithin im Abklingen gewesen und hätten in einem generationsbedingten Eingewöhnungsprozeß weiter abklingen können, sofern die von außen einbrechende Katastrophe hätte abgewendet und die in Konstruktion und Praxis reformbedürftige deutsche Demokratie eine überzeugende Entwicklung hätte nehmen können. Versagender Parlamentarismus, einbrechende Wirtschaftskatastrophe, Ansaugen der im Vertrauensvakuum nach Rettung begierigen Massen durch den Irrationalismus eines politischen Heil-bringers, soweit die Menschen nicht durch katholischen, evangelischen oder sozialistischen Glauben gegen diese Saugwirkung immun waren — das lag dem Kampf um die politische Entscheidung in Deutschland von 1930 -1933 zugrunde. Die stärkste der im Volk und damit auf die Politik wirkenden Strömungen setzte sich schließlich in jenem Kampf durch. Darin hatte gewiß eine Wahrscheinlichkeitslogik gelegen, aber doch nur für kurze Zeit. Im Maße, wie diese Krise stieg, schwoll die Anhängerschaft des Nationalsozialismus an. Im Juli 1932 war der Höhepunkt bereits erreicht gewesen. Das Abnehmen sowohl der Krise wie des Nationalsozialismus konnte für 1933 mit Sicherheit erwartet werden. Darauf hatte die politische Rechnung zuerst Brünings und dann, nachdem er sich selbst berichtigt hatte, Schleichers beruht. Daß beide Male solche Politik des Hindurchsteuerns, die bei Brüning noch verfassungsgemäß war, bei Schleicher aber bereits den Verfassungsbruch einschloß, durch Hindenburg verhindert und dadurch Hitler der Weg zur Macht ermöglicht wurde, bezeichnet das deutsche Verhängnis jener Jahre in letzter Zuspitzung.

Abschließend sei noch einmal betont, daß die Staats- und Verfassungskrise längst vor der Wirtschaftskrise als Folge der Entzündungen von 1918-1923 fortdauernd geschwelt hat, durch die Wirtschaftskrise aber erst zum Brand angefacht worden ist. Die Katastrophe von 1918 war noch weithin unbewältigt geblieben; gesellschaftliche und politische Demokratie waren nicht zum consensus omnium geworden; die Verfassung von 1919 bot deshalb die Möglichkeit zur »Überwindung des Parlamentarismus«, nachdem Mut und Fähigkeit der noch ungewohnten Politiker zur wirkungsvollen Handhabung der parlamentarischen Demokratie nicht ausgereicht hatten. Von ihren Anhängern nicht fest genug ergriffen, von ihren Gegnern bewußt ausgehöhlt, bot die Reichsverfassung keinen sicheren Halt in der Fährnis ansteigender Not und Angst; sie wurde vielmehr zum verachteten Zerrbild für alle Verbitterten, die bei Hitler das »ganz Andere« suchten, zur Farce für diejenigen, die 1932/33, formell im Einklang mit ihr, sie hinter sich ließen als sie den Kampf um die Macht so oder so zu gewinnen suchten«.8

  1. Karl Dietrich Erdmann, Die Zeit der Weltkriege. In: Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 4/1,9. Auflage, Stuttgart 1979, S. 307

  2. Zitiert nach Werner Conze, Die politischen Entscheidungen in Deutschland 1929-1933. In: Die Staats- und Wirtschaftskrise des Deutschen Reiches 1929/33. Stuttgart 1967, S. 207

  3. Conze, a. a. O., S. 209

  4. Zitiert nach Conze, a. a. 0., S. 189

  5. Karl Dietrich Bracher, Parlamentarische Demokratie und Notstand. In: Frankfurter Hefte 20,1965, S. 613

  6. Erdmann, a. a. O., S. 311

  7. Erdmann, a. a. O., Bd. 4/2, S. 371

  8. Conze, a. a. O., S. 249 f.