»Histörchen« aus dem Brohltal

Friedhelm Schnitker

Die »Streukooche«-Litanei

»Ei, wähste, dat wor. . .«, so begann mein Gewährsmann vor vielen, vielen Jahren seine Geschichte. Ebenso könnte man aber auch, auf eine der Hauptpersonen sprachlich Bezug nehmend, sagen: »Es war im Jahre des Herrn, anno domini . . .«. Doch lassen wir den alten Köbes als Zeugen, nicht als Mittäter, fortfahren. Es war später Herbst geworden und in dem kleinen Ort im Brohltal schickte man sich an, Kirmes zu feiern. Die Häuser waren frisch getüncht, die Straßen gekehrt, die Kuchen gebacken. Abendlicher Friede hatte sich über das Dorf gesenkt. Aus dem Hauptort des Kirchspiels hatten am Samstagabend Jupp, Pitte und Karl sich auf den Weg zum Kirmestanz in unserem kleinen Ort gemacht. Im Saal suchten sie die Nähe des Ofens, setzten sich und bestellten für sich drei Schoppen Wein und — »breng jet ze kritschele füe de Owe«, baten sie den Wirt. Tanzen wollten sie nicht, dafür hielten sie kritisch Heerschau unter den Schönen des Ortes. Man trank, man erzählte, der Rauch aus den irdenen Tabakspfeifen verhüllte diskret dieses oder jenes frisch verliebte Paar vor den neugierigen Blicken und den Lästermäulern unserer drei Junggesellen. Gegen den ersten Hahnenschrei, durch die rauhe Frische des Eifeler Morgen, suchten drei schwankende Gestalten ihren Weg zum schmucken Fachwerkhaus der unverheirateten Liss.

Es war schon Tradition, daß späte Zecher sich morgens in allen Ehren hier einfanden, bei Kaffee und »Streukooche«. Liss hatte bereits die große Emailkanne mit duftendem Kaffee auf den Herd gestellt und eine große Platte Streuselkuchen für die hungrigen Mäuler daneben. »Ech jonn mech nau Staats maache. Drenkt on eäst, ave loht dam Hehr nue jo singe Dähl.« Jupp, Pitte und Karl vertilgten heißhungrig den leckeren Streu, der zunehmend kleinerund kleiner wurde, besonders unter Jupps »Jong, bat kann ech heut maschinne (essen)!«. Niemand dachte mehr an die traditionelle Naturalverpflichtung, Kirmeskaffee und Streuselkuchen, nach dem Hochamt für den geistlichen Herrn.

Endlich war man satt, rief ein »Dank och« zur Stube von Liss hinauf und machte sich auf zur Kapelle, um dort auf der Orgelempore dem feierlichen Hochamt mit gebührender Andacht und noch größerer Müdigkeit zu folgen. Jupp hatte sein müdes Haupt auf die Emporenbrüstung gebettet, Ritte hing hingebungsvoll in der Bank, Karl lehnte sich gegen die mächtige Orgelspielerbank.

Nun hatte das feierliche Hochamt begonnen, Lesung und Evangelium waren vorgetragen, als der »Hehr«, wie es Tradition war und er es liebte, die Allerheiligenlitanei anstimmte. Er flehte die Heiligen um ihren Beistand und ihre Hilfe an, die Meßbesucher sangen voller Inbrunst ihr »Ora pro nobis«, als plötzlich der »Hehr« mit einem Blick voller heiligem Zorn zur Orgelempore und gewaltiger Stimme ein:»Do ove leien se, de Labesse on Streukoochefresse« anstimmte.

Und bevor die Gemeinde antworten konnte, ertönte wie aus geheimnisvoller Verbundenheit mit dem »Hehr« von der Frauenseite aus einer der letzten Bänke die helle und recht zornige Stimme von Liss: »Bittet für sie!«

Die »Labesse«, eingedenk ihres Sündenfalles, den Kirmeskaffee des »Hehrn« geschmälert zu haben, bereuten ihre Tat und ehe Pfarrer und Liss weiter gesangliche Taten folgen lassen konnten, ertönte Ritters zerknirschtes, leises, aber doch deutliches Reuebekenntnis: »Hehr, dat domme nih mih«, und aus der Gemeinde, nun eingeübt in Liss' neue liturgische Antwort, tönte es laut zurück: »Herr, bitte für sie!«

Hier ließ Köbes seine Geschichte ausklingen, nicht ohne zu erwähnen, daß Liss dem »Hehrn« mehr als Ersatz schuf mit ein paar zusätzlichen »decke Botteramme«. Seitdem aber heißt in unserem liebenswerten Ort die Allerheiligenlitanei, seit ihrer eigenwilligen liturgischen Erweiterung, die »Streukooche«-Litanei.

»Schloote Pittes« Verkündigung

Friedhelm Schnitker

»Dat sen de arm Sehle, dih fennen kähn Roh«, so flüsterte man sich vor vielen Jahren in einem kleinen Ort im Brohltal geheimnisvoll zu. Jeder wollte ihre Wehklagen gehört, ihre zerfließenden Gestalten gesehen haben. Schauplatz dieses unheimlichen Geschehens war der kleine Gottesacker mit den moosbewachsenen Grabsteinen im Schatten der kleinen, schiefergedeckten Dorfkapelle. Besonders freitags abends zu später Stunde schienen die armen Seelen in lauten Klagen um ihren Seelenfrieden zu ringen. »Am Freidaach es och ohse Hehr gestorve«, meinte Jupp, Eifeler Bauer im Hauptberuf und stolzer Tenor im Kirchenchor, wenn am Freitagabend die Proben stattfanden.

Nachdem man kräftig Gott zur Ehre gesungen hatte, blieb man noch in froher Runde zusammen, trank mitgebrachten »Appeldrank« und erzählte sich die alten Stöckelche. Erst nach und nach machte man sich auf den Heimweg. Billa und Kätt, lebensnahe Bäuerinnen ebenso wie tüchtige Sängerinnen, hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, ihren Heimweg ins Unterdorf durch den Gang über den Gottesacker abzukürzen. Sie hatten ihre eigene Meinung von den armen Seelen. »Domm Schöss (choses = Sachen)«, ereiferten sie sich, »Duhde hann kähn Schohn«. Hatten sie doch bei ihrem Heimweg jüngst einen Geist klagend weghinken sehen, der ihnen einen recht irdisch ausschauenden, mit Stallresten behafteten Sandalen hinterlassen hatte. Und auch der bleiche Knochen, den Jupp eines Probenabends als Verluststück armer Seelen präsentierte, wurde von Billa schnell entlarvt; »Ei, dän hann ech doch dih daach bei eurem Hasso jesehn.«

Nun waren die beiden tapferen Sängerinnen auf ihrem Heimweg, plaudernd und die eingeübten Melodien ab und an leise vor sich hin summend. Der Mond leuchtete ihnen dann und wann nur kurz den Weg aus, denn jagende, fahle Wolken verhüllten hastig seinen Schein. Unheimlich war es schon, war doch der alte Müllerpitt gestern gestorben und sein Grab war bereits ausgeworfen. Billa faßte Kätt an den Händen; Stöhnen und Keuchen drangen aus dem offenen Grab.

Ängstlich und scheu schauten sie mit halbabgewandtem Blick hinüber, als plötzlich im fahlen Mondlicht sich ein brandrotes Etwas aus der Grube hervorhebt; es hebt sich und stöhnt. Da ertönt plötzlich ein donnerndes Verkünden: »Fürchtet och net. Ech sein et doch, de Ritte!« aus der Tiefe des ausgehobenen Grabes.

Billa und Kätt hält nichts mehr. Wie vom Teufel gehetzt eilen sie fort. »Jesus, Mari on Jusep« halt es flehend durch die Nacht.

Seit diesem Tag zählen Billa und Kätt zu den treuesten Fürsprechern der armen Seelen. Nur der Pfarrherr wußte und hütete es nahezu sein ganzes Leben als großes Geheimnis, daß der rothaarige »Schloote Ritte« mit seiner Arbeit, die Grabstelle mit Tannengrün auszuschlagen, in die Nacht hineingeraten war. Hatte er doch am Tage wie so oft so sehr seine besonders geliebten Gartenkinder, die Schlooteköpp, gehegt und gepflegt.