Mahnende Erinnerung

Dr. Paul Krahforst

I

Am Abend des 9. November 1983 — genau 45 Jahre nach der Reichskristallnacht — wurde in der Ahrweiler Synagoge das verdienstvolle Buch des Superintendenten Hans Warnecke über die Geschichte dieses sakralen Bauwerks und der jüdischen Gemeinde in Ahrweiler vorgestellt. Aus diesem Anlaß folgte ein aufgeschlossener Kreis von Zuhörern den Ausführungen des Berliner Publizisten Leon Brand über das Judentum in Osteuropa. Neben der von hoher Sachkenntnis getragenen Information beeindruckte insbesondere die aufgelockerte und mit feinsinnigem Humor belebte Art der Darstellung. Sie verdeckte nahezu völlig, daß der jüdische Referent nicht nur persönlich in brutaler Weise der Verfolgung des Nazi-Regines ausgesetzt war, sondern auch alle Angehörigen seiner Familie im Vernichtungslager verloren hat. Dieser nachdenklich stimmende Abend in der mit Kerzen nur schwach beleuchteten, kalten Synagoge veranlaßte zur Aufzeichnung nachstehend wiedergegebener Erinnerungen.

II

Während es heute die Schüler des Ahrweiler Gymnasiums zur Bahnhofsgaststätte zieht, hatte sich in den ersten Jahren des zweiten Weltkrieges der Brauch entwickelt, daß die Fahrschüler nach Unterrichtsende die Zeit bis zur Abfahrt des nächsten, gelegentlich auch des übernächsten Zuges, in der damaligen Gaststätte »Zum Storch« (gegenüber der heutigen AOK) überbrückten. Mechtild, die Tochter des Hauses, hatte oft noch ein Glas Wein aus der Reserve für uns bereit. Als wir am späten Vormittag des 27. Juli 1942 (das Datum entnehme ich spärlichen Unterlagen im Ahrweiler Stadtarchiv) als damals 16 und 17 Jahre alte Schüler an unserem »Stammtisch« saßen, machte einer von uns auf die seltsamen Leute aufmerksam, die draußen auf der Wilhelmstraße in Richtung Bahnhof gingen. Es waren meist ältere Menschen in dunkler Kleidung. Sie wirkten bedrückt, hielten den Kopf gesenkt und gingen langsam. In der Hand hielten sie Schachteln, Netze und Taschen. Es mögen etwa 15 Personen gewesen sein, offenbar zusammengehörende Männer und Frauen, die untereinander in Abständen von mehreren Metern folgten. Jemand in der Gaststätte äußerte, das seien die Juden aus Ahrweiler, die wohl nach Frankreich zum Ernteeinsatz müßten. Das Bild wurde von uns Schülern so bedrük-kend empfunden, daß bis zur Abfahrt des Zuges keine rechte Stimmung mehr aufkommen wollte. Zwar kam uns damals nicht der Gedanke, man werde diese Menschen umbringen. Andererseits waren uns die Bilder aus der überall öffentlich ausgehängten Hetzzeitschrift »Der Stürmer« bekannt, die keine gute Behandlung von Juden in jener Zeit erwarten ließen.

III

Einige Zeit nach Rückkehr aus russischer Gefangenschaft kam ich in Remagen mit meinem alten Friseur Josef Schäfer über die Judenverfolgung durch die Nazis ins Gespräch. Er berichtete mir, die Juden aus Remagen und dem übrigen Kreisgebiet seien zunächst zentral in ein Lager nach Brohl gebracht worden. Man habe die Remagener Juden mit einem Lkw dorthin transportiert. Der unter Zwang herangezogene Fahrer habe den ihm gut bekannten Juden beruhigend Trost zugesprochen. Er, Josef Schäfer, habe sich unter Anwendung einer List zweimal Zutritt zu dem Lager in Brohl verschafft. Dem in der Remagener Handballmannschaft äußerst beliebten Mitspieler Max Marx habe er das in der Eile des Aufbruchs vergessene Rasierzeug nachgreicht. Dem Max Marx und anderen Juden habe er weiterhin Lebensmittel nach Brohl gebracht. Trotz vielfacher Befürchtungen habe er nicht geahnt, daß die Fahrt in ein Todeslager (über Theresienstadt) unmittelbar bevorgestanden habe.

IV

Von Herbst 1962 bis Frühjahr 1963 war ich sechs Monate als Richter im Schwurgericht des Landgerichts Bonn tätig. In dieser Schwurgerichtsperiode, in der sich das Schwurgericht nach altem Verfahrensrecht noch aus drei Berufsrichtern und sechs Geschworenen zusammensetzte, wurde zunächst über die Dauer von einem Monat ein sogenannter »Einsatzgrup-penprozess« verhandelt. Dem Angeklagten wurde zur Last gelegt, als Leiter eines Einsatzkommandos, das in Rußland den vormarschierenden Fronttruppen folgte, in Städten und Dörfern wohnende Juden eingesammelt und anschließend in ausgehobenen Gräben erschossen zu haben. Sodann folgte vor dem Schwurgericht der »Kulmhofprozeß«, der fünf Monate mit drei Verhandlungstagen in der Woche dauerte. Gegenstand dieses Verfahrens gegen die elf Angeklagten war der Vorwurf der Beihilfe zum Massenmord an Juden. Es handelte sich um diejenigen Juden, die über das Ghetto Lodz dem davon etwa 55 Kilometer entfernten Vernichtungslager Kulmhof (=Chelmno) zum Zwecke der Tötung im »Gaswagen« zugeführt worden waren. Das Schwurgericht gelangte im Urteil vom 30. März 1963 — 8 Ks 3/62 — zu der sicheren Feststellung, daß in diesem Lager von Dezember 1941 bis August 1944 152000 Menschen getötet worden sind. Den Opfern wurde vorgetäuscht, sie sollten zum Arbeitseinsatz ins Reich kommen. Wegen angeblich durchzuführender Entlausung mußten sie in dem alten Schloßgebäude des Lagerbereichs die Kleider ablegen. Anschließend wurden sie von Peitschenhieben der SS-Leute nackt durch den Kellergang des Schlosses über eine Rampe in den davor stehenden Gaswagen getrieben. Der Gaswagenfahrer — einer der Angeklagten — befestigte den ins Wageninnere mündenden Schlauch am Auspuffrohr und ließ den Motor etwa 10 bis 15 Minuten laufen. Wenn er im Inneren des 2 Meter breiten und 4 Meter langen Wagens mit luftdicht verschlossenem Kastenaufbau kein Klopfen, Schreien oder Stöhnen der dicht eingepferchten Menschen mehr hörte, fuhr er die Leichen ins nahe Waldlager. Dort wurden sie von vorläufig aussortierten jüdischen Arbeitskommandos, die eiserne Fußketten tragen mußten, in der ersten Zeit vergraben, später in einem eigens konstruierten großen Ofen verbrannt.

Die während des Prozesses durchgeführte Beweisaufnahme über die entsetzliche Thematik vom Leiden und Tod der Opfer mit der Fülle von abscheulichen Details stellte höchste Anforderungen an Nervenkraft, seelische Belastbarkeit und Gesundheit der Prozeßbeteiligten. Ein Verteidiger zog sich eine Gelbsucht zu, Richter litten an Schlafstörungen. Da waren — nur um einiges zu nennen — die Ausgrabungen der zunächst im Waldlager provisorisch unter der Erde gebrachten Leichen. Letztere wurden von den etwa 50 bis 60 Mann starken jüdischen Arbeitskommandos in Loren zum Verbrennungsofen gebracht, weil der weit ins Land ziehende Verwesungsgeruch Unruhe in die polnische Bevölkerung gebracht hatte. Da waren die grausamen Scherze des Lagerleiters. Von den nur drei Überlebenden, die als Zeugen in den USA und in Israel ausfindig gemacht werden konnten, wurden viele Arten von Quälereien geschildert, die weitgehend von den Angeklagten bestätigt wurden. Als Beispiel sei der in seiner Lagerzeit 15jährige »Spinnefix« angeführt, der vom Lagerleiter wegen seiner flinken Beweglichkeit mit diesem Namen versehen und deshalb von der sofortigen Tötung verschont wurde. Dieser überlebende Zeuge aus Israel berichtete u. a., er sei zur Belustigung der SS-Leute in einen Käfig gesperrt worden, in dem sich ausgehungerte Füchse befanden. Er konnte sein Leben retten, weil er nach heftigen Kämpfen die Füchse zum Ergötzen der Zuschauer besiegte. Bei anderer Gelegenheit mußte er sich auf den Boden legen. Der Lagerleiter setzte ihm die Pistole in den Nacken und fragte: »Hast Du Angst?« Er antwortete: »Nein, Hauptsturmführer.« Dieser nahm daraufhin die Pistole mit der Bemerkung weg, bei einer anderen Antwort hätte er abgedrückt.

Im Verlaufe der Beweisaufnahme berichtete ein Zeuge von einem Transport, mit dem Juden aus dem Rheinland gekommen waren. Das löste bei mir sofort die Assoziation zu den Juden auf dem Weg zum Ahrweiler Bahnhof und zu dem Lager in Brohl aus. Meine Fragen nach dem näheren Herkunftsbereich dieser jüdischen Gruppe aus dem Rheinland vermochte der Zeuge trotz ersichtlichen Bemühens nicht zu beantworten. Jedenfalls war es für mich nicht zweifelhaft, daß die deportierten unschuldigen jüdischen Mitbürger aus Ahrweiler und dem übrigen Kreisgebiet, wenn nicht im Lager Kulmhof, dann in einem anderen Vernichtungslager in ähnlich unmenschlich-grausamer Weise erbarmungslos getötet worden sind.

Wenn ich mir diese traurigen Geschehnisse vor Augen führe, finde ich es bewundernswert, daß ein Mann wie Leon Brand trotz all seiner ihm zugefügten Leiden an einem Jahrestag der Reichskristallnacht in der Ahrweiler Synagoge ohne Verbitterung vor deutschen Zuhörern sprechen kann. Besonders hat mich berührt, daß dieser jüdische Publizist sich weiterhin zu seinem Deutschtum bekennt und hoffnungsvoll an eine bessere Zukunft glaubt, die von der jungen deutschen Generation gestaltet wird.

Vielleicht lassen sich durch die Haltung eines solchen Mannes Leser anregen, über einzelne Erlebnisse aus der Zeit der Judenverfolgung während des »Dritten Reiches« in diesem Heimatjahrbuch oder an anderer Stelle, etwa in Schulen oder in einer Tageszeitung, zu berichten. Die junge Generation sollte nicht nur aus dem Geschichtsbuch, sondern auch aus Übermittlung im nahen persönlichen Bereich darüber informiert sein, welch schreckliche Untaten bei der Fanatisierung gefährlicher Ideologien produziert werden. Durch derartige Wiedergaben von Erinnerungen könnte im positiven Sinne dazu beigetragen werden, daß unsere von diesen Vorgängen unbelastete Jugend die Gefahren des Rassenwahns, der blinden Befehlsergebenheit und der Intoleranz gegenüber Minderheiten frühzeitig erkennt und schon die Ansätze eines Abgleitens in derartige Entwicklungen vermeidet.