Warum die Ziege keine Hörner mehr hat

»Tage des offenen Bauernhofs«: Landwirtschaft zum Be-greifen 

Wolfgang Pechtold

Butterberg. Milchquoten. Härteregelung. Grenzausgleich. Subventionen. Brüssel und Bonn lieferten das ganze Jahr 1984 über freigebig die Stich- und Reizworte für Schlagzeilen und Kommentare, Protestaktionen und Thekengespräche. Da kam der Termin für den »Tag des offenen Bauernhofs« gerade recht. Die Agrarpolitik lieferte dem lange zuvor gewählten Thema Aktualität, ja Brisanz: Am 2. September 1984 ging es in der kleinen Ermländer-Siedlung Lederbach vor allem um Viehhaltung und Milchwirtschaft. Und um mögliche Alternativen.

Ein Stück Dampfzeitalter beim Tag des offenen Bauernhofs: Ein Esterer-Lokomobil trieb die Esterer-Dreschmaschine an

Freilich war dieser Sonntag der offenen Türen auf den Anwesen Lorenz Krause und Bernd Kuhnigk nicht die erste Begegnung dieser Art zwischen Stadt und Land im Kreise Ahrweiler. Landwirtschaft begreiflich machen — wie geht das? Diese Frage hatte sich die Landes-Lehr- und Versuchsanstalt Ahrweiler schon früher gestellt und eine einfache Antwort gefunden: Landwirtschaft wird begreiflich, wenn sie sich wirklich und wahrhaftig »be-greifen« läßt. Heraus kam als Teil und sicher auch Höhepunkt einer vielseitigen Veranstaltungsreihe zur 80. Wiederkehr des LLVA-Gründungstages jener erste »Tag des offenen Bauernhofs« in Grafschaft-Birresdorf und Remagen-Oedingen, der im September 1982 zum überragenden Erfolg wurde. Gut und gern 10000 Besucher hatten bei ihrem Sonntagsusflug zu den Betrieben Ignaz Schneider, Paul Münch und Klemens Weber ihr großes (Lern-)Erlebnis.

Schirmherr war der rheinland-pfälzische Landwirtschaftsminister Otto Meyer, der das 10 000 Mark teure und dennoch von viel ehrenamtlicher Arbeit getragene Unternehmen selbst voll Interesse aus nächster Nähe studierte. Ein Anliegen der Veranstaltung stellte er in seiner Festansprache besonders heraus: Der Landwirt erzeuge nicht nur hochwertige und dennoch preiswerte Lebensmittel, sondern sei auch Landschaftspfleger und trage immer stärker dem Umweltschutz Rechnung. Dr. Gerhard Stumm, Leiter der Landeslehranstalt, wertete den Besuch hochrangiger Vertreter von Politik und Berufsstand als Zeichen der Verbundenheit mit der Landwirtschaft. Redner aus dem Lager der Politik bekannten sich zum Fortbestand des bäuerlichen Familienbetriebs; berufsständische Sprecher wie Hans Boes, Vorsitzender des Kreisbauernverbands, äußerten Sorge um viele landwirtschaftliche Existenzen. Strahlendes Spätsommerwetter begünstigte das Konzept möglichst umfassender Sachinformation: Jeder Winkel in Haus und Hof war für Ausstellungen genutzt. Acker- und Obstbau der Grafschaft präsentierten hervorragende Erzeugnisse und vermittelten Wissen über Produktion und Produkt. Besondere Aufmerksamkeit bei alt und jung fanden die vielen Tiere, vom Kälbchen bis zum 18-Zentner-Bullen, vom eben geworfenen Ferkel bis zum mächtigen Zuchteber, vom Kaninchen bis zum Schaf. In Sonderschauen wurde der weitere Weg der Naturprodukte anschaulich dargestellt. So zeigten die Ländfrauen den Weg von der Wolle zum fertigen Kleidungsstück oder die Bäcker die .Verwandlung von Mehl in Brot auf. Eindrucksvoll war auch der Maschinenpark mit viel hochmodernem Ackergerät, aber auch einer Oldtimer-Schau, deren Glanzstück das Dampf-Lokomobil war, Dreschmaschinen-Antrieb aus den dreißiger Jahren. Viel beachtet wurde der Miniatur-Acker, in dem sich — sorgfältig arrangiert — Schädlinge und Nützlinge der Feldgewächse »tummelten«.

Tierquälerei ausgeschlossen: Der Melkwettbewerb der Landjugend wurde an der Holzkuh mit Gummieuter ausgetragen

Abenteuerliche Begegnung — und wer staunt nun mehr. . . ?

Einmal den Stier bei den Hörnern packen! Bei kleinen Besuchern genügt zum Hochgefühl auch ein kleiner Bulle

»Die Aktion war eine Demonstration der Einheit und eine Demonstration für die Landwirtschaft«, zog Dr. Gerhard Stumm nach dem ersten gelungenen »Tag des offenen Bauernhofs« Bilanz und kündigte an: »Es wird eine Wiederholung geben.«

Die Lehranstalt und ihr Leiter hielten Wort. Und wie schon beim ersten gelungenen Versuch, so fanden sie auch bei der Neuauflage in Lederbach viele Mitstreiter: Die Schule und ihre Ehemaligen, der Bauernverband und die Landfrauen, die Obstbauern und die Imker, die Kreis-Züchtervereinigung und das Tierzuchtamt, Schäfer und Ziegenhalter, Kaninchenfreunde, Ponybesitzer, Maschinenring und Oldtimer-Sammler, Landjugend und Forstverwaltung, nicht zuletzt aber auch diesmal die Hofinhaber — alle leisteten ihre Beiträge.

Daß die Europäische Gemeinschaft ihrer Milch-seen und Butterberge überdrüssig ist und bei sinkendem Konsum von Milch und Milchprodukten die erzeugten Mengen dirigistisch zu beschränken sucht, war das zentrale Thema des 2. September 1984. Die »Quotenregelung«, oft zitiertes Schlagwort, nahm in Zahlen Gestalt an: Die beiden Betriebe müssen Produktionsabschläge von 9, ja 12,5 Prozent verkraften. Daß unter solchen Umständen für Alternativen größeres Interesse besteht, liegt auf der Hand. Einige wurden in Lederbach zumindest zur Diskussion gestellt: Muttertierhaltung mit dem Ziel, Fleisch zu erzeugen, war — mit einigen Limousin-Rindern — ebenso angesprochen wie die Schaf- oder Ziegenhaltung. Allerdings war auch nicht zu übersehen, daß nicht wenige Betriebsinhaber im Vertrauen auf die EG-Förderpolitik gerade erst vergangener Tage erheblich in die Milchwirtschaft investierten. Viele Betriebe haben die Viehbestände kontinuierlich aufgestockt, viele haben neue Boxenlauf- oder Anbindeställe, Melkstände und Futterautomaten, Milchabsaug- und Milchkühlanlagen beschafft, die nun finanziert sein wollen — trotz Abschlagsquoten! Für die Landtags- und Bundestagsabgeordneten und für die Träger kommunaler Ämter und Mandate gab es Gesprächsstoff in Hülle und Fülle. Landrat Dr. Egon Plümer, Ganztagsgast in Lederbach, sah sich in der Geräteschau des Maschinenrings bespielsweise mit den Problemen der Betriebshilfe konfrontiert.

Gerade der Muttermilch entwachsen, probiert der kleine Mann gern den Ersatz frisch von der Kuh 
Fotos: Vollrath

Von großem Erlebnis- und Informationswert war das Programm, das eine festliche Messe eröffnete, aber auch für ganz und gar »unpolitische« Besucher. Die Vielfalt des Gebotenen war faszinierend, und weil auch diesmal das Wetter ausgezeichnet und für das leibliche Wohl gut gesorgt war, blieben die Besucher, auch diesmal viele Tausende, durchweg lang in Lederbach. Man konnte Kuhmilch trinken und Ziegenmilch testen, Honigmet nippen und Holunderwein schlürfen, Ponys reiten und Planwagen fahren, Oldtimer bestaunen und eine Holzkuh mit Gummieuter melken, beim Quiz gewinnen oder bei der Lotterie verlieren, beim Brotbacken zuschauen oder Kaninchen streicheln. Man konnte staunen, hören, lesen, fragen. Und man bekam Antwort: Warum die Ziegen keine Hörner mehr haben. Ob geschorene Schafe nicht frieren. Warum Holunderwein soviel Alkohol hat. Wieso es in Lederbach kaum Ackerbau gibt. Wie eine Rundballen-Heupresse funktioniert. Warum manche Landfrau ihr Mehl selbst mahlt. Und leider auch: warum unser Wald stirbt.