Heimatbrauchtum im Kempenicher Ländchen

Manfred Becker

In früherer Zeit, noch bis nach dem 2. Weltkrieg, wurde Heimatbrauchtum als eine Unterbrechung harter Arbeitstage hoch in Ehren gehalten. Fernsehen gab es noch nicht und die Menschen, besonders auf dem Dorf, waren noch geselliger als dies heute der Fall ist. In meinen Kinder- und Jugendjahren machten die zahlreichen Kirchenfeste mit ihrem altüberlieferten Brauchtum einen großen Eindruck auf mich.

Martinstag

Nach dem Feste Allerheiligen, wenn dunkle Nebelschwaden durch das Tal Kempenich zogen, wurden die Kinder und Jugendlichen plötzlich sehr emsig. Mit hölzernen Wägelchen fuhren wir in die umliegenden Wälder und sammelten Reisig und Holz. In langen Kolonnen zogen wir die vollbeladenen Wägelchen den Leyberg hoch und schichteten dort Reisig und Holz zu einem hohen Brandstoß auf. Am Vortage des Martinsfestes fuhren wir dann singend durchs Dorf und baten von Haus zu Haus um Papier und sonstigen brennbaren Abfall. Weithin erklang der montone Gesang: »Mir john steuere, für die Mertesfeuere, jet os en ale Hot, en neue ös och at jot.« Am Abend versammelten wir uns auf dem Schulhof. Jeder hatte eine selbstgebastelte Fackel dabei, die schönsten Fackeln wurden mit einem Preis bedacht. Da sah man die öffentlichen Gebäude des Dorfes kunstvoll dargestellt und die Augen der Fackelträger leuchteten in den dämmerigen Abend. Manche Kinder hatten auch eine Knolle ausgehöhlt und meisterhaft ein Gesicht geschnitzt. Sankt Martin ritt in historischem Gewand auf seinem Roß dem Fackelzug voran durch das Dorf zum Leyberg. Dort loderte derweil das Martinsfeuer und weithin schallte der Kindergesang: »Sankt Martin, Sankt Martin, Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind, sein Roß das trug ihn fort geschwind.«

Anschließend gab es im Schulsaal den Martinsweck, und wie gut schmeckte uns diese gebackene Köstlichkeit. In den Häusern wurde der »Döppekoche« in den Backofen geschoben und überall duftete es nach dem Festessen.

Nikolaus und Weihnachten

Langsam ging der triste November zu Ende und weihnachtliche Stimmung erfüllte unsere Herzen. Abend für Abend wurden Rosenkränze gebetet, um Nikolaus und Knecht Ruprecht gütig zu stimmen. Abends wurden die Schuhe auf die Fensterbank oder vor die Tür gestellt, morgens fand sich dann in den Schuhen ein kleines Geschenk, eine Hand voll selbstgebackener Plätzchen oder ein Apfel. Dann war es soweit, der Nikolausabend dämmerte herauf, der 5. Dezember. In banger Erwartung hockten wir Kinder in den Wohnstuben beisammen. Wir beteten und sangen: »Nikolaus komm in unser Haus, pack die große Tasche aus, stell dein Eselchen unter den Tisch, daß es Heu und Hafer frißt«. Dann klingelte es plötzlich vor der Tür und die Eltern wurden unruhig, sie gingen hinaus um den heiligen Mann, wie sie sagten, zu empfangen. Würdevoll schritt Sankt Nikolaus in die gute Stube. Beeindruckend war sein Bischofsgewand und sein langer weißer Bart. Hinter ihm jedoch kam sein finsterer Geselle, ganz in Schwarz, der »Hans Muff«. Aus dem Sack des Gesellen baumelten ein paar Kinderbeine, und wer nicht artig war, dem drohte der Nikolaus, ihn ebenfalls in den Sack zu stecken. Hans Muff schwang die mitgebrachte Haselnußrute und schlug sie ein ums andere Mal auf unsere Kinderrücken. Vom Nikolaus gab es für jedes Kind einen Teller voller Äpfel, Birnen, Hasel-und Baumnüsse, Gebäck und Karamellen. Schon eine Woche nach Nikolaustag ging es dann in den Wald zur Christbaumsuche. Von allen Seiten wurden die auserwählten Bäume betrachtet, bevor sie abgesägt und nach Hause getragen wurden. Frisches Moos wurde für die Weihnachtskrippe gesammelt und seltene Quarzsteine sowie immergrünes Efeu; denn jeder Junge war bestrebt die schönste Krippe herzustellen. Oft wuchsen wir beim Bau der Krippen über uns selbst hinaus, es waren wahre Landschaftsgestalter am Werk. Am Weihnachtsmorgen, wenn die Glocken feierlich zur Christmette läuteten, ging es schnell aus dem Bett und hinunter in die Stube. Unsere Herzen schlugen höher beim Öffnen der Tür, denn vor uns stand strahlend der Christbaum. Über Nacht hatte das Christkind dann auch die herrlichen Krippenfiguren ins Moos gestellt, da war in der Mitte des strohgedeckten Stalles das Jesuskind, rechts stand Maria und links der heilige Josef. Ochs und Esel schauten uns aus treuen Augen an, und vor dem Stall knieten die Hirten umringt von zahlreichen Schafen. In der Kirche war es an Weihnachten besonders feierlich, und die Festpredigt des Herrn Pastor ging so richtig unter die Haut. Am Tag ging es dann raus zum Schlittschuhlaufen oder zu einer zünftigen Schlittenfahrt. Kein Auto störte uns beim Wintersport und die Fahrten gingen von den Höhen ums Dorf bis hin zur Dorfmitte. Der Gendarm tauchte zwar hin und wieder auf, aber wir waren schließlich schneller als er, und so ging es dann später in der Schule mit einer Rüge vorbei. 

Sylvester

Abends hielt der Pastor in der Kirche seinen Rückblick auf die Geschehnisse im vergangenen Kirchenjahr. Da wurden so manchem Sünder durch die Blume die Leviten gelesen und dennoch war alles sehr feierlich. Die Männer gingen nach der Kirchenfeier ins Gasthaus, um frisch gebackene Neujahrskränze auszuspielen. Da wurde mancher zünftige Skat gedroschen, und manches Contra und Re schallte durch die engen Gassen des Dorfes. Zu Hause wurde mit Verwandten und Bekannten nach Herzenslust gefeiert. Wenn die Kirchturmuhr die zwölfte Stunde schlug, wurde im Dorf das neue Jahr angeschossen und überall ertönte der Ruf: »Prost Neujahr«. Am 6. Januar, dem Dreikönigstag, wurde die Krippe um die heiligen Dreikönige mit ihrem Kamel bereichert, mit Kaspar, Melchior und Balthasar. Richtig exotisch wirkte jetzt die Krippe. 

Fastnacht

Am Schwerdonnerstag zogen die fidelen Möh-nen, in ihren alten Gewändern, durch das Dorf. Ausgelassen wurde gefeiert, die Männer hatten einmal im Jahr nichts zu sagen. Erst abends zum Tanzen erhielten die Männer Einlaß im Saal.

Am Rosenmontag feierte dann die gesamte Dorfbevölkerung. Schon früh hatte sich im Gasthaus das Fastelowensgericht zusammen gesetzt, um über die Bevölkerung närrisch Gericht zu halten. Die Stadtsoldaten, damals noch in Feuerwehruniformen, verhafteten Lehrer und Dorfbewohner. Mancher mußte sich dann vom Gericht seine Sünden vorhalten lassen und eine kleine Strafe bezahlen. Die ärmeren Männer mußten zur Strafe einige Schnäpse trinken, und mancher verlor im Verlaufe der Stunden sein Gleichgewicht, da er den Schnaps nicht gewohnt war. Am Nachmittag zog dann vom Sägewerk aus der Fastnachtszug durchs Dorf, die meisten Karnevalswagen noch von Pferden gezogen. Auf dem vorletzten Wagen stand der Elferrat, auf dem letzten Wagen der Prinz. Viel wurde nicht an »Kamelle und Apfelsinen« geworfen, denn das Geld war noch sehr rar. Dennoch herrschte eine frohe Stimmung im Dorf und alle Menschen auf den Straßen tanzten und waren glücklich. In den Häusern wurden die schmackhaften »Nauzen« gebacken. Fastenzeit

Am Aschermittwoch zogen wir wie kleine Büßer zur Kirche und erhielten dort das Aschenkreuz. Ängstlich hörten wir die Worte des Priesters: »Staub bist du und zu Staub sollst du wieder werden.« In der Fastenzeit wurde dann auf den Genuß von Süßigkeiten verzichtet, als Buße für unsere Kindersünden.

Palmsonntag wurden im Garten die frisch duftenden Zweige des Buchsbaumes, als Palmstrauß, geschnitten, der in der Kirche gesegnet wurde. Das Evangelium erzählte von dem Einzug Jesus in Jerusalem. Gebannt lauschten wir der Passion, der Leidensgeschichte unseres Herrn.

Gründonnerstag läuteten dann die Kirchenglocken zum letztenmal vor dem hochheiligen Osterfest. Die Eltern erzählten uns Kindern, die Glocken seien nach Rom geflogen. Wir holten unsere Klappern raus und brachten zu den jeweiligen Zeiten einen seltsam klingenden Glockenersatz.

Das Mittagessen an Gründonnerstag bestand aus Kartoffeln, Spinat und Spiegeleier. Fleisch kam bis Karsamstag nicht auf den Tisch, so sah es die strenge Fastenregel vor. Am Nachmittag des Karfreitag setzte sich dann von der Kirche aus eine große Prozession in Bewegung. Die Wallfahrt ging zum Kreuzwäldchen, zum dortigen Kreuzweg. Ostern

Das Osterfest begann um 6 Uhr morgens. Dreimal ging der Pastor mit den Gläubigen um die Kirche, jedesmal schlug er mit dem Kreuz an das Kirchenportal. Mit diesem Brauch sollte der verräterische Judas vertrieben werden. Anschließend wurde das Osterfeuer vor der Kirche entzündet und das Weihwasser geweiht. Bei der Wandlung begannen dann besonders feierlich die Osterglocken zu läuten und unsere Herzen schlugen schneller ob der Osterfreude. Nach der Ostermesse ging es in den Garten oder in den Wald zum Ostereiersuchen. Manches Nest, kunstvoll hergestellt aus Moos und Heu, wurde aufgespürt. Dann ging es zum »Eierditschen« in die Leywiese. Wer das stärkste Ei hatte, der wurde unter großem Gejohle zum Sieger erklärt. Öfters wurde dabei auch mit einem gefärbten Gipsei schlimm gemogelt. Am Ostermontag ging es zum Osterspaziergang, bei schönem Wetter meistens nach Maria Laach. Dort war es besonders feierlich, und die Ruhe im Bereich der Abtei und der romanischen Basilika war wohltuend und erholsam. 1. Mai

Die Burschen des Dorfes zogen am Vorabend in den Wald, um den Maibaum zu schlagen. Ein Pferdegespann brachte den Maibaum dann buntgeschmückt ins Dorf. Hier wurde er am Abend an einem zentralen Platz aufgestellt. An einem Kranz aus Fichtenzweigen wurden Würste aufgehangen. Die Jungens mußten hoch klettern, um die Würste zu holen, die sie dann selbstverständlich verzehren durften. Sobald die Dunkelheit über das Dorf hereingebrochen war, ging ein emsiges Treiben durch die finsteren Gassen. Ackergeräte, Gartentore, Blumentöpfe und die Türen der Herzhäuschen wurden abgeschleppt und wurden auf dem alten Marktplatz unter der Kirche aufgestellt. Oftmals gab es mit den Besitzern der Gegenstände bösen Ärger. Wo zwei Liebende wohnten, wurde der Verbindungsweg mit Kalk bestreut, um so auf die heimliche Liebe aufmerksam zu machen. Genau um Mitternacht spielte dann die Blaskapelle: »Der Mai ist gekommen«.

Kirmes

Am ersten Maiwochenende war Kirmes in Kempenich, damals noch in der Ortsmitte. Schon Tage vorher kamen die Kirmesleute mit ihren Wohnwagen ins Dorf. Weil die Kempeni-cher Kirmes eine der Ersten im Jahr ist, wurden die Kirmesgeräte gestrichen. Wenn am Kirmessonntag nach dem Hochamt die Kirmesorgel zu spielen begann, ging es vor das Haus auf den Festplatz. Dort standen Schiffschaukel und Karussell, Schießbuden und sonstige Buden mit Spielzeug und Süßigkeiten. Bescheiden war das Kirmesgeld, und man mußte schon ganz schön haushalten. Alter Brauch war in Kempenich das begraben der Kirmes am Kirmesdienstag. Ein Zicklein wurde geschlachtet und ausgestopft. In schwarzen Gewändern zog der Trauerzug durchs Dorf, das Zicklein wurde vom Zugführer getragen. Unter schauerlichen Gesängen zog man von Gastwirtschaft zu Gastwirtschaft. Vor dem Dorf wurde dann das Zicklein als Symbol der Kirmes begraben. Anschließend wurden die Geldbörsen im Goldbach gewaschen, da sie meist zu diesem Zeitpunkt leer waren. Auch dieses Brauchtum gehört der Vergangenheit an.

Pfingsten

Als die Landwirte noch Pferde besaßen, wurde an Pfingsten ein Pfingstritt rund durch die Gemarkung gestartet. Die Felder wurden in Augenschein genommen und der Getreidestand geprüft. Pfingsten war auch das Fest der ausgedehnten Spaziergänge. Wie auch heute noch üblich, ging man an Pfingsten zur Engelner Kirmes. Dort treffen sich dann die Bewohner der Nachbardörfer zum fröhlichen Beisammensein und Gedankenaustausch. 

Fronleichnam

Das wohl eindrucksvollste Fest meiner Kindheit war Fronleichnam. Schon Tage vorher wurden Blüten gerupft und Maienäste im Wald geschnitten. Vier Altäre mit Blumen bestreut. An jedem Haus, wo die Fronleichnamsprozession vorbei ging, wurden Maienreiser aufgestellt und bunte Fähnlein aufgehangen. Am Eingang eines jeden Hofes wurden kleinere Altäre errichtet. Mit Blumenschmuck wurde sich gegenseitig übertroffen, und die Heiligenstatuen kamen einmal im Jahr an die frische Luft. Während der Prozession wurden die Kirchenglocken gedängelt und Böllerschüsse hallten über das Dorf. Heute dagegen wird Fronleichnam sehr nüchtern gefeiert. 

Sommer

Dann kam der Sommer, die Zeit der großen Vereinsfeste. Gesang- und Feuerwehrfeste, Schützen-, Junggesellen- und Sportfeste bestimmten die Wochenenden im Sommer. Festliche Umzüge übten einen besonderen Reiz auf die Jugend aus.

Geprägt sind die Bilder meiner Kindheit von der Beerensuche im Sommer. Zuerst ging es auf die Heide, um die Heidelbeeren zu suchen, die dann meist verkauft wurden. Eine gar mühselige Arbeit war es, die kleinen Beeren Stück für Stück zu pflücken. Stolz zog man abends mit hoch gefülltem Korb ins Dorf ein. Als Lohn der Arbeit gab es dann den schmackhaften und köstlichen Heidelbeerkuchen. Kaum waren die Wald- oder Heidelbeeren geerntet, lockten uns schon die süßen roten Himbeeren in den Wald. Jetzt wurden auch die goldgelben Pfifferlinge gesucht und manch königliches Pilzessen veranstaltet. Mitte August waren dann die Brombeeren reif, deren Saft eine enorme Heilwirkung hat.

An Maria Himmelfahrt, dem 15. August, wurden dann die Ähren auf dem Felde gesammelt und zusammen mit den bunten Feldblumen zu einem Strauß gebunden. Die in der Kirche gesegneten Blumen und Ähren wurden dann an der Stalltür und im Wohnhaus, im Herrgottswinkel, aufgehangen, um Unheil von Haus und Stall fernzuhalten. 

Herbst

Um den 29. September, also um Michaelistag, wurde dann das Erntedankfest gefeiert. Der Tanzsaal wurde mit den Früchten der Natur festlich geschmückt.

Langsam ging das Jahr zu Ende, 1. November, Allerheiligen. Vor dem Fest wurden und werden die Gräber der verstorbenen Angehörigen feierlich geschmückt. Trostlos ist meist das Novemberwetter und der lange Eifelwinter steht vor der Tür.