»Ohse Lehre« und »Madame Sieg Heil«

Episoden aus der Dorfschule im Kriegsjahr 1944

Friedhelm Schnitker

»Börre-Schack« und die musikalische Verführung deutsch-germanischer Schulkinder

Es war in den schlimmen Tagen der Kriegswirren um 1944. Die Auswirkungen der blutigen Schlachten reichten bis in unseren Ort, dessen dörfliche Gemeinschaft den Tod dieses oder jenes vertrauten Menschen beklagt hatte. Wir, die Schuljugend unseres Dorfes, trauerte spontan und betroffen mit, aber der ungestüme Tatendrang unserer Jugend riß uns oft vehe ment wieder mit sich. Für die Erwachsenen aber galt scheinbar eher, daß die allgewaltige Kraft von Mutter Zeit langsam und behutsam, aber stetig die Schmerzen derTrauer zu mindern und in liebevolle Erinnerung zu mildern vermag.

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Pitt, Will, Hans und wie wir alle hießen, wir hatten in jenen Tagen einen Freund aus einem nahen und doch so fernen Land. Es war ein französischer Kriegsgefangener, »ohse Rene«, der dem einzigen Lebensmittelhändler unseres Ortes zur Unterstützung bei der Versorgung der Bevölkerung zugeteilt worden war. So fuhr er jeden Tag zu den umliegenden Ortschaften und Höfen, holte pflichtgemäß Milch, Butter, Käse und Eier bei den dortigen Landwirten ab und versorgte sie und ihre örtlichen Mitbewohner mit den wenigen Dingen, die gerade lieferbar waren.

Er fuhr, wenn man es so nennen konnte und wollte, mit einer Art Auto, aus vielen Ersatz-und anderen Teilen zusammengebaut, mit streng rationiertem Benzin angetrieben, stotternd und fauchend, eher langsam als schnell. Und dennoch galt dieses Vehikel als Wagen unserer Träume; wir fühlten uns, im Führerhausoderauf der Ladefläche, wie man es heute wohl formulieren würde, als Saupänz in einer tollkühnen Kiste.

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Und Rene - er hatte nichts gegen unsere Begleitung einzuwenden. Er war ein lustiger Franzos, sein Kauderwelsch ließ uns oft lächeln. Börre -Bore - Beure - beurre - Butter - ja, die transportierte Jacques auch.

Nur manchmal summte er traurig fremdklingende Lieder vor sich hin. Ein Lied hatte es uns besonders angetan. Ein Klang von Glocken ertönte in seiner Melodie, zunächst leise, dann stürmischer; drängender erklangen Frageweisen und, oh Wunder, es gab sogar eine deutsche Übersetzung. Sicher in unserer Muttersprache, tauchten wir langsam in die Klang- und Wortwelt der fremden Sprache ein; Rene war uns behutsamer Helfer und lieber Freund.

Und dann passierte es. Es war ein Herbstmorgen. Wir saßen als »schon Fortgeschrittene« in unserem Schulzimmer; Fräulein Maria eilte mit uns durch die kleine und große Zahlenwelt, als - klopf - bums - rumms die Tür aufgerissen wurde. »Ohse Lehre« und der Dorfgewaltige standen im Raum.

»Pitte, Willi, Hans«, so begann die altbekannte Litanei, »vortreten!" "Los! Los! Etwas schneller!«, donnerte der Dort-, Feuerwehr- und Parteichef sowie Hobbybienenzüchter, sichtlich um Amtssprache bemüht. »Es liegt eine An-, äh, Aussage gegen euch vor. Franzuselehde had ie jesonge. Wie kommt ihr dazu? Was fällt euch ein? Los, zur Beweissicherung vorsingen!«

Erst zögernd - mit feuchten Händen auf die schräge Schreibfläche unserer Holzbänke abgestützt. von »ohsem Lehre« zum Gerade stehen ermahnt - zunehmend lauter und frischer erklang Melodie und Text von »Frere Jacques«, gefolgt von "Bruder Jakob«. Trutzig wäre die musikalisch zutreffende Bezeichnung für die wenig einfühlsame Darbietung gewesen.

Wir wußten, wer uns angeschwärzt hatte, -unser Fräulein, "Madame-Sieg-Heil«, wie Rene sie in stillem deutsch-französischem Einverständnis mit uns wegen ihrer strammen Parteigesinnung und ihres maßlosen Siegeswahns getauft hatte.

Doch nun, was nun? Unsere Blicke gingen zu »ohsem Lehre«, zu Köbes, dem Dorfgewaltigen; der eine schaute den anderen an, beide murmelten Unverständliches; dann das »Urteil«, knapp in der Formulierung, präzise in der Anweisung und - milde im Vollzug:

Erstens - es gibt viele schöne deutsche Lieder;
Zweitens -

Fräulein Maria, tüchtig singen mit den Kindern;

Drittens - ich spreche mal mit dem Rene;
Viertens -

Danke für das Lied auf meinen Namenspatron!!!«

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"Frere Jacques« oder "Bruder Jakob«, Bauer Köbes oder Parteichef Jakob, wer hatte da geurteilt? Jedenfalls rauschte nur einer zur Tür hinaus. Pitte, der ihm die Tür aufgerissen hatte. verbürgte sich, draußen auf dem Flur ein dröhnendes Lachen gehört zu haben, kannte er doch den grimmigen Dorfgewaltigen Jakob als Onkel Köbes besser als wir alle.

Und der gleiche Pitte ist dafür Gewährsmann, daß im verschwiegenen Keller des Schulmeisterhauses der Franzus Börre-Schack als Frere Jacques und der Alemann Köbes als Bruder Jakob frühe deutsch-französische Brüderschaft getrunken haben sollen, freilich ohne die Kenntnis und den Segen von Fräulein Maria - pardon, "Madame-Sieg-Heil«.

»Madame Sieg Heil« und die Schlacht gegen die vaterländischen Feinde

Fräulein Maria vermittelte uns gerade Einblicke in den Verlauf der letzten Schlachten, skizzierte Frontverläufe auf großen Landkarten, las uns flammende Aufrufe an die deutsche Bevölkerung vor, laut im Ton und pathetisch in der Darbietung, stimmte die bekannten Heldengesänge an, als die Tür unseres Klassenraums sich öffnete, erst zögerlich, dann kräftiger. Da stand unser Ortsgewaltiger, verantwortlich füralles und jedes und doch wenig im Dorf, denn das meiste regelten die Bewohner eher in Ruhe und Stille mit- und untereinander. Heute aber war er Amtsautorität und donnerte los:

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»Und wieder hat der Feind, der noch die Luftübermacht hat, aber nicht mehr lange, zur Sabotage der Versorgung unserer Bevölkerung mit Lebensmittel ganze Armeen, Divisionen, Flotten, Regimenter, Heerscharen von Feinden über unseren Dörfern abgesetzt.«

Erinnerung an das grausame Schicksal des 1. Weltkrieges, das ihm als jungen Menschen manchen Zukunftstraum platzen ließ wie die explodierende Granate, die ihn traf.

Es war Nachmittag. Pünktlich waren wir alle zum Schulhof geeilt. »Abmarsch«, befahl Fräulein Maria. Zunächst auf den dorfnahen Feldern startete die Aktion gegen den Feind. Aufgereiht standen wir vorden Furchen. Die meisten besaßen Blechdosen, an denen sie Schnüre befestigt hatten.

Nur Angelika hatte ein weißes Porzellangefäß dabei, passend, so schien es uns, zu ihrer Hauttönung.

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Fräulein Maria gab das Startzeichen - ein lautes Händeklatschen und ein noch lauteres "Fürden Sieg!«.

Wir schüttelten die Blätter der Pflanzen gegen unsere Dosen, so daß Larven, Käfer und sonstiges Insektengeviech in unsere Behälter purzelten. Zu Boden gefallene Tiere wurden entweder zertreten oder bewußt übersehen. Nein, keine strafbare Schonung von Volksschädlingen, sondern bewußte Schonung mit dem Zwecke einer Möglichkeit von Wiedervermehrung und einem dann wieder zu erwartendem, hoffentlich morgendlichem Unterrichtsausfall.

"Madame Sieg Heil« schien ihre Aufmerksamkeit besonders auf Angelika zu richten. Vielleicht spürte sie, daß unsere Aufmerksamkeit eher der Neuen als ihr und ihren Anweisungen galt, daß ihre Macht über uns an Grenzen stieß, die sie nicht mehr niederzureißen vermochte. Sie baute sich vor Angelika auf, schaute in ihr nahezu leeres Gefäß. Dann wandte sich ihr Blick und heftete sich an Angelikas Gesicht, es folgte lautes Hurrageschrei: »Kampf dem Feind! Kampf den Völksschädlingen! Vorwärts! Los!« Hans war es. der mutig das Wort ergriff, unserer Zustimmung gewiß und sie wohl auch deutlich spürend. »Fräulein Maria! Angelika trett de Käh-fere met de Föhs opp de Boddem kabott. Se sammelt se net, awe se mäht se doch duht. Se späht esu doch vill Schret ant End de Reihe." "Madame Sieg Heil« schien die Begründung angesichts der Zartheit der Neuen zumindest vordergründig zu akzeptieren. Wir Jungen halfen Angelika, wo wir konnten. Unsere Mädchen halfen Angelika, wo sie konnten. Wir legten einen unsichtbaren Schutzwall um sie.

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Pitte, Hans, Marie, Bärbel, wir alle trugen unsere Behälter ans Ende der Reihen. Dort glühten Feuer, in die die gesammelten Insekten zum Verbrennen geschüttet werden mußten.

Unsere Neue wandte sich ab von den Flammen - Erinnerungen an die Bombennächte im Ruhrgebiet mit den tobenden Feuersbrünsten? Mit einem »flammenden« Appell, auch in Zukunft wachsam gegenüber allen Schädlingen des Volksvermögens zu sein, beendete »Madame Sieg Heil« unseren »Kampfeinsatz«.

Am Abend sahen einige von uns, kurz nach der Abendglocke, obwohl verboten, noch beim Spiel auf der Straße, »ohse Lehre« den Weg zur Schmiede nehmen. Fehlte da noch ein zusammenhaltender Eisenring an seinem HB oder war er ein früher und gütiger »Papa Gnädig« auf dem Weg zu Trost und Zuspruch. So, wie wir ihn kannten, waren wir sicher, nur letzteres galt. Doch eines hat sich uns Mädchen und Jungen der damaligen »Kampfeinsätze« gegen den Volksschädling »Gromberekähfe« tief »eingebrannt«: die züngelnden Flammen am Ende der Ackerfurchen, sie vernichteten Leben. Und es gab »nur« unsere »Madame Sieg Heil« in unserem Dorf. Damals ungeahnt, erfuhren wir es später: züngelnde Flammen vernichteten menschliches Leben.

Unsere Neue, unsere Angelika, ein Kind des Lebens - ein frühes Sinnbild unheilvollerAhnungen?