Geplanter Tod in der Goldenen Meile?

Das Kriegsgefangenenlager Remagen/Sinzig 1945

Kurt Kleemann

„Daß eine beträchtliche Zahl von deutschen Gefangenen 1945/46 in amerikanischen und französischen Lagern ihr Leben ließ, ist durch zahlreiche Zeugnisse belegt. Doch nun, mehr als vierzig Jahre später, wartet der kanadische Journalist James Bacque mit einer Sensation auf: Nicht, wie bisher angenommen, einige Zehntausend, sondern nahezu eine Million Häftlinge starben an den Folgen mangelhafter Hygiene, an Seuchen und Unterernährung.

Schuld an den Todesfällen war eine von General Eisenhowerzu verantwortende gezielte Politik: Lebensmittel wurden zurückgehalten, Hilfe seitens des Roten Kreuzes und anderer Organisationen wurde planvoll unterbunden."1' Seit ihrem Erscheinen 1989 haben diese Thesen zu einer scharten und bisweilen unfairen Diskussion geführt.

Der interessierte Leser aus dem Kreis Ahrweiler mag zu dem Buch greifen, da ihm das Titelfoto „Amerikanischer Soldat überwacht das Kriegsgefangenenlager in Remagen, April 1945" bekannt ist und suggeriert, er werde im Buch mehr über die Kriegsgefangenenlager Remagen und Sinzig erfahren. Im kleinen Bildteil findet er zwar drei weitere Fotos aus diesen Lagern, im Text muß er jedoch lange suchen, bevor er sie an drei Stellen (Bacque S. 53f., 63, 80ff.) überhaupt erwähnt findet.

Die Methode von Bacque läßt sich hier zeigen. Er beginnt ein Kapitel mit dem Bericht eines ehemaligen Kriegsgefangenen im Lager Kripp (S. 53f.) geht dann jedoch zu einem Bericht aus den Lagern um Bad Kreuznach über. Er setzt damit voraus, daß die Verhältnisse in diesen Lagern gleich waren.

Schwere Angriffe erhebt Bacque im Kapitel „Legenden, Lügen und Geschichte" (S. 168 -190): Amerikanischen und französischen Behörden wirft er vor, das Geschehen verschleiert und Beweise vernichtet zu haben.

Der deutschen Seite - insbesondere der „Wissenschaftlichen Kommission für deutsche Kriegsgefangenengeschichte" und dem Auswärtigen Amt - wirft er vor, an dieser Verschleierung mitgewirkt zu haben. Motiv sei gewesen, die Beziehungen zu den neuen Verbündeten USA und Frankreich nicht zu gefährden.

Seit langem bekannt und völlig unstrittig ist die Tatsache, daß in den sogenannten „Rheinwiesenlagern" im Frühjahr und Sommer 1945 menschenunwürdige Verhältnisse herrschten und gravierende Verstöße gegen die Genfer Konvention zu verzeichnen waren. Eine ganze Reihe von Berichten ehemaliger Gefangener wurde schon bald publiziert.

Die „Wissenschaftliche Kommission für deutsche Kriegsgefangenengeschichte" unter Professor Dr. Erich Maschke sammelte weitere Augenzeugenberichte, die in der 22bändigen Dokumentation „Zur Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges" aufgearbeitet wurden. Band X/2 „Die deutschen Kriegsgefangenen in amerikanischer Hand. Europa" von Kurt W. Böhme erschien 1973. Der oft wiederholten Behauptung, dieses Werk sei der Öffentlichkeit nicht zugänglich, widerspricht die Tatsache, daß die zweite Auflage von 1977 weiterhin im Buchhandel lieferbar ist.

Besonders das Kapitel über „Das Schicksal der Kapitulationsgefangenen in Deutschland 1945/ 46 als Massenschicksal" (Böhme S. 135 - 211) gibt anschauliche Informationen auch über die Situation im Lager Remagen/Sinzig. Die verwerteten Augenzeugenberichte befinden sich heute im Militärarchiv Freiburg und sind der wissenschaftlichen Bearbeitung zugänglich.

Von zentraler Bedeutung ist für Böhme die Sterblichkeit: „Das Bemühen um Objektivität der Darstellung . . . mußte sich besonders auf die Frage nach derZahl der verstorbenen Kriegsgefangenen konzentrieren, da nach Kriegsende in Deutschland erschütternde Gerüchte über die Sterblichkeitsziffer in allen Lagern, namentlich in den primitiven und provisorischen Rheinwiesenlagern umliefen" (Böhme S. IX).

Zur Feststellung der Sterblichkeit gehört die Gesamtzahl der Gefangenen, über die oft sehr unterschiedliche Zahlen publiziert wurden. Bei Böhme (S. 15) werden zwei amerikanische Angaben abgedruckt. Demnach befanden sich Ende April im Lager Remagen 169.036 Gefangene. Am 8. Mai 1945 waren es in Remagen 134.029 und in Sinzig 118.563 sowie 39.570 in Andernach. Diese Zahlen werden durch neuerdings aufgefundene amerikanische Akten bestätigt. Diese zeigen ebenfalls, daß die Höchstbelegung etwa zu diesem Zeitpunkt erreicht war, und die Gefangenenzahlen ab dem 13. Mai sinken. Das Lager Remagen war am 20. Juni mit Ausnahme der Lazarette geräumt. Sinzig wurde am 10. Juli 1945 mit rund 25.200 Gefangenen an die Franzosen übergeben, die es bald darauf ebenfalls räumten. Die verbliebenen Gefangenen mußten zu Fuß ins Lager Andernach marschieren, das erst im September aufgelöst wurde.

Bei der Zahl der Toten konstatiert Böhme unterschiedliche Angaben:

- 1.022 Tote gab es im Lager Remagen/Sinzig laut amerikanischem Bericht bis zum 10. Juli.

- 1.084 Tote wurden laut französischem Bericht auf dem Friedhof in Bodendorf begraben.

- 1.212 Gräber berichtete 1970 die Stadtverwaltung Sinzig für Bodendorf, plus 35 Tote, die auf dem städtischen Friedhof in Sinzig bestattet wurden.

Die Diskrepanz ergibt sich aus der Tatsache, daß in Bodendorf auch Verstorbene aus den Lagern Plaidt, Andernach und Koblenz, und andererseits Tote aus Remagen/Sinzig auf den Friedhöfen von Kripp, Linz, Ittenbach, Remagen und Sinzig bestattet wurden. Böhme hält daher „eine Schätzzahl von 1.200 Toten ... für vertretbar" (S. 199). Damit hätte nach Böhme die Mortalität in Remagen/Sinzig gemessen an der Gesamtzahl der Gefangenen von über 250.000 bei 0,5 % gelegen und somit nur ein Zehntel der Mortalität im Lager Bad Kreuznach-Bretzenheim betragen.

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Das Kriegsgefangenenlager Remagen im Sommer 1945:
Tausende hausten in Erdlöchern und unter Zeltplanen.

Böhme stellt ebenfalls fest, daß „die Heimkehrerberichte auch hier nicht sehr hilfreich bei der Feststellung der Gesamttodesziffer" waren (S. 199) und illustriert dies mit folgenden Beispielen: Ein Insasse des Offizierslagers schätzte, „daß es täglich 40 bis 60 Tote waren, die auf einem großen Tafelwagen abtransportiert wurden". Innerhalb von drei Monaten wären dies etwa 4.500 Tote gewesen, was sich mit keiner der bislang festgestellten Zahlen deckt. „Zweifellos hat es Tage gegeben, an denen so viele Tote aus dem Lager fortgeschafft wurden, aber der Abtransport vollzog sich ebenso zweifellos nicht an jedem Tag über drei Monate hin". Es ist ebenfalls unwahrscheinlich, daß sich die Ruhrepidemie „drei Monate anhielt, was dem Bemühen der Amerikaner, Seuchen, denen sie selbst zum Opfer hätten fallen können, zu bekämpfen, völlig widersprechen würde" (Böhme S. 200). Als Ergebnis hält Böhme fest: „Selbst wenn man angesichts der Unvollständigkeit (der vorliegenden Daten) die doppelte Anzahl von Lagertoten im Westen annehmen wollte, so bliebe sie dennoch sowohl absolut als auch relativ weit hinter der Todesziffer im Osten zurück und würde auch dann noch nicht die Behauptung vom Massensterben rechtfertigen" (S. 204f.). Doch was läßt sich vor Ort über die Ergebnisse von Böhme und Bacque feststellen? In den Suchdienstakten und den Friedhofsakten finden sich wertvolle Informationen über die Ereignisse 1945 und die Bemühungen sie später aufzuklären. Daraus ergibt sich in groben Zügen folgendes Bild: An den Standesbeamten in Remagen wurde eine Fülle von Anfragen nach toten und vermißten deutschen Kriegsgefangenen gerichtet. Sie betrafen meist die Ausstellung von Sterbeurkunden, die zur Regelung von Versorgungs- oder Erbschaftsangelegenheiten benötigtwurden. In mindestens 65 Fällen wurde bis 1953 die Überführung der sterblichen Überreste beantragt und durchgeführt. Weiterhin wünschten viele Angehörige nähere Auskünfte über die Todesumstände. Schon bald wurde die Aufklärung von Todes- und Vermißtenfällen systematisch betrieben und es erfolgten Anfragen der Suchdienste, derWehrmachtsauskunftstelle in Berlin und des VDK. Allein in den Remagener Akten sind Vorgänge zu ca. 650 Personen vorhanden. -

Zur Beantwortung dieser Fragen und Wünsche standen dem Standesbeamten zur Verfügung:

- eine Gräberliste des Friedhofs in Bodendorf,

- die Lazarettkartei des amerikanischen 62nd Field Hospital,

- Totenscheine ausgestellt vom 62nd FH,

- einzelne Nachlässe von verstorbenen Kriegsgefangenen.

Bis 1953 waren aus der Sicht des Standesbeamten über 80 % der Vorgänge geklärt. In Verbindung mit amerikanischen Akten und verschiedenen Zeitzeugenaussagen ergibt sich folgendes Bild über das Lager: Eine in England zusammengestellte Wachmannschaft von ca. 1.000 Mann wurde als „6951st PWTE" nach Deutschland in Marsch gesetzt. Am Morgen des 17. oder 18. April traf die Hälfte dieser Truppe in Remagen ein. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich nur wenige Gefangene hier. Pioniereinheiten waren dabei, das Lagergelände einzuzäunen. Am 20. April traf das 62nd Field Hospital in Remagen ein. Auf Lastwagen wurden nun Tag und Nacht Kriegsgefangene antransportiert, so daß die Zahl innerhalb von wenigen Tagen auf 169.036 stieg.

Etwa zu diesem Zeitpunkt wurde das Lager Sinzig eingerichtet, das eine andere Wachmannschaft hatte, jedoch ebenfalls vom 62nd FH zu versorgen war. Da dies durch das 62nd FH in Stärke einer Sanitätskompanie allein nicht zu gewährleisten war, wurde deutsches Sanitätspersonal (etwa 870 Mann) herangezogen. Ein Teil der Gefangenen mußte Anfang Mai von Remagen nach Sinzig marschieren.

Die ersten Lagertoten - bei Fluchtversuchen erschossene Kriegsgefangene - wurden dem Friedhofswärter in Kripp übergeben, der sich anfangs bemühte, aus Munitionskisten Särge zu zimmern. Der Friedhof in Bodendorf wurde erst am 28. April eröffnet. Der erste dort bestattete Kriegsgefangene war am 25. April in Plaidt verstorben. Die Toten wurden in langen Gräben einzeln bestattet, die Gräber mit Namen und Erkennungsmarkennummer versehen. Verstorbene Zivilisten wurden an die zuständige Gemeinde zur Bestattung überwiesen.

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Karteimäßige Erfassung der im Kriegsgefangenenlager gestorbenen Soldaten durch das Standesamt Remagen.

Von den 13.499 Patienten, die sich zwischen dem 22. April und dem 10. Juli in den Einrichtungen des 62nd FH befanden, starben - laut Bericht des 62nd FH - 532. Mit einer monatlichen Sterberate von 1,45 % lag damit die Sterblichkeit im 62nd FH deutlich niedriger als im Durchschnitt aller Lazarette der 106. Division, die Bacque (S. 240) mit 2,6 % pro Monat angibt. Indiz dafür, daß die Sterblichkeit in anderen Lagern - etwa Bretzenheim - wesentlich höher war als in Remagen/Sinzig.

Obwohl das Lager Remagen zunächst ausgebaut wurde, kam in der zweiten Maihälfte der Befehl zur Räumung. Typhusverdacht könnte dazu geführt haben. Bis zum 20. Juni wurden die Gefangenen in andere Lager verlegt oder entlassen. Sinzig wurde am 10. Juli den Franzosen übergeben und ebenfalls geräumt. Der Friedhof in Bodendorf am 15. Juli geschlossen.

Listet man die Sterbe- bzw. Begräbnisdaten der in Bodendorf Bestatteten auf, zeigt sich, daß es zwischen dem 8. und 11. Mai sowie dem 23. und 27. Mai zwei deutliche Spitzen gibt. Die höchste Zahl an Toten an einem Tag ist am 8. Mai mit 54 zu verzeichnen. Damit lag die Sterberate um ein Vielfaches höher als in Friedenszeiten, aber auch um ein Vielfaches niedriger als von Bacque postuliert.

Zeitzeugen berichten, daß viele der Gefangenen bei Regen in den Erdlöchern verschüttet wurden, die sie sich zum Schutz vor der Witterung gegraben hatten. In den Remagener Friedhofsakten ist jedoch nur ein einziger Sklelett-fund im Lagergelände aus dem Jahr 1950 dokumentiert. Die geringe Zahl der Anfragen nach Vermißten in den Suchdienstakten läßt aber auch nicht erwarten, daß die Zahl der im Lager Remagen/Sinzig Verstorbenen wesentlich höher war als die von Böhme geschätzten 1.200. Wären die Überlegungen Bacques zutreffend, müßten im Lager Remagen/Sinzig mehrere Zehntausend Gefangene umgekommen sein. Die Frage nach dem Verbleib der Leichen kann er jedoch nicht beantworten, obwohl er für Hinweise auf Massengräber im Umkreis von Gefangenenlagern eine hohe Belohnung ausgesetzt hat.

Je mehr Historiker in Spezialuntersuchungen zeigen, daß die Thesen von Bacque nicht haltbar sind, desto mehr Zustimmung erfahren sie in Form von Leserbriefen von Zeitzeugen. Mittlerweile wird von seinen Anhängern schon eine regelrechte Verschwörung gegen James Bacque unterstellt.

Dabei gerät aus den Augen, daß das Geschehen 1945 auch ohne den Tod der „fehlenden Million" schrecklich war, wie die Berichte der Betroffenen zeigen. Ihr Trauma wirkt bis heute weiter. Die Genfer Konvention ist ebenfalls bis heute nicht durchgesetzt, wie das Beispiel Jugoslawien zeigt. Das allein ist schon Grund genug zu untersuchen, wie es 1945 zu den unmenschlichen Bedingungen auf den Rheinwiesen kam. Einen Ansatz dazu bietet Kurt W. Böhme(S. IX): Die Zahl der Kapitulationsgefangenen „warf für die amerikanischen Gewahrsamsmacht organisatorische Probleme auf, die auch bei gutem Willen unlösbarwaren. Darüber hinaus führten das Siegesbewußtsein, die Entdeckung der KZ-Greuel und die Vorstellung von der Gesamtschuld des deutschen Volkes nicht selten dazu, daß es auch an diesem guten Willen fehlte."

Anmerkungen:

  1. James Bacque; Der geplante Tod. Deutsche Kriegsgefangene in amerikanischen und französischen Lagern 1945-1946, Frankfurt/ Berlin 1989. Als „Bacque" zitiert wird hier die erweiterte Taschenbuchausgabe von 1993

  2. Arthur L Smith: Die „vermißte Million". Zum Schicksal deutscher Kriegsgefangener nach dem Zweiten Weltkrieg (Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Bd. 65) München 1993. Stephen Ambrose / Günter Bischof (Hrsg.): Eisenhower an The German POWs. Pacts against Falsehood. Baton Rouge / London 1992. Auf die Besprechung von Manfred Messerschmidt: Entstehung und Ende der Million-Legende. Falsch gerechnet: Der Tod deutscher Kriegsgefangener war nicht Ziel alliierter Politik. In FA2 vom 1. 2 1994. S. 29, folgten am 10. und 12. 2. 1994 mehrere Leserbriefe Ebenfalls zu vergleichen ist Bertram Resrnlni: Lager der Besatzungsmächte In Rheinland-Pfalz Kriegsgefangene. Internierte und Verschleppte im Rheinland nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 19 (1993). S. 601-621.