Erwin Wickert

Schriftsteller, Diplomat, Asienkenner

Hildegard Ginzler

Am 7. Januar 1995 vollendete er sein achtes Jahrzehnt: Dr. Erwin Wickert, Schriftsteller, ehemaliger Diplomat und vielseitig engagierte Persönlichkeit. Vor 15 Jahren verabschiedete er sich mitder Pensionierung aus dem öffentlichen Leben des Staates, tauschte das „aktive mit dem kontemplativen Leben"1). Bei einem so wachen und regen Menschen bedeutet der Eintritt in diese Phase keineswegs ein Weniger an Arbeit. Wickert schreibt, besucht Freunde, Kenner der politischen Szene, kümmert sich um seine zahlreichen ehrenamtlichen Aufgaben. Sein Rückzug von der Politik ließen die damaligen China-Heimkehrer Wickert und Frau Ingeborg ihr Domizil in Oberwinter aufschlagen. Die Ruhe dort und die wegen der Freunde gesuchte Nähe zu Bonn gaben den Ausschlag bei der Entscheidung. Unruhige Zeiten hatte Wickert, noch bevor er seine Frau kennenlernte, reichlich durchlebt. Erwin Wickert kam in Bralitz, Mark Brandenburg, zur Welt und verbrachte seine ersten Jahre im Dort Wilhelmsort. In seinem autobiographischen Werk „Mut und Übermut"2) schreibt er mit Wärme von der verständnisvollen Mutter und von der frühen Begegnung mit der Strenge des Vaters, unter der auch die Mutter litt. Zum autoritären Vater, einem überzeugten Nationalsozialisten, hielt er Distanz. Die gestörte Beziehung beeinflußte spätere Entscheidungen, die der Jugendliche in betonter Abgrenzung fällte. Er lehnte es ab, Soldat zu werden, oder gar Offizier, wie es der Vater von ihm wünschte, nachdem ihm selbst diese Laufbahn versagt blieb.

Bereits den 12jährigen drängte es zu schreiben. Er schilderte „auf den leeren Seiten eines alten Lateinheftes einen Vulkanausbruch auf Java und die sich daraus für Mensch und Tier ergebenden traurigen Umstände.. ."3). Mit 16, als sich der Junge im Konflikt Musiker oder Schriftsteller zu werden sah, erschien bereits seine erste Veröffentlichung. 1932 lernte der junge Wickert die Großstadt Berlin kennen und tauchte, noch ein Schüler, begeistert in das kulturelle Leben ein. Er las die Autoren, die im Gespräch waren, Thomas Mann, Alfred Döblin, Stefan Zweig ... und stand als Statist auf der Bühne der Staatsoper, notfalls schulschwänzend. In Berlin nahm er auch sein Studium der Kunstgeschichte und Philosophie auf. Vieles, was ihm begegnete, hielt er schriftlich fest.

„Ich habe Aufzeichnungen gemacht, um mir etwas klarzumachen, in Situationen, die mir wichtig erschienen sind", sagt der 80jährige heute. Und im begründeten Mißtrauen in die Erinnerung: „Ich wußte, daß ich es später nie mehr so genau wiedergeben könnte." Er hat Briefauszüge und Gespräche notiert, auch dramatische Augenblicke. Zu ihnen gehört, um spätere Lebensstationen vorwegzunehmen, etwa das Geschehen am 1. Dezember 1942 auf dem deutschen Hilfskreuzer 10 oder der Luftangriff auf Tokio am 26. Mai 1945. Über das, was Wickert auf dem Hilfskreuzer erlebte, fertigte er am Tag danach ein Protokoll. „Ich wollte niederschreiben, wie ich auf dieses Erlebnis reagiert, was ich gesehen und gedacht hatte. Genau. Bevor das Gedächtnis es korrigierte und verfälschte."4) Der Hilfskreuzer lag auslaufbereit am Hafen von Jokohama neben dem 12.000 Tonnen-Tanker „Uckermark". Der Kapitän hatte deutsche Journalisten zur Besichtigung eingeladen. Während des Besuchs explodierte der Tanker. Wickert und ein Matrose sahen als erste eine Stichflamme mit Rauchwolke aufsteigen. Sie retteten sich mit einem Sprung über die Reling, schwammen zur Pier. Die anderen Journalisten entkamen ebenfalls der Gefahr, aber viele Matrosen der beiden Schiffe überlebten das Unglück, dessen Ursache nie aufgeklärt wurde, nicht.

Wickerts Gewohnheit, die Fakten kurz nach dem Ereignis zu fixieren, macht seine Mitteilungen so authentisch. Und sie macht den Autor skeptisch gegenüber manchem Geschriebenen. „Ich habe Berichte über den Bombenangriff (auf Tokio, H.G.) gelesen und sofort gemerkt, was direkt berichtet und was literarisch überhöht wurde". Sein Gespür, das Wichtige zu dokumentieren, ist nicht nur im Hinblick auf die historische Wahrheit interessant. Es ermöglichtauch nachzuvollziehen, welche Entwicklungen zu einem bestimmten Ergebnis führten. So durchleuchtet ein Dokument Wickerts, basierend auf privaten Notizen, die verschiedenen Phasen bei der Abfassung der sogenannten „Friedensnote". Die von Bundeskanzler Ludwig Erhard am 25. März 1966 im Bundestag bekanntgegebene und mit Ausnahme der DDR an alle Staaten gerichtete Note zur deutschen Friedenspolitik, fand überparteiliche Zustimmung im Inland und eine starke Resonanz in der Weltöffentlichkeit5). Als „Meisterstück deutscher Diplomatie" wertete Karl Carstens die Note und lobte in seinen Memoiren auch den mit der Ausarbeitung befaßten „hochbefähigten Mitarbeiter". Der Mitarbeiter war Wickert. Er leitete damals ein Referat in der Ostabteilung des Auswärtigen Amtes. Es schien ihm bedeutsam, die Entstehung der Note, ihre Änderung durch Politikereinwände, mit Einträgen zu begleiten: „Denn nur, wenn man diese aus den Akten der Archive nurselten ersichtlichen divergierenden Meinungen erkannt hat, erhält man ein Bild von den damals bestehenden Möglichkeiten und Grenzen politischen Handelns."6)

Auf das Studium in Berlin folge die Collegezeit in den USA. Der Stipendiat Wickert studierte Volkswirtschaft und Politische Wissenschaften am Dickinson College in Carlisle bei Harrisburg. Wichtiger noch: er lernte den „American Way of Live" kennen und schätzen „mit seiner Freiheit und Großzügigkeit, dem Optimismus und unbeschwerten Umgang der Menschen miteinander und mit den gesellschaftlichen Problemen"7). Er erlebte Reiseabenteuer bei seinen Fahrten auf Güterzügen mit Hobos (Landstreichern). Dann verschlug ihn seine Neugier auf fremde Denk-und Lebensweisen nach Japan und China. Er erlag dem Zauber des alten Peking, gewann Einblick ins Landleben armer Bauern, erschreckte sich über die in Schanghaier Textilfabriken herrschenden Arbeitsbedingungen. Immer suchte er das Gespräch mit denen, die Land und Leute besser kannten. Weil ihm das Geld für die Heimreise fehlte, musterte Wickert als Schiffsjunge auf einem Frachter an. In Heidelberg schloß er das in Berlin begonnene Studium mit dem Doktortitel ab.

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Dr. Erwin Wickert

Während des Krieges war Wickert in Ostasien. Als Rundfunkattache des Auswärtigen Amtes, „ich war der erste dieser Gattung"8), kam er zuerst in Schanghai, dann in Tokio zum Einsatz. In Heidelberg hatte Wickert zuvor seine geliebte Ingeborg geheiratet. Sie hielt ihm fortwährend den Rücken frei für seine Arbeit. Der Jubilar ist dankbar für 56 Ehejahre mit ihr und weiß ihre Verdienste zu schätzen: „Meine Frau hat den Zusammenhalt der Familie beinahe berufsmäßig betrieben." Im fernen Osten meldete sich mit Wolfram und Ulrich der Nachwuchs an. Später wurde noch eine Tochter geboren. „Solange die Kinder klein waren, sind wir viel mit ihnen herumgereist. Wir haben sehr viel gesprochen und diskutiert in der Familie. Es war eine intensive Zeit." Die familiären Beziehungen sind auch heute noch eng, dazu tragen auch die Enkelkinder bei.

Nach der Zeit im Fernen Osten arbeitete Wickert in Heidelberg als freier Schriftsteller, bis er 1955 wieder in den Auswärtigen Dienst trat. Als politischer Referent in der Deutschen NATO-Vertretung in Paris (bis 1960), Referatsleiter in der Ostabteilung des Auswärtigen Amtes (bis 1968), Gesandter in London (bis 1971), Botschafter in Bukarest (bis 1976) und zuletzt in Peking (bis 1980). Nachdem er während seiner aktiven Berufszeit nur im Urlaub Zeit und Muße für die Literatur fand, ergab sich dazu nach seiner Pensionierung mehr Gelegenheit. Er erlangte schon früh literarischen Ruhm. Ein Bestseller wurde etwa sein Landesportrait „China von innen gesehen" (1982). Andere Erfolge waren etwa der China-Roman „Der Auftrag des Himmels" oder später „Der Purpur" und „Der verlassene Tempel". „Zapas oder die Wiederkehr des Herrn", sein jüngster Roman, beschreibt die Wiederkehr Jesu 30 Jahre nach der Kreuzigung. Wickert verfaßte auch eine Reihe Hörspiele und schreibt nach wie vor Essays, die auf eine große Resonanz stoßen. Der nächste Roman ist bereits geplant. Er soll in Süditalien oder Sizilien spielen. Zuvor wird es natürlich eine Reise dorthin geben.

Reisen - eine Anstrengung, die Wickert gerne auf sich nimmt. Besonders das Jubiläumsjahr war für ihn ein reiseintensives. „Ich habe meinen persönlichen 50-Jahre-Rückblick gehalten". Im Mai besuchte er in London alte Freunde aus der Politik. Ende Mai war er in Japan und in China. Er nahm ein Abendessen mit einem Japaner ein. „dessen Haus wir vor 50 Jahren gelöscht hatten; unser eigenes verbrannte". In China traf er sich mit chinesischen Freunden, Schriftstellern und Wissenschaftlern, um sich über die wirtschaftliche und politische Situation des Landes zu informieren. Daneben rufen die Pflichten verschiedener Vereinigungen. 1990 gründete Wickert die „Deutsche Gesellschaft für Ostasiatische Kunst", deren Vorsitzender er ist. Im freien Autorenverband, in der Akademie der Wissenschaften und Literatur in Mainz und im P.E.N. Club ist er Mitglied. Als Vorsitzender des Deutschen Autorenrates bereitet er gerade ein Kolloquium zum Thema politische Korrektheit in Weimar vor.

Trotz der vielen Aufgaben hat Erwin Wickert immer wieder einmal Gelegenheit gefunden, vor interessiertem Publikum aus seinen Büchern zu lesen und von seinen Erlebnissen in Ostasien zu erzählen. In Oberwinter, in Remagen in der Buchhandlung Feuser, in Bad Breisig auf Anfrage des Landtagsabgeordneten Bernd Lang beim Forum Kultur. Der wußte wohl, daß Wickert im Breisiger Kurhaus regelmäßig schwimmen geht. Statt des abgelehnten Honorars - „das ist doch Nachbarschaftshilfe" - erhielt Wickert für die Lesung Freikarten zum Schwimmen. Was sagt ein engagierter politisch erfahrener und aufmerksam gebliebener Mensch wie Wickert zum Phänomen Politikverdrossenheit junger Menschen? Für ihn ist das Problem wie viele andere verknüpft mit einem zu fürsorglichen Staat. Der lahmt in seinen Augen die Eigeninitiative des Einzelnen für sich und für die Gesellschaft. Mehr Freiheit und mehr Risiko wünscht er dem Bürger, der dann auch „die Früchte des Wagnisses" ernten soll.

Wickerts Ernte ist bisher sehr reichhaltig gewesen. Vieles ist ihm geglückt. Wegen seiner Talente, seiner Energie und aufgrund des eigenen Wagnisses. Sein Leben vermag davon zu überzeugen, daß der Einsatz lohnt.

Amerkungen:

  1. Alle nicht anderweitig ausgewiesenen Zitatstellen, sind Äußerungen von Erwin Wicken bei einem Gespräch mit der Verfasserin am 31. August 1995 in Oberwinter.

  2. Erwin Wickert. Mut und Übermut. Geschichten aus meinem Leben München 1991.

  3. Mut und Übermut, S. 73.

  4. Mut und Übermut. S, 413.

  5. Zur Friedensnote siehe Rainer A. Blasius, Erwin Wickert und die Friedensnote der Bundesregierung vom 25. März 1966. in: Vierteljahreszeitschrift für Zeitgeschichte, Heft 3/1995. S. 539-553.

  6. Erwin Wickert und die Friedensnote, S, 544.

  7. Mut und Übermut, S. 163.

  8. Mut und Übermut, S. 322.

  9. Siehe die fiktive Rede von Erwin Wickert in: Deutsche Entwürfe Antworten auf Stefan Heym. Bonn 1995, S. 149-160.