Das Milliardenprojekt

Ein ungewöhnlicher Kirchenneubau in Müllenbach (1922-1924)

Martin Hens

Mit dem Neubau der kath. Pfarrkirche St. Serva-tius und St. Dorothea in Müllenbach wurde eine ungewöhnliche Leistung erbracht, die in der damaligen Rheinprovinz eine Seltenheit war. In der wirtschaftlichen Not- und Inflationszeit der zwanziger Jahre wagten die Zivilgemeinden Müllenbach und Rothenbach mit Unterstützung der weltlichen Behörden den Neubau einer Kirche.

Die Vorgeschichte

Die Kapellengemeinde Müllenbach mit den Filialdörfern Rothenbach und Meisenthai gehörte kirchlich zur Mutterpfarrei Kelberg und politisch seit Gründung der Rheinprovinz zum Kreis Adenau, Bürgermeisterei Kelberg.

In der alten Kapelle von Müllenbach gab es keine regelmäßigen Gottesdienste. Daher mußten die Gläubigen den einstündigen Fußweg nach Kelberg auf sich nehmen.

Nach den Wirren des 1. Weltkrieges gingen die Bestrebungen dahin, sich von der Mutterpfarrei Kelberg zu lösen und einen eigenen Pfarrer zu bekommen. Vorbedingung für dieses Unterfangen war jedoch ein Pfarrhaus für den zukünftigen Seelsorger.

Nachdem die Zivilgemeinde Müllenbach im Jahre 1921/22 ein Pfarrhaus erstellt hatte und somit die Voraussetzungen erfüllt waren, konnte am 2. Oktober 1922 mit starker Unterstützung von Johannes Eisvogel, damaliger Pfarrer von Kelberg und Mitglied des Kreisausschusses Adenau, die feierliche Einführung eines Vikars in der Vikarie Müllenbach stattfinden.

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Pfarrkirche in Müllenbach, 1950er Jahre.

Bedarf einer neuen größeren Pfarrkirche

Der lang ersehnte Wunsch nach einem eigenen Seelsorger war nun in Erfüllung gegangen. Es gab von nun an zwei Sonntagsmessen und regelmäßige Werktagsgottesdienste. Die Zahl der Kirchenbesucher in der 638 Seelen-Kapel-lengemeinde wurde immer größer. Die alte Kapelle erwies sich bald als zu klein und zudem bedurfte sie aufgrund von Baufälligkeit dringend einer umfangreichen Renovierung.

Daraufhin entschloß sich der Kirchenvorstand im August 1922 zum Neubau einer Kirche. Da die Kapellengemeinde "arm wie eine Kirchenmaus war«, konnte diese Baumaßnahme nur von den Zivilgemeinden Müllenbach und Ro-thenbach verwirklicht werden. Geeignete Grundstücke für den Neubau der Kirche waren bereits seit der Landzusammenlegung Eigentum der Gemeinde Müllenbach und standen somit zur Verfügung.

Planung, Bau und Finanzierung

Mit dem Erstellen der Baupläne und Zeichnungen wurde das Architektenbüro Gebr. Leidinger in Adenau beauftragt. Weitere Ingenieurleistungen sowie den Finanzierungsplan erstellte das Ingenieurbüro Dr. Cäsar in Köln. Die Kirche sollte Planungen zufolge 698 Kirchenbesuchern Platz bieten. Hierfür war ein umbauter Raum von 4.374 cbm erforderlich. Aufgrund der inflationären Entwicklung und der Ungewissen wirtschaftlichen Lage konnte jedoch niemand einen verbindlichen Kostenvoranschlag erstellen. Aus diesem Grund wurden von Dr. Cäsar die vorläufigen Baukosten für den Rohbau nur abgeschätzt. Schätzkosten für den Rohbau der Kirche:

Arbeitslohn 760 Millionen Mark
Fuhrlohn, Frondienst 380 Millionen Mark
Wert für Bauholz und Bruchsteine aus Gemeindeeigentum 120 Millionen Mark

Ankauf weiterer Baumaterialien

1020 Millionen Mark
2280 Millionen Mark
(2,28 Milliarden Mark)

Aufgrund der großen Opferbereitschaft und der Mitwirkung der Bevölkerung konnte im Juni 1923 mit den Bauarbeiten der Kirche begonnen werden. Die ersten Bauarbeiten dauerten jedoch nicht lange an. Infolge der zunehmend schnellen Geldentwertung ging auch den Gemeinden Müllenbach und Rothenbach das Geld aus. Arbeiter und Materiallieferungen konnten nicht mehr bezahlt werden. Durch die Stillegung der Bautätigkeiten wurden etwa 50 Bauarbeiter arbeitslos und mußten somit vom Staat unterstützt werden.

Hilfe des Staates

Ein hilfreicher Tip von Landrat Gorius aus Adenau gab dem Gemeinderat von Müllenbach neue Hoffnung. Im Rheinland, dem Bereich der "Rhein-Ruhr-Hilfe", konnten auch von weltlichen Gemeinden durchgeführte Kirchbauten als Notstandsobjekte anerkannt und aus Mitteln der Rhein-Ruhr-Hilfe unterstützt werden.

Eiligst wurde darum von den Gemeinden ein Antrag auf »Unterstützung aus der außerordentlichen Erwerbslosenfürsorge« gestellt. Landrat Gorius gab dem Antrag seine Zustimmung und übergab ihn dem Regierungspräsidenten in Koblenz.

Schon wenige Tage später, am 1. August 1923, kam bereits eine positive Antwort. So schrieb der Regierungspräsident:

»Der volkswirtschaftliche Wert rechtfertigt die Anerkennung, daß die nachstehend bezeichnete Maßnahme, nämlich der Neubau der Pfarrkirche der Gemeinden Müllenbach und Rothenbach gemäß Nr. III Ziffer 1 der Ausführungsbestimmungen vom 25. Dezember 1922 zu § 15 der Reichsverordnung über Erwerbslosenfürsorge vom 21. 1. 1920 - RGB. S. 98 ff als geeignet zur Förderung aus Mitteln der produktiven Erwerbslosenfürsorge anerkannt wird«.

Die Gemeinde konnte aufatmen. Schon nach wenigen Tagen konnten nahezu 50 erwerbslose Arbeiter ihre Beschäftigung wieder aufnehmen. Bemerkenswert ist der Hinweis der Regierung in einem weiteren Schreiben, daß nach Möglichkeit Rücksichtauf die sozialen Verpflichtungen der Beschäftigten zu nehmen sei und somit Verheiratete mit Kindern zu bevorzugen sind.

Wöchentlich kam ein Angestellter des Arbeitsamtes Kelberg mit einem Rucksack voller Geldscheine zur Baustelle nach Müllenbach, um die Bauarbeiter auszuzahlen.

Die ins Uferlose voranschreitende Inflation wird deutlich, wenn man die steigenden Gesamtkosten des Rohbaus betrachtet. Im Juli 1923 wurden die Kosten noch auf 2.880.000.000 Mark geschätzt. Bereits im Oktober mußte von der Regierung ein weiterer Zuschuß in Höhe von 735.000.000.000 Mark (dem 255fachen der ursprünglichen Förderung) zur Fortführung der Bauarbeiten bewilligt werden.

Grundsteinlegung

Am 5. August 1923 fand die Grundsteinlegung für die neue Pfarrkirche statt. An diesem denkwürdigen Tag wurde eine auf Pergament verfaßte Urkunde in einer versiegelten Flasche mit dem Grundstein eingemauert. Die zeitgeschichtlich interessante Urkunde hat folgenden Wortlaut:

„Im Jahre des Heiles 1923, als Papst Pius XI. den Thron des heiligen Petrus in Rom innehatte, Franz Rudolf Bornewasser Bischof von Trier war, Johannes Eisvogel als Pfarrer 'in Kelberg tätig und Jakobus Gerber als selbständiger Vikar der Filialkirche in Müllenbach war, im fünften Jahre nach der unseligen deutschen Revolution, da der deutsche Kaiser Wilhelm II. von Hohenzollern in der Verbannung schmachtete und Reichspräsident Eben die Geschicke des niedergetretenen Deutschlands lenkte, da die fremden Siegervölker in deutschen Gauen hausten und das Kulturvolk der Franzosen unsere nähere Heimat, das deutsche Rheinland durch die Ruhrbesetzung schmachvoll knechtete, einer Zeit, da die Not des deutschen Volkes so hoch gestiegen war, daß man für ein Hühnerei 12.000 Mark, fürdas Pfund Butter 130.000 Mark zahlen mußte, in dieser ernsten tieftraurigen Zeit haben die Pfarrkinder von Müllenbach, Rothenbach und Meisenthai in gläubigem Vertrauen auf den Allerhöchsten, unterstützt aus Mitteln der Rhein-Ruhr-Hilfe sich entschlossen, dem Herrn ein neues Gotteshaus zu bauen... Müllenbach, am XI. Sonntag nach Pfingsten, den 5. August 1923".

Behelfsmäßige Fertigstellung

In den Notjahren 1923/24 konnte die neue Kirche soweit fertiggestellt werden, daß am 18. November 1924 die Benediktion durch Pfarrer Eisvogel vollzogen werden konnte.

In den Folgejahren wurden zwar die wichtigsten Innenarbeiten ausgeführt und verschiedene sakrale Gegenstände angeschafft, vieles blieb jedoch unvollendet, da die Finanzmittel aufgebraucht und hohe Darlehnszinsen aufzubringen waren.

Hauskollekte für die Restfinanzierung

Im strukturschwachen Gebiet des Kreises Adenau herrschte auch nach der Währungsreform im Dezember 1923 große Finanzknappheit. Hinzu kam die allgemeine Weltwirtschaftskrise im Jahre 1929.

Die neue Kirche war noch durch viele Provisorien gekennzeichnet, auch der Innenraum war noch völlig kahl und es bedurfte noch so mancher Anschaffung. Daher entschloß man sich, Haussammlungen bei Gläubigen in wirtschaftlich bessergestellten Regionen der Rheinprovinz durchzuführen und diese somit an der Finanzierung zu beteiligen.

Diese Kollekte, eine für heutige Verhältnisse ungewöhnliche Maßnahme, mußte vom Erzbischöflichen Generalvikariat Köln, zuständig für den Regierungsbezirk Koblenz und Düsseldorf, befürwortet und genehmigt werden. Auch der Oberpräsident der Rheinprovinz mußte diese Hauskollektion bewilligen.

In den Monaten September bis Dezember 1930 zogen daraufhin achtzehn sogenannte Kollekteure aus der Gemeinde Müllenbach in die reicheren Pfarreien der Rheinprovinz, um für die arme Kirchengemeinde zu sammeln. Mit dem Ergebnis dieser Sammelaktion konnte die Kirche fertiggestellt und in einen würdigen Zustand gebracht werden.

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Zeitungsausschnitt aus der Adenauer Zeitung, 1929.