Die Goldene Meile, ein »Amphitheater« natürlicher Schönheiten

Die Reise der Engländerin Ann Radcliffe im Sommer des Jahres 1792

Heino Möhring

Der Zeitgeist

Es war gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als man im Zuge der aufblühenden Romantik dem Rhein und seiner Landschaft ein bis dahin ungewohntes Interesse entgegenbrachte. Symbolisch schien der Strom all die Merkmale zu verkörpern, die für diese neue Geistesbewegung charakteristisch waren. Seine Erhabenheit und die Eigentümlichkeiten seiner Landschaften standen für die gewollte Akzentuierung des Individuellen, das Zusammenspiel von Bergen, Tälern, Wäldern und Wasser für den ausgeprägten Hang zur ursprünglichen Natur, die Burgen, Kirchen und Städte mit ihrer Geschichte für die Rückbesinnung auf das Mittelalter.

Und schon bald setzte eine bis dahin ungeahnte Reisewelle an den Rhein ein, die man als den Ursprung des heutigen Rheintourismus ansehen kann. Die erste Welle von Reisenden, die den Rhein mit ihren ganz persönlichen Empfindungen erlebten und ihre Betrachtungen in oftmals verklärter Sicht zu Papier brachten, kam aus England. Die in ihrer Heimat bereits durch Schauerromane, den sogenannten „Gothic Novels", und Naturlyrik vorgeprägten englischen Gemüter fanden hier in wildromantischer Umgebung genau die Anreize, die ihre Phantasie beflügeln konnte.

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Luftaufnahme von Bad Breisig (vor 1970), wo die Goldene Meile beginnt, die sich bis Remagen erstreckt

Mit zu den ersten dieser Bildungstouristen zählte Ann Radcliffe, eine in ihrer Heimat bekannte Autorin von Schauerromanen. In ihrem erfolgreichsten Werk. „Die Geheimnisse von Udolpho", läßt sie mysteriöse und übernatürliche Ereignisse vor dem Hintergrund großartig beschriebener Landschaften ablaufen, wobei ihr oftmals die Rheinlandschaft mit ihren Burgen und Ruinen als Vorlage diente. Ihr gelang es, die Natur in den verschiedenen Stimmungen zu erfassen und dabei Verbindungen zu seelischen Vorgängen des Menschen herzustellen. Doch hören wir selbst den phantastischen Bericht über die Goldene Meile, den die Schriftstellerin von ihrer Reise mit der Kutsche von Remagen nach Andernach verfaßt hat:

Die Landschaft

„Auf ungefähr haibein Weg nach Andernach u'eichen die westlichen Berge plötzlich vom Fluß zuruck und bilden zu größeren Höhen ansteigend einen großen Bogen um eine mit Obstplantagen. Gärten. Kornfeldern und Weingärten bebaute Ebene. Das Tal weitet sich hier auf eine Breite ron eineinhalb Meilen und zeigt Größe. Schönheit und einfache Erhabenheit in einer einzigartigen Weise miteinander vereint. Die schroffen Steilhänge. die sich über dieser Ebene erheben, sind gänzlich mit Wald bedeckt, außer daß hier und da der wilde Lauf eines Sturzbaches erschien, den man manchmal direkt ron der Höhe des Hanges bis zu dessen Fuß verfolgen konnte. In der Nähe des Zentrums öffne! sich dieses edle Amphitheater zu einem kleinen Tal, das nur bewaldetet Berge aufweist. Gipfel über Gipfel in einer weiten Perspektive. Einen derartigen silvanischen Überfluß harten wir selten gesehen! Aber obwohl die Dichte der näheren Wälder sehr üppig ausfiel, schienen sie doch nur wenig Nutzholz zu enthalten.

Das gegenüberliegende Ufer wies lediglich nur eine Reihe ron Felsen auf. die bunt gescheckt wie Marmor, wobei violett die vorherrschende Farbtönung war, einförmig in weiten, schrägen Schichten angeordnet waren. Aber sogar hier schauten kleine mit Wein bebaute Flächen zwischen den Felsen hervor und zogen sich in Spalten empor, wo es schien, a/s ob keines Menschen Fuß Hall haben könnte. Entlang des Fußes dieser gewaltigen Berqmauer und auf den Höhen darüber lagen zahlreich rer-streute Dörfer, jedes mit seinem hohen, qrauen Kirchturm, die somit in erstaunlichem Gegensatz die Erfreulichkeit dichter Besiedlung mit den Schrecken der ungezähm-ten Natur rermischten. Einige Klöster gleich Festungen in ihren Ausmaßen und von diesen nur durch ihre Turmspitzen zu unterscheiden, waren zu erkennen, und in dem sich wei-tenden Ausblick auf den Rhein erschien hier und da sogar eine alte Burg auf dem Gipfel eines etwas rom Ufer abgelegenen Berges: ein Objekt das lieblich pittoresk wiedergegeben wurde, als die Strahlen der Sonne seine Turme und befestigten Terrassen erleuchteten, während die mit Büschen bewachsenen Hänge darunter im Schatten lagen.

Wir sahen diese Landschaft unier den qlückliciisten Umständen. u'as Jahreszeit und Wetter betrafen. Die Wälder und Pflanzen standen in der Blüte des Hochsommers. Das liebliche Abendlichl steigerte noch die Fülle ihrer Farbschattierungen und gab der einen Hälfte des Amphitheaters. durch die wir fuhren, einen aussergeii'öhnlichen Effekt. wohingegen die andere Hälfte im Schatten laq. Die Luft u'ar durchsetzt rom Duft der Bohnenblüten und der gerade blühenden Lindenbäume, die die Straße säumten. Wenn sich in dieser Ebene noch Wiesen mit Hainen vermischt Italien, sie hätte einen wahrhaft arkadischen Charakter bekommen: doch weder hier noch in der Gesamtheit des entzückenden Tales sahen wir eine einzige Weide oder Wiese außer hier und da auf einer Insel im Rhein. Solche Nachteile werden aber für den Landschaftsliebhaber durch das Grün der Wälder und Reben ausgeglichen. In anderen Gegenden Deutschlands, wo Kornfelder und Felsen die Färbung der Landschaft ausmachen. rermißl man sie noch mehr.

Schließlich erschöpft von einer solchen Reichhaltigkeit und Schönheit waren wirfroh, für eine Weile ron ihrem Anblick durch dichtes Astwerk getrennt zu sein, und nur die weiten Bäche zu seilen, die zwischen den Bergen herunterkamen. und mit ihren rustikalen Brücken aus Reisigbündeln und Erde des öfteren unseren Weg kreuzten: oder auch das einfache Bauernmädchen. das seine Kühe zum Grasen auf den schmalen Streifen Grüns am Rande des Weges führte. Die kleinen Glocken. die an ihren Hälsen läuteten. würden es ihnen nicht erlauben. außerhalb seiner Hörweite umherzustreunen. Hätten wir nicht schon seit langem unser Erstaunen über die Knappheit und schleclite Qualität ron Käse und Butter in Deutschland abgelegt, so wäre es jetzt geschehen, als uns die kärgliche Methode. Vieh zu weiden, gewahr wurde, welche. wie uns zukünftige Beobachtungen überzeugen sollten. hier die übliche Praxis war."

Zauber und Wirklichkeit

Manch heutigem Leser unseres nüchternen Jahrhunderts mag es schwerfallen, dem Überschwang an Farben und Formen dieser Landschaftsbeschreibung zu folgen und die verklärte, übersteigerte Sichtweise der Autorin nachzuempfinden. Deutlich ist zu erkennen, wie sie sich stellenweise in einen wahren Rausch der Sinne und der Natur hineinschreibt, wobei jegliche geographische Genauigkeit zur Nebensächlichkeit verblaßt und in den Hintergrund tritt.

Doch trotz aller romantischer Empfindsamkeit verliert Ann Radcliffe keineswegs den Blick für die Realität. So stellt sie dem von ihr als üppig beschriebenen Waldbestand der Rheinhänge die Frage nach Nutzholz entgegen und zeigt mit ihrer Feststellung über den Mangel an an saftig-grünen Weiden und Wiesen, daß sie die vorgefundene Landschaft insgeheim mit der ihrer Heimat vergleicht. Und wenn sie sich hier und über die angetroffenen Verhältnisse auf ihrer Reise recht negativ außen, wie zum Beispiel über die schlechte Qualität der Milchprodukte, die Bestechlichkeit der Kutscher oder die unhygienischen Zustände in den Gasthäusern, so ist dabei zu berücksichtigen, daß die Autorin als Angehörige einer aufstrebenden Weltmacht wie Großbritanien mit einer gewissen Voreingenommenheit auf ein von Kriegen und Krisen zerrüttetes Land. wie es Deutschland damals war.

blickte. Ihre Reise fiel in eine Zeit, in der das Heilige Römische Reich Deutscher Nation zerfallen. Mitteleuropa von Machtkämpfen zerrüttet war. und französische Revolutionstruppen sich anschickten, das linke Rheinufer zu besetzen. So nimmt es denn kein Wunder, daß die Autorin ihre Rückreise stromabwärts mit dem Schiff zurücklegen mußte, von dem aus sie am linken Rheinufer bereits Kämpfe zwischen französischen und kaiserlichen Truppen des Hauses Habsburg beobachten konnte. Doch aller Reisebeschwerlichkeiten zum Trotz hat uns Ann Radcliffe eine der schönsten und phantastischsten Beschreibungen der mittelrheinischen Landschaft hinterlassen. Ihre Satzperioden zeugen von einer Sensibilität. Farb- und Gefühlskalen wiederzugeben und Übergänge fließen zu lassen, wie sie in der Malerei in den Rheinlandschafien eines Willam Turner ebenfalls zum Ausdruck kommen.

Quellen:

Ann Radcliffe: Journey made in the summer of 1794, Holland nd the Western Frontier of Germany, with a Return down the Rhine, dublein 1795

Heino Möhring: Reiseimpressionen vom Mittelrhein zwischen Andernach und Remagen, Berlin 1987