»...wodurch wir die klägliche Lage der hiesigen Einwohner vorzustellen wagen.«1)

Von der bitteren Not der Wadenheimer vor Gründung des Heilbades Neuenahr bei Beul

Hans-Jürgen Ritter

Wer das mondäne Heilbad Neuenahr, das „Rheinische Karlsbad", um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert erlebt hat, wer die Kurgäste aus hohen und höchsten Kreisen der Gesellschaft flanieren gesehen hat, wer das anmutige Spiel der gesellschaftlichen Vergnügungen in der Zeitung verfolgen konnte, wer die Hotelpaläste und die unzähligen stolzen Bürgerhäuser, die Luxuswarengeschäfte und den Droschkenverkehr bestaunt hat, der hätte sich verwundert die Augen gerieben, hätte er gewußt, wie armselig es an diesem Platze noch um 1850 zugegangen war.

Hunger und Not, Wetterkatastrophen und Mißernten, Hochwasser und Eisgang bestimmten einen wesentlichen Teil des Alltages der Bevölkerung von Wadenheim, Beul und Hemmessen. Diese drei Dörfer, die Gemeinde Wadenheim bildend, gehörten seit 1816 als Landbürgermeisterei zur Verwaltung der Stadtbürgermeisterei Ahrweiler. Nicht leicht hatte es der jeweilige Bürgermeister in Ahrweiler mit seinen Untertanen im "Jeuischen".2)Ihre Gemeindeväter überzogen „Sr. Hochwohlgeboren" mit unzähligen Eingaben und Bitten an die ..Hochlöbliche Regierung" in Coblenz. Immer wieder wiesen sie dabei auf die finanziellen Nöte ihrer armen Gemeinde hin, aber auch auf Arbeitslosigkeit. Hunger und Armut unter den meisten Einwohnern. Kaum eine Anordnung der Regierung wurde unter Hinweis auf diese Zustände ohne Murren angenommen, zumal dann, wenn diese mit Kosten aus der Gemeindekasse verbunden waren.

Viel Steine gab's und wenig Brot

Die vorhandenen Gemeinderatsprotokolle3) von Wadenheim bieten eine Fülle von Beispielen, wie sich die Gemeindeväter für ihre Gemeinde ins Zeug legten. Mit den ausführlich Begründungen im umständlichen Kanzleistil, mit ausufernden Schachtelsätzen und in schlitzohrig devoter Haltung der Obrigkeit gegenüber sind sie eine Fundgrube für den Heimathistoriker. Hier wird er fündig und erfährt den Alltag der Gemeinde. die sozialen Bedingungen und ihre Wirkungszusammenhänge. So heißt es über die erbärmliche Lage der Wadenheimer an einer Stelle:
..... und daß von den 210 Bürgern (gemeint sind die Haushaltsvorstände) der Gemeinde keine 20 ihren nöthigsten Bedarf an Lebensmitteln selbst gewinnen können."4)

Noch nicht einmal 10% der Familienväter und Haushaltsvorstände waren demnach in der Lage, sich und ihre Angehörigen aus eigener Landwirtschaft oder durch ein bescheidenes Gewerbe zu ernähren. Die übrigen fristeten ein mehr als kärgliches Dasein, waren auf spärliche Tagelöhnerverdienste, ja sogar auf Bettelei angewiesen. Die Ursachen für diese Notlage waren vielschichtig und griffen ineinander, so, wie es hier darzustellen den Rahmen sprengen würde.

Sicherlich trug der unfruchtbare Kiesstreifen im Überschwemmungsgebiet der Ahr zwischen Kreuzstraße und Mittelstraße, als Stein und Grind bezeichnet, erheblich zu diesem Notstand bei, war doch hier eine intensive landwirtschaftliche Nutzung nicht möglich. Hier wuchsen nur die Korbweiden. Häufige Überschwemmungen, im Winter oft lang anhaltender Eisgang, ließen einen regelmäßigen Zugang von einer Ahrseite zur anderen nicht immer zu. Rahmbüsche. Felder und Weinberge konnten dann nicht bearbeitet, gefälltes Holz und Feldfrüchte nicht abtransportiert werden. Auch besaßen nur wenige Einwohner hochrädrige Karren, um die Ahr schon bei normalem Wasserstand durchqueren zu können. Die anderen waren gezwungen, die Ergebnisse ihrer mühevollen Arbeit in schweißtreibender Manier auf dem Kopfe oder in Leinentücher nach Hause zu tragen oder für teures Geld von Fuhrleuten abtransponieren zu lassen.

Hochstrasse.gif (86680 Byte)

Blick von der Hochstraße in Bad Neuenahr über das Oberdorf Beul mit seinen ärmlichen Hütten (um 1860). Im Hintergrund {r. l. n. r.) Kurhotel, Gastwirtschaft Luckenbach, Hotel Mariensprudel.

Eine durch Realerbteilung in viele kleine, oft weit auseinander liegende Parzellen zersplitterte Nutzfläche erschwerte die Arbeit durch zeitraubende An- und Abfahrtswege mit langsamen Ochsengespannen. Wenn dann dazu häufige Mißwachsjahre und durch Unwetter oder extreme Hochwasser zerstörte Ernten Familien in den Ruin trieben, mußten diese sich, um überleben zu können, hoch verschulden oder ihren Besitz zu Wucherpreisen verschleudern. Dann fielen sie der spärlich bestückten Armenkasse zur Last. So stellte der Gemeinderat fest, „daß die hiesigen Einwohner durch den Ankauf des so theuren Brennholzes und der Heide zur Düngung der Weingüter und Äcker in Zeit 20 Jahren und während dieser langen Frist so vielen Miswachsjahren so verarmt sind, daß viele Einwohner gezwungen waren, ihre Güter an Auswärtige zu verkaufen.5) Da verwundert es nicht, daß der Gemeinderat Verständnis für Verzweiflungshandlungen der Bürger hatte. Er äußert sich dazu:

„Die allgemeine Noth beschwert die hiesigen Einwohner, besonders die armen, welche neben dem großen Mangel an Lebensmitteln auch an Brandmaterialien dürftig sind. Die Wärmung ist unentbehrlich. Diese kann aber der Arme wie auch die mittelste Classe der Einwohner sich nicht verschaffen ohne Holzfrevel zu begehen. denn die Dürftigkeit bei diesen Klassen ist so groß, daß mehrere Einwohner weder Brod noch andere Lebensmittel verleben müssen."6) Die Gemeinde selber war nicht in der Lage, ihren Einwohnern nur in Ansätzen über die drückendste Not hinwegzuhelfen. Kriegsfolgelasten aus früheren Zeiten - bis 1853 wurden 17 000 Thaler getilgt - aber auch Ahrregulierungsmaßnahmen hatten ihre Kräfte weit über Gebühr erschöpft. Die Haupteinnahmequelle der Gemeinde war der Wald südlich der Ahr, wobei vor allem der Verkauf von Heide eine wesentliche Rolle spielte. Heide diente, wegen Strohmangels, als Streu für das Vieh und daraus folgend als Dünger für Felder und Weinberge. So erscheint es uns heute verständlich, daß die Aufforstungspläne der preußischen Regierung wegen der damit verbundenen Reduzierung der Heideflächen auf erbitterten Widerstand der Gemeinde stießen.

Im Jahre 1847 hatte der Preußische König „den höchst betrangten Unterthanen in der Rheinprovinz" zur Unterstützung 60 000 Thaler zinslos zur Verfügung gestellt. Hiervon erbaten sich die Wadenheimer, „nachdem der Hagel und die Wasser Beschädigungen uns in den zweien letzten Jahren so hart getroffen haben, daß die Früchte auf den Feldern und die Trauben in den Weinbergen zerschmettert worden, einen Vorschuß von 10 Mispel (Hohlmaß) Roggen, um Brot backen und 200 Taler. um Kartoffeln ankaufen zu können. Von den ihnen zugeteilten 71 Scheffel und 22 Pfund Roggen wurden insgesamt 1262 Brote gebacken, für Wadenheim 662, für Beul 298 und für Hemmessen 302 Stück. Diese je 6 Pfund schweren Brote wurden zu 7 Silbergroschen verkauft bzw. aus der Gemeindekasse bezahlt. Der Betrag von 7 Silbergroschen entsprach dem Tagesverdienst eine Tagelöhners. Ein Maurermeister erhielt 15 Silbergroschen am Tag, 30 Silbergroschen machten einen Thaler. Die Einwohner Wadenheims müssen zu dieser Zeit stark „bedrängt" gewesen sein, der Gemeinderat erkannte nämlich die Notwendigkeit, zusätzlich zu den Nachtwächtern und Feldhütern nachts weitere Männer patroullieren zu lassen, um „die Felddiebe &tc (=etc) der strafenden Gerechtigkeit zu überliefern."7)

Der Juny war naß und kühl -das Mißwachsjahr 1845

Wir stellen fest, daß in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele Mißernten zu verzeichnen waren. Den Witte-rungs- und Wachstumsverlauf eines solchen Mißwachsjahres entnehmen wir den Aufzeichnungen eines Zeitzeugen. dem von Antonius Witsch 1796 begonnenen und von seinem Sohn fortgeführten Annotationsbuch.8)

„1844 fing die Kälte mit dem December an, und wir hatten bey starkem Ostwind diesen Monath hindurch bis zur Hälfte Januar 1845 abwechselnd 10 bis 12 bis 14 Grad Kälte, so das der Weidekohl allenthalben etwas weiß geworden. und auch der Saamen erfroren wie auch die Wintergerste. selbst das Saat Korn und der Weizen hatten vieles, weil kein Schnee lag. gelitten.... Jetzt fiel eine Menge Schnee, so daß man im Walde beim herausschlitten des gekauften Holzes bis über die Waden durch den Schnee ging. und es folgte viel strenge Kälte die bis zu 17 Grad stieg, weshalb die Wcinstöcke am 21ten Februar erfrieren u(nd) es drunter eine schwächere Kälte hat bis zum 23ten März aufh(eiligen) Ostenag, da trat schnelles Thauwetter ein, so daß am Ostermontage schon mehrere Brücken fön waren, und die Ahr acht Tage hindurch sehr groß war wegen dem vielen Eifeler Schnee u(nd) die Wiesen und Weiden ungemein zerstörte... Die Weinberge waren im Thal ganz verfroren. und auch in und auf den Bergen die Augen sehr verletzt. Die arbeit war überhäuft, den wegen des nassen 9ber (= November) waren wenige Weingarten gegraben, u(nd) noch vieles Feld zu bauen u(nd) mehrere Leute konnten ihre Saat nicht völlig beendigen. Die Saaten wurden durch das viele stehende Schneewasser. (un)d nächtlichen Frost sehr beschädigt.

Es wurden noch anfangs May als der Busch schon grünte, noch viele Rahm (=Weinbergspfähle) gemacht, weil der Übergang (über die Ahr) auf 3 Wochen gesperrt war. Mit dem abschneiden der Weinstöcke wartete man jedoch ab bis zum May, weil einige Stöcke oder Reben todt. andere noch grün waren... Im May trieben die Weinstöcke zum Erstaunen gehörig aus u(nd) brachten ziemlich viel Schein mit; Junywarnaß und kühl u(nd) auf den 3ten July gab es helles Wetter, daß die Hitze auf 26 u(nd) 27 Grade kam, u(nd) die Trauben schnell durch die Blüthe gingen. jedoch hat der Wolf an unseren Plätzen viel ausgefressen... jedoch hingen die Trauben um St. Anna allgemein wo auch die Korn=Erndte erst anfing u(nd) bis zu Anfang September mit Hawer fön dauene: 7ber ("September) u(nd) 8ber (=0ktober) waren fruchtbare Tage. u(nd) die Weinlese begann mit dem 21ten 8ber, wo wir noch 3 Ohm 15 Vtl (=Viertel) Trauben erhielten, verkauft pe Vil zu l Thir (= Thaler) 5 Sgr (=Silbergroschen), der Wein war süß u(nd) gleich drinkbar."

Man kann in der heutigen Zeit kaum mehr ermessen, wie sehr die Menschen damals vom Wetter abhängig waren. mit welchen Stoßseufzern gen Himmel sie früh am Morgen ihr mühseliges Tagewerk begannen. Unvorstellbar heute auch. daß unsere Vorfahren jeden Morgen vor der Feldarbeit die Heilige Messe besuchten. beim Mittagsläuten auf dem Felde einen Angelus beteten und selbstverständlich an Feld-, Bitt- und Hagelprozessionen teilnahmen. Die Natur bestimmte ihr Leben unerbittlich, sie waren ihr ausgeliefen. Man konnte den Schöpfer nur bitten, gnädig zu sein, indem man auch seine für die Landwinschaft zuständigen ..Mitarbeiter", die vielen Heiligen, inbrünstig verehrte.

Die hier beschriebenen Verhältnisse treffen für diesen Zeitraum mit Sicherheit nicht alleine für die Gemeinde Wadenheim zu. sondern auch für viele weitere Gemeinden an der Ahr und in der Eifel. So verzeichnen wir in dieser Zeit in der Eifel eine große Auswanderungswelle in die Vereinigten Staaten, von der seltsamerweise aber Wadenheim nicht betroffen ist. Es ist bis heute nicht geklärt, was die Wadenheimer trotz ihrer bitteren Armut auf Auswanderung verzichten ließ. Waren sie vielleicht durch den Ausverkauf ihrer Güter nicht mehr in der Lage, Agentengebühren und Schiffspassagen bezahlen zu können?

Gesittung, Fleiß, Sparsamkeit und Wohlstand finden Einzug

Nach Erbohrung der Heilquellen und der Gründung des „Bades Neuenahr bei Beul" begann mit der ersten Kursaison im Jahre 1859 ein bescheidener Wohlstand Einzug zu halten. ...... indem an

Stelle elender, verfallender Lehmhütten mit schlecht unterhaltenen Strohdächern''. .9)

jetzt stattliche neue Gebäulichkeiten getreten sind. . . . und daß andererseits den Bewohnern der ganzen Gegend sich eine ergiebige Erwerbsquelle eröffnete und so der Bettel, der früher wegen Arbeitslosigkeit fast allgemein und eine Landplage der Umgegend war. fast gänzlich verschwunden und statt der sonst so auffallenden Verwilderung und Zügellosigkeit eines großen Theils der Bewohner Gesittung, Fleiß. Sparsamkeit und Wohlstand Einzug gefunden." 10)

Das erweckte allerdings auch den Neid mancher unserer kurkölnischen Mitbürger „ob(erhalb) der (Grenz)Steine", die ihre jeuischen Nachbarn in Erinnerung an deren viele Bitten um Zuschüsse nun wenig schmeichelhaft, insbesondere nach deren Lossagung von der Bürgermeisterei Ahrweiler im Jahre 1875, als „Neuenahrer Huhsicker" bezeichneten. Es sei den Nachbarn mit milder Nachsicht verziehen, da sicherlich so mancher Kurstädter nun auch mit seinen Gästen in der Vornehmheit wetteiferte.

Quellenangaben:

  1. Protokoll der Gemeinderatssitzung vom 28.11.1852, Eingabe an die regierung mit der Bitte um weitere Zuschüsse zur Ahrregulierung.

  2. Die "Jeulsche" sind die Bewohner des jülischen (im dialekt = jeulschen) Gebietes im unteren Ahrtal.

  3. Die Protokolle der Gemeinderatssitzungen von Wadenheim beginnen mit dem 3. Juni 1846 und enden mit dem 20. Mai 1876. Sie sind in drei Bänden niedergeschrieben.

  4. Protokoll vom 13.11.1853

  5. Protokoll vom 23.08.1846

  6. Protokoll vom 17.01.1847

  7. Sachverhalt dieses Abschnittes aus den Protokollen vom 02.04. bis 13.07.1847

  8. Annotationsbuch des Antonius Witsch, Gemeindeschreiben vor und stellvertretender Bürgermeister (adjoint) während der napoleonischen Besatzungszeit. Seine Familie gehörte zu den meistbegüterten der Gemende Wadenheim. Die Eintragungen beginnen mit dem Jahr 1796 und umfassen sowohl familiäre Beurkundungen (Taufen etc.) als auch Ausgaben und Einnahmen, insbesondere Verträge mit Knechten und Mägden von Lichtmeß zu Lichtmeß. Darüber hinaus werden Vieheinkäufe und -verkäufe dargestellt, sowie auch Wetter- und Erntebeschreibungen geliefert (wohl für die Regierung in Coblenz), allerdings nur selten in der hier zitierten Ausführlichkeit.
    Ich danke Matthias Odenkirchen aus Bad Neuenahr, der mir dieses Annotationsbuch zur Auswertung zur Verfügung gestellt hat. Der hier zitierte Text wurde leicht gekürzt und mit Anmerkungen bzw. Ergänzungen in Klammern versehen.

  9. Über die damaligen Wohnverhältnisse berichtet sehr anschaulich und mit erschreckender Deutlichkeit Kreisphysikus Dr. Velten, zitiert von Kempkes; Volkswohlfahrt im Kreise Ahrweiler zur Zeit der alten Landesherren, in: Jahrbuch des Kreises Ahrweiler 1938

  10. Ahrweiler Zeitung, 19. Juni 1868