Segenssteine zur Zeitenwende

Wegekreuze bei Oberzissen, Hain, Spessart und Niederdürenbach

P. Bernd Schrandt SJ

„Segenssteine“ werden vier aufwendig gestaltete Wegekreuze in der Nähe der Orte Oberzissen, Hain, Spessart und Niederdürenbach genannt, deren hausförmige Nische von nach vier Seiten ausgerichteten, z.T. ineinander verschachtelten Kreuzen bekrönt ist. In augenfälliger Deutlichkeit wird die Funktion dieser Kreuzmäler vorgestellt, bei sakramentalen Flurprozessionen das Gefäss (Burse, Ziborium oder Monstranz) mit dem Leib Christi aufzunehmen, das nach dem römischen Rituale nur an einem entsprechenden Platz aufgestellt werden darf und mit dem nach den vier Himmelsrichtungen der Segen gespendet wird. Auf vier Stellen des Prozessionsweges verteilt, hat sich die Tradition des Flursegens bei der Fronleichnamsprozession bis heute erhalten.

Nischensteine als die ältesten Malsetzungen der Osteifel

Dass die grundsätzlich leeren Nischen an mittelalterlichen Kreuzen und Steinmalen aus dem Brauch der eucharistischen Flurprozessionen hervorgegangen sind, hat Kurt Müller-Veltin in seinem Werk über die mittelalterlichen Steinkreuze aus Basaltlava in den Kapiteln „Typologische Übersicht“ und „Kreuz und Sanktissimum“ eindrucksvoll dargelegt. Er spricht von „Kultmalformen im Dienst der eucharistischen Prozession“ (S. 13). Er bezeichnet den Nischenstein ohne Kreuz als „Urtyp“ des Basaltmals der Osteifel (S. 11). Zum ältesten Bestand gehörend, wird er wegen seiner Gestalt „Schöpflöffel“ genannt. Sein schlanker Schaft steckt oft in einem Mühlstein als Sockel, der ihm auch in Schräglage Halt bietet.

Die Segenssteine des Zissener Ländchens interessieren uns hier vor allem wegen des Zeitpunktes ihrer Entstehung und der Eigenart ihrer Datierung - angesichts des Jahres 2000, dessen Zahl nicht nur abergläubische Gemüter erregt, sondern auch die moderne Computertechnik in Atem hält, da veraltete Systeme mit der Deutung der beiden Nullen nicht fertig werden und „Datumsfallen zuzuschnappen drohen. „Daten-Gau“ nennen deutsche Fachzeitschriften den Absturz global vernetzter Computerdaten.

Malsetzungen zur Jahrhundertwende

Auffällig ist, dass die vier Segenssteine des Zissener Ländchens gerade um die Wenden zum 17. und zum 18. Jahrhundert errichtet wurden. Von 1599 stammt der Segensstein bei Oberzissen. Da die Nische sehr flach ist, wurde im Nachhinein vor dem Kreuzmal ein eigener steinerner Expositionstisch für die Monstranz errichtet. Noch 1927 war für dieses Kreuzmal die Bezeichnung „Segensstein“ im Volksmund üblich (Müller-Veltin, S. 67). Große Ähnlichkeit mit dem Oberzissener Segensstein zeigt jener vor dem Ort Hain zu Füßen der Burg Olbrück (Müller-Veltin, Abb. 176; Mehlhop, Abb. S. 2 und S. 33). Die Inschrift auf dem Kopfstück des senkrechten Balkens des Kreuzes über der Nische lautet: „16“, auf dem Querbalken: “0 MENS BEDENCK DAS ENT VON GOT DEIN HERT NIT WENT“. Müller-Veltin deutet die Jahreszahl als 16(00) oder (16)16. Obschon bei zwei Grabkreuzen in Mayen von (15)54 und (15)74 (Müller-Veltin, Abb. 237 und 259) gerade die Ziffern des Jahrhunderts weggelassen wurden, scheint die enge Verwandtschaft der Zissener Segenssteine untereinander dafür zu sprechen, dass hier die beiden Nullen weggelassen wurden.

Segensstein bei Oberzissen von 1599.

Das Problem mit der Null

Im Sinne des antiken Zahlbegriffs einer „aus Einheiten zusammengesetzten Menge“ (Euklid, VII. Buch, Definition 2) wurde die Null bis in die Neuzeit hinein nicht als Zahl angesehen. In indischen Rechenhäusern begann man wohl zuerst damit, eine leere Kolonne im Abakus (Rechentabelle) mit einem Punkt zu bezeichnen. Der griechische Astronom Ptolemäus (2. Jh. n. Chr.) scheint das Symbol 0 (von oudén = nichts) für Leerstellen in Zifferndarstellungen einer Zahl eingeführt zu haben. Über die Araber kam das Rechnen mit der Null in die europäische Mathematik und setzte sich erst durch, als mit der Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg (1400-1468) die arabischen Ziffern die römischen Zahlen ablösten. Unsicherheiten im Umgang mit der Null und in der Gestalt der arabischen Ziffern verschwanden erst im Laufe des 17. Jahrhunderts. Beredtes Zeugnis dieser Unsicherheit geben die Zahlen datierter Basaltkreuze von vor 1600.

In diesen Zusammenhang fügt sich der Segensstein aus Spessart von 1600 (Müller-Veltin, Abb. 177). Groß und unbeholfen ist die Jahreszahl in den Querbalken des Kreuzes eingemeißelt, das die hausförmige Nische krönt: die 1 gleicht einer oben offenen 8, die 6 ist spiegelverkehrt, die beiden Nullen sind auffällig klein und ungleich geschrieben.

Segensstein in Niederdürenbach von 1699

Der 100 Jahre jüngere Segensstein in Niederdürenbach ist schon von seinem Material her außergewöhnlich: Der weiche Tuff ermöglicht maßwerkartige Muster und geometrische Einritzungen auf den Flächen, die noch Spuren einer Farbfassung aufweisen. Die rechte Außenwand der Nische ist mit einem Text versehen, worin die Gemeinde als Stifter genannt wird. Drei Seiten des turmförmigen Aufsatzes tragen Kreuze, die Rückseite ist schmucklos, da der Segensstein vor einem Berghang steht. Im Frontgiebel des Turmaufsatzes befindet sich die Jahreszahl 1699 und darunter - höchst außergewöhnlich - das Datum (ohne Punkt) 24 MEI (Abb. und Text bei Mehlhop, S. 33).

Der 24. Mai 1699 war der Sonntag vor dem Fest Christi Himmelfahrt (Introitus-Anfang: Vocem iucunditatis), d.h. der Sonntag vor den Bittprozessionen. Der Segensstein wurde also in der dritten Maiwoche errichtet, am Sonntag, den 24. Mai, eingesegnet und an einem der drei folgenden Tage, oder an allen drei Tagen vor Christi Himmelfahrt in die Bittprozessionen mit einbezogen, die damals als Flurprozessionen mit dem Allerheiligsten begangen wurden.

Die frühesten Datierungen auf Eifeler Basaltmälern in römischen Zahlen

Die frühesten Datierungen von Steinmälern in der Eifel finden wir an den vier Nischensteinen von 1461 und 1462 sowie von 1472 und 1473 im Ortsgebiet von Obermendig. Alle vier nennen als Stifter einen Clais Beligen, von dem weiter nichts bekannt ist. In ihrer formalen Gestalt wie in ihren Symbolen und Gebetstexten zeigt jeder von ihnen große Eigenständigkeit, sie lassen aber eine gemeinsame Werkstatt erkennen. Auf allen vier Beligen-Mälern ist die Jahreszahl in römischen Ziffern - beim ältesten eingemeißelt, bei den übrigen erhaben herausgearbeitet. Die beiden jüngeren Beligen-Mäler zeigen auch Monatsangaben: das sog. Golokreuz an der Straße von Thür nach Kruft: datum anno domini MCCCCLXXII im austmanot (im August), der Nischenkopf mit Antoniuskreuz: datum anno domini MCCCCLXXIII in dem meie (im Mai). Müller-Veltin widmet den Beligen-Mälern ein eigenes Kapitel (vgl. auch Abb. 142-153). Auf verschiedenen Seiten der Mäler sind Kreuze in zwei gleichen, sich wiederholenden Formen eingemeißelt als Stabkreuz sowie als lateinisches Kreuz mit rautenförmigen Knospen an den Balkenenden. Diese Kreuze müssen in besonderer Weise als Schutz- und Abwehr Symbole gedeutet werden, wie auch den Kreuzen der Segenssteine im Zissener Land ein solch apotropäischer Sinn nicht abgesprochen werden kann. Schließlich ist jeder Segen, zumal der sakramentale Segen in die vier Himmelsrichtungen, eine mächtige Geste des Schutzes durch den gegenwärtigen Erlöser und der Abwehr finsterer Mächte. Das eindrucksvollste der vier Beligen-Mäler, das sog. Golokreuz, darf mit seinem in der Volkssprache wiedergegebenen Salve Regina „auch in einem größeren räumlichen Zusammenhang als eines der bedeutendsten religiösen Wegmäler des Spätmittelalters bezeichnet werden“ (Müller-Veltin, S. 55). Zur Außergewöhnlichkeit der Mäler gehört eben auch die Tatsache ihrer frühen Datierung und zwar in römischen Zahlen und z.T. mit Monatsangaben.

Segensstein bei Hain von 1600 oder 1616

Segensstein in Spessart von 1600

Segensstein bei Oberzissen von 1599

Jahreszahlen auf Basaltkreuzen der Osteifel ab 1494 in arabischen Ziffern

Kurz vor 1500 wird es in der Osteifel allgemein üblich, Kreuze und Steinmale zu datieren, und zwar ausschließlich mit Jahresangaben in arabischen Ziffern. Im Kreuzschlägergebiet um Mayen und Mendig hat sich also die neue Schreibweise der Jahreszahlen erstaunlich rasch durchgesetzt, - im Gleichklang mit Datierungen bei großen Meistern jener Zeit: In seinem gesamten graphischen Werk datiert Albrecht Dürer (1471-1528) mit Jahresangaben in arabischen Ziffern, mit Ausnahme der Portraits Albrechts von Brandenburg (1523) und Friedrichs des Weisen, des Kurfürsten von Sachsen (1524): hier sind die römischen Ziffern der Jahresangaben integraler Bestandteil der Tafeln mit den in lateinischer Sprache verfaßten Ehrentiteln der Dargestellten. Ebenso datiert Hans Holbein (1491-1543) seine Portraits mit arabischen Ziffern, ausgenommen der 1527 in klassischer Feinheit ausgeführten Darstellung des Lordkanzlers Thomas Morus (1480-1535).
Die ältesten mit arabischen Ziffern datierten Steinmäler der Osteifel befinden sich in Wassenach. Ein schlichtes Grabkreuz, in die Kirchenmauer eingelassen, trägt die Jahreszahl 1494. Das älteste, mit arabischen Ziffern datierte Nischenmal könnte das sog. Schafskreuz in der Wassenacher Flur sein, auf dem A 0 94 (anno 1494) zu lesen ist (Abb. und Text bei Mehlhop, S. 1 und 42). Wohl als 1504 zu lesen ist die urtümliche Zahl auf dem sog. Kolbschen Kreuz, einem mit Wappen ausgezeichneten Nischenmal, dessen Standort ehemals zu Wassenach, heute zu Andernach-Eich gehört (Mehlhop, S. 42f Müller-Veltin, Abb. 34 und 223).

Malsetzungen zu Jubiläumsjahren? 

Obschon viele Nischenmale, Segenssteine und Hochkreuze der Osteifel in zeitlicher Nähe von Jubiläumsjahren errichtet wurden, fehlen Hinweise, dass das Jubiläumsjahr oder die Vorbereitung auf ein solches Anlaß der Errichtung war. Die von Müller-Veltin dokumentierten Inschriften offenbaren, wie sehr die Menschen früherer Zeiten, mangels Informationen und Reisemöglichkeiten, auschließlich vom Schicksal ihrer Familie durch Leben und Tod ihrer nächsten Angehörigen geprägt waren und aus Angst um ihr ewiges Heil in Werken der Frömmigkeit die Nähe des Kreuzes Christi und die Fürsprache seiner Mutter Maria suchten. Als aus dieser Heilsnot heraus das erste römische Jubiläumsjahr 1300 mit größtem Eifer angenommen wurde, ging man daran, 50 Jahre später ein weiteres Jubeljahr auszurufen gemäß dem im 3. Buch Mosis (Levitikus 25, 1 - 13) vorgeschriebenen Zeitraum für ein Erlaßjahr: nach 7 mal 7 Jahren soll durch das Widderhorn (hebr. jobel) ein Jahr des Schuldenerlasses und der feierlichen Gottesdienste ausgerufen werden. Dass 1350 die Päpste schon seit vier Jahrzehnten in Avignon residierten, minderte keineswegs den Eifer der Christen, in Rom die Kirchen über den Gräbern der Apostel und Märtyrer zu besuchen und durch Sakramentenempfang und den Willen zur Umkehr Ablässe, d.h. Nachlass von Sündenstrafen vor Gott zu erlangen.

Im Heiligen Jahr 1500 war das nicht anders, als in einer Zeit des Umbruchs nach Entdeckung der Neuen Welt durch Christoph Columbus in Rom der Renaissancepapst Alexander VI. regierte (1492-1503). Unbelastet von den Skandalberichten, die die Geschichtsbücher aller Zeiten so interessant machen, besuchten Pilger die Ewige Stadt auch außerhalb der Jubiläumsjahre - wie Martin Luther, der 1511 im Rahmen einer Mission seiner Ordensoberen vier Wochen in Rom weilte und fromm viele Kirchen und die Scala Sancta besuchte, um der Ablässe teilhaft zu werden.

Die Auseinandersetzungen in der Kirche mit den geistig-politischen Strömungen der jeweiligen Epochen verliefen oft heftig und für uns Heutige schwer begreiflich. Ausgerechnet im Jahr 1600 endete Giordano Bruno in Rom auf dem Scheiterhaufen. Das Heilige Jahr 1700 war überschattet vom Tod des integren Papstes Innozenz XII.

Die Beschäftigung mit der Geschichte lässt uns mit den Ängsten der Zeit besser umgehen. Das Glaubenszeugnis unserer Vorfahren hilft, Horizont und Richtung nicht aus den Augen zu verlieren. Die hoch aufgerichteten Basaltkreuze und Segenssteine unserer Heimat sprechen für alle Generationen: In der Ausrichtung auf Gott wird jedes Jahr zum Jahr des Heils. An der Schwelle zum dritten Jahrtausend will Papst Johannes Paul II. durch die Feiern des Jubiläumsjahres 2000 Völker und Religionen zum Frieden und zur Versöhnung führen. Dabei ist die Orientierung der Jahre am Zeitpunkt der Geburt Christi als ein auch heute noch gültiges Symbol zu verstehen, unabhängig davon, dass der Mönch Dionysius Exiguus, der im Auftrag von Papst Johannes I. (523 - 526) die neue Zeitrechnung aufstellte, sich um mindestens 4 Jahre verrechnet hat; denn nach dem Matthäusevangelium ist Christus zu Lebzeiten Herodes des Großen zu Bethlehem geboren, - nach unserer Zeitrechnung starb Herodes jedoch im Jahr 4 vor Christi Geburt (Lebensdaten des Herodes: 73 - 4 v. Chr.).

Dem Jahr 2000 geht am 11. August 1999 eine Sonnenfinsternis voraus, Grund genug zu Ängsten und Aberglaube für sensible Seelen, obschon alle 18 Jahre und 11 Tage (Saros-Periode) sich ähnliche Konstellationen wiederholen und im Jahr 2000 der Mond sogar viermal auf anderen Breiten unseres Globus’ für einige Minuten die SDonne verdeckt.

Weil in seinen apokalyptischen Versen von einem Jahr mit drei Neunen die Rede ist, hat heutzutage Nostradamus Hochkonjunktur, alias Michel de Nostre-Dame (1503 - 1566), Arzt und Astrologe am Hof der französischen Königin Katharina Medici. Das ihm gewidmete Museum in Salon-de-Provence in Südfrankreich ist z.Zt. überlaufen. Zukunftsangst und Gottvergessenheit bestimmen unsere Tage. Da gilt heute wie vor 400 Jahren die Mahnung des Segenssteins von Hain: „0 Mensch bedenk das End', von Gott dein Herz nicht wend'.“

Quellen und Literatur.