Der „Koloss von Oberlützingen"

Verschwundene Mühlsteinbrüche am Herchenberg

Fritz Mangartz

Wie der „Koloss von Oberlützingen" zu seinem Standort und zu diesem Namen kam

In der Olbrück-Rundschau vom 22.3.2001 erschien unter dem Titel „Der Koloss von Oberlützingen" ein Leserbrief . Dieser drückt einerseits die Meinung aus, bei dem Mitte März 2001 in Burgbrohl-Oberlützingen aufgestellten „Findling" vom Herchenberg handele es sich um ein „geologisches und millionenaltes Objekt der Zeitgeschichte". Andererseits wird in dem Leserbrief vorgeschlagen, die an den „Koloss" grenzenden Häuser abzureißen und den gesamten Ort unter Denkmalschutz zu stellen.

Tatsächlich handelt es sich beim „Koloss von Oberlützingen" um das letzte vorhandene Zeugnis eines jahrhundertealten Erwerbszweiges. Er stammt aus den alten Mühlsteinbrüchen des Herchenberges, welche mittlerweile längst dem Lava-Abbau zum Opfer gefallen sind, und gibt mit seinen Spuren von Mühlstein-Ablösungen ein Bild längst untergegangener Arbeitswelten. Jedoch, selbst aus Sicht des Fachmanns für technische Bodendenkmäler, erscheint ein Abriss von Teilen Oberlützingens zur Würdigung dieses Denkmals voreilig.

Angebracht ist aber eine Beschreibung, wie der „Koloss" seinen Weg vom Herchenberg nach Oberlützingen fand: Der Verdienst, die Mühlsteinbrüche des Herchenberges gegen Ende des 20. Jahrhunderts vor der Vergessenheit bewahrt zu haben, gebührt neben Kurt Degen, Burgbrohl, und Rainer Hippchen, Oberlützingen, auch Fridolin Hörter, Mayen. Letzterer erhielt entsprechende Hinweise durch Hans Hoffmann, Mayen-Hausen, welcher die sichtbaren Spuren der Mühlsteingewinnung auf seinen botanischen Streifzügen fotografiert hatte. Nachdem alle Versuche von Seiten des Naturschutzes, dem Abbau des Herchenberges Einhalt zu gebieten, gescheitert waren, fiel nach und nach der ganze Vulkan und mit ihm die alten Brüche dem Bagger zum Opfer. Seit über 30 Jahren lag der „Koloss von Oberlützingen", ein vom Bagger losgerissener Rest einer Abbauwand, in der Herchenberg-Grube. Zwischenzeitlich war er sogar im Abraum verschwunden, bis er Mitte der 1990er Jahre geborgen und in der Mitte der Betriebseinfahrt aufgestellt wurde. Kurz danach machte Carl-Josef Weiler, Burgbrohl, auf einer Oberlützinger Bürgerversammlung erstmals den Vorschlag, den „Koloss" in der Ortsmitte aufzustellen. Ende der 1990er Jahre fand dieser Vorschlag Unterstützung – auch finanzielle – durch den Gartenbauverein Oberlützingen. Auf Betreiben des Burgbrohler Bürgermeisters und seines Beigeordneten wurde der Stein mit Unterstützung der Firma Fuchs vom Herchenberg abtransportiert und in Oberlützingen aufgestellt. Der dabei eingesetzte 80-Tonnen-Kran konnte den Stein, dessen Gewicht ca. 30 t betrug, gerade eben bewältigen. So ist der „Koloss von Oberlützingen" heute Mittelpunkt einer neu geschaffenen Grünanlage, seine Geschichte wird durch drei Schautafeln anhand von Fotos und Lebensbildern erläutert.

Abtransport des „Koloss von Oberlützingen" aus der Lavagrube Herchenberg. Mit einem 80-Tonnen-Kran der Firma Fuchs wurde der ca. 30 t. schwere Stein auf einen Tieflader gehoben.

Der „Koloss von Oberlützingen": Das letzte Zeugnis der alten Mühlsteinbrüche vom Herchenberg an seinem neuen Standort im Dorf. Die gesamte Front des Steins ist von Arbeitsspuren der alten Steinbrecher überzogen.

Die Lebensbilder auf den Schautafeln entstanden nach Fotos, welche von Bürgermeister und 1. Beigeordnetem Burgbrohls geschossen wurden. Beide simulierten hierfür die einzelnen Arbeitsschritte des alten Abbaus, die von diesen „Simulationen" gemachten Aufnahmen dienten als Vorlagen der Zeichnungen auf den Schautafeln.

Der Herchenbergvulkan und seine Bodenschätze

Der Herchenberg gehört zu den quartären Vulkanbauten der Osteifel. Sein basaltischer Schlackenkegel erhob sich etwa drei Kilometer nordwestlich von Burgbrohl oberhalb des nördlichen Brohltalhanges. Vor mehreren hunderttausend Jahren (neben verschiedenen anderen Datierungen liegt z.B. ein Ar/Ar-Laser-Datum von +/– 480000 Jahren vor) förderte der Herchenberg-Vulkan zunächst Lapillitephra und Schlacken. Nach einer Ruhepause, welche sich über zwei Kaltzeiten und eine Warmzeit erstreckte, erfolgte ein erneuter Ausbruch. Dabei wurden große Teile des alten Vulkangebäudes weggesprengt und nebengesteinsreiche Pyroklastika, Schlacken, Lapilli und Kugeltuffe gefördert. Unter anderem im Gipfelbereich des Herchenberges verschweißten die ausgeworfenen Schlacken, welche noch glutflüssig bis plastisch herabregneten, zu massiveren Gesteinspartien. Diese, aufgrund ihrer Entstehung sogenannten „Schweißschlacken", waren das Ziel des alten Mühlsteinabbaus am Herchenberg. Neben verschiedenen weiteren Bodenschätzen waren im Umfeld des Herchenberges z.B. auch Tonlagerstätten abgebaut worden. Erst aber der intensive Lava-Abbau in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab dem Herchenberg sein heutiges Gesicht: Statt eines Vulkankegels präsentiert sich zwei Kilometer westlich von Oberlützingen nunmehr ein tiefes Loch. Der Abbau hat dabei interessante vulkanische Strukturen freigelegt, welche vorher verborgen waren, so z.B. die in den Vulkanbau eingedrungenen Lavagänge. Daher ist der Herchenberg auch als Punkt H 5 in die Route H des Vulkanparks Brohltal/Laacher See aufgenommen worden.

Die alten Mühlsteinbrüche des Herchenberg-Vulkans

Über die Mühlsteingewinnung am Herchenberg wird bereits in den Jahren 1790, 1858 und 1913/14 berichtet, vornehmlich in geologischer Fachliteratur. Auf einem „Plan der Herrschaft Buchholz 1779" ist im Südwesten des Herchenberges über einer Öffnung im Berg die Signatur „Mühlen-Steinbruch" eingetragen. Hier fand Fridolin Hörter einen zerbrochenen Mühlsteinrohling. Im Raum Gerolstein ist ein Abbau von Schweißschlacken-Mühlsteinen bereits für das 16. Jahrhundert nachgewiesen, an der Burg Freudenkoppe bei Neroth sogar für das 14. Jahrhundert. Ob auch unsere Brüche bereits im Mittelalter betrieben wurden, lässt sich vor Ort nicht mehr nachprüfen, allenfalls könnte die Auswertung von entsprechenden Urkunden etwas erbringen. Man kann jedoch ohne Bedenken vermuten, dass auch am Herchenberg bereits seit dem Mittelalter eine Mühlstein-Gewinnung stattgefunden haben könnte. Der Fund eines halbfertigen römerzeitlichen Mörsers (mittlerweile leider verschollen) in den 1960er Jahren belegt, dass die Schweißschlacken des Herchenbergs bereits zur Römerzeit gewonnen wurden. In der Fachliteratur der 1930er Jahre wird auch tatsächlich knapp von römischen Steinbrüchen am Herchenberg berichtet. Diesem Hinweis wurde aber nie näher nachgegangen.

Auf der topographischen Karte von 1955 sind die Mühlsteinbrüche in den Schweißschlacken des Gipfelbereichs vom Herchenberg noch eingetragen. Demnach befanden sich die meisten der gut ein halbes Dutzend Brüche in einer Reihe direkt am alten Weg von Oberlützingen nach Waldorf. Dies kann zurzeit der Gewinnung nicht anders gewesen sein: Ein einziger Weg als Zufahrt für zahlreiche Brüche war sicher eine kostengünstige Erschließung.

Der Herchenberg auf einem Ausschnitt aus der topographischen Karte von 1955

Auf Fotografien der 1950er bis 1970er Jahre ist der unterirdische Abbau im Bereich unterhalb des Gipfelkreuzes zu erkennen. Im Inneren des Stollens führte ein Schacht nach oben. An den Abbauwänden links vor dem Stollen sieht man die bogenförmigen Spuren der Mühlsteinablösungen, die Fotomontage gibt einen Eindruck von der Arbeitsweise der Steinbrecher.

Die Mühlsteinbrüche auf dem Gipfel des Herchenberges bei Burgbrohl um 1970: Neben Mühlsteinablösungen des Tagebaus (links) ist unter dem Gipfelkreuz der Abbaustollen zu erkennen.

An der sogenannten „Herchenbergs Juffer" folgte der alte Weg nach Waldorf der Bahn, welche die Steinbrecher in den Hang getrieben hatten. Um die „Juffer", eine durch den Mühlsteinabbau entstandene Felsformation, rankte sich eine z.B. von Kurt Degen beschriebene Sage.

Der „Koloss von Oberlützingen":
Letztes Zeugnis von den Mühlsteinbrechern am Herchenberg

Der mittelalterliche Mühlsteinabbau erfolgte in mehreren Arbeitsschritten, welche sich bis in das 19. Jahrhundert kaum änderten. Die meis-ten dieser Arbeitsschritte kann das geübte Auge am „Koloss von Oberlützingen" noch ausmachen, sie sollen hier beschrieben werden:

Zunächst wurde der Durchmesser des Steins „angerissen" (Fachausdruck für Anzeichnen). Dazu bediente man sich wahrscheinlich eines sog. „Mühlsteinzirkels", einer einfachen aber nützlichen Konstruktion aus einer Haselrute und einer Schnur.

Abbau eines Schweißschlackenmühlsteins: Herausschlagen der zylindrischen Grundform

Jetzt folgte das „Anbeizen" des Durchmessers. Das heißt, mit einer sogenannten „Zweispitz", einem klassischen Steinbruchwerkzeug, hat man als Hilfslinie eine schmale Rille ausgeschlagen.

Dasselbe Werkzeug diente danach auch zum Herausschlagen der flachen Zylinderform des Mühlsteinrohlings. Die strichförmigen Hiebspuren sind auf unserem Stein erhalten.

Anschließend wurde die im Fels steckende Seite des Rohlings hinterfangen. Ringsum verkleinerte ein Schlitz („Schrotrille") die noch haftende Fläche, ihr unteres Viertel ist am Stein sichtbar.

Jetzt ging es an das „Abschroten" des Rohlings. Ein Arbeiter führte einen gestielten Keil durch die vorbereitete Schrotrille. Auf diesen Keil schlug ein zweiter Arbeiter so lange, bis der Mühlstein abriss. Nach dem Entfernen der Hölzer, welche ein unkontrolliertes Herausbrechen verhindert hatten, fiel der Stein auf ein Bett aus Kleinschlag.

Ein Arbeiter stellte mit einem Hammer anhand des Klangs fests, ob der Rohling auch „gesund" (=ganz, ohne Stich) geblieben sei. War dies der Fall, wurde der Mühlstein nun fertiggestellt. War er aber nicht „gesund", so kam der unbrauchbare Rohling auf die Schutthalde. Von der im Lebensbild dargestellten Mühlsteinablösung ist am „Koloss von Oberlützingen" nur noch ein Teil erhalten. Weitere Mühlsteinablösungen und der moderne Abbau haben den Rest abgeschnitten. Unten sind in dem Bereich, wo der Mühlstein seitlich freigehauen wurde, noch die strichförmigen Schlagmarken der Zweispitzen zu erkennen. Darüber liegt als nach oben offener Bogen der Rest der Schrotrille. Die oberhalb diese Bogens liegende Aushöhlung ist die Stelle, wo der Rohling abriss.

Schweißschlacken-Mühlsteinbrüche der Eifel

In der gesamten vulkanischen Eifel gibt es Dutzende von Mühlsteinbrüchen in Schweißschlacken. Gut 30 dieser Brüche weisen unterirdische Gewinnung auf. Dafür mag es zwei Gründe gegeben haben: Zum einen waren nicht immer alle Schweißschlackenpartien eines Vorkommens gleich gut verfestigt. So ist anzunehmen, dass man gute Partien im Untertagebau verfolgte. Zum anderen ermöglichte der unterirdische Abbau ein geschütztes Arbeiten auch während der kälteren Jahreszeit. Dies war die einzige Zeit im Jahr, während der die Landwirtschaft als Haupterwerbszweig ruhte und so genügend Arbeiter zur Verfügung standen. Schweißschlacken­-Mühlsteine sind z.B. aus zahlreichen Getreidemühlen der Eifel bekannt und dienten dort wegen ihrer groben Struktur wohl eher als Schrotgänge. Hinweise auf den Einsatz von Schweißschlacken finden wir allerdings genauso für Lohmühlen. In diesen Mühlen wurde Eichenrinde zur Herstellung von Gerberlohe aufbereitet. Diese benötigte man früher für die Gerbung von Leder.

Abbau eines Schweißschlackenmühlsteins: Der abgeschrotete Rohling wird anhand seines Klangs auf mögliche „Stiche" untersucht.

In der Osteifel waren wohl der Herchenberg und der Hochstein bei Obermendig die wichtigsten unterirdischen Schweißschlacken-Brüche. Die Genovefahöhle am Hochstein ist in unserer Umgebung der letzte erhaltene Abbaustollen, ganz ähnlich dem verschwundenen Stollen des Herchenbergs. Auch der durch den Abbau entstandene steile Hohlweg, welcher zur Genovefahöhle führt, spiegelt mit seinen seitlichen Abbaunischen eine Situation wieder, wie wir sie ähnlich vor ein paar Jahrzehnten noch am Herchenberg vorfanden. Wer also nun neugierig darauf geworden ist, wie der alte Abbau am Herchenberg ausgesehen haben mag, dem sei ein Besuch des Hochsteins bei Obermendig empfohlen. Im Bereich um die Höhle finden sich Dutzende von Abbaustellen, Mühlsteinablösungen und Halden. Oberhalb der Genovefahöhle hat man einen schönen Blick auf den Laacher See und andere Vulkane der Osteifel, so z.B. auch auf die Ruine des Herchenberges. Sollten vor mehreren hundert Jahren an Hochstein oder Herchenberg Feuer für ein warmes Mittagessen gebrannt haben: Die Mühlsteinhauer des einen Vulkans hätten vielleicht die Rauchsäule ihrer Kollegen vom anderen Vulkan gesehen!

Literatur: