„Er winkte immer noch einmal vom Ende der Straße..."

Lambert Schmitz aus Altenahr, vermisst seit 1943 in Stalingrad, – Eindrücke und Gedanken seiner Nichte auf dem Soldatenfriedhof Rossoschka/Wolgograd

Hildegard Therese Schmitz

as Schicksal der Familie Schmitz aus Alten-ahr ist geprägt durch den II. Weltkrieg. Wenn diesem Schicksal hier nun nachgegangen wird, so deshalb, weil es kein Einzelfall ist, weil viele der Leser und Leserinnen Züge der eigenen Familiengeschichte darin wiederfinden können und weil es beispielhaft ist für das Leben einer einfachen Familie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es ist eine Zeit, die Monarchie, Demokratie und Diktatur kommen und gehen sah, die wirtschaftlich geprägt war durch eine große, weltweite Wirtschaftskrise und die in die zukünftige Geschichte hinein auf Jahrhunderte hin gebrandmarkt sein wird durch die beiden großen Weltkriege, durch die Konzentrationslager und die Vernichtung von Millionen von Menschen und durch die Atombombe.

Vertreibung und Flucht von Millionen Deutschen, der Verlust von Staatsgebiet, die Teilung des Landes durch den Eisernen Vorhang auf Jahrzehnte waren die Folgen für Deutschland. Deutschland selbst hatte viele Millionen Kriegstote zu beklagen. Was in nüchternen, anonymen Worten und Zahlen geschrieben steht, wurde als Schicksal getragen von Einzelnen und von den Familien, denen sie angehörten. Kaum eine Familie, die nicht betroffen war. Im Schicksal einer Familie wird die Geschichte einer Nation und einer Epoche konkret. Von daher ist es notwendig, Erinnerungen zu sammeln, Spuren nachzugehen und die Geschichte aufzuschreiben, damit nicht nur harte Zahlen, sondern lebendige Zeugnisse bewahrt werden.

Die Familie Schmitz aus Altenahr, der ich entstamme, umfasste sechs Personen, als der Krieg ausbrach. Drei nur blieben übrig, drei nur konnte ich kennenlernen.

Mein Großvater Anton war erklärter Gegner der Nationalsozialisten und hat sich als Postbeamter bis zuletzt geweigert, der Partei beizutreten. Schon 1933 hatte er gesagt: „Wenn der Hitler nur keinen Krieg macht!"

Lambert Schmitz *15.11.1920 als zweiter Sohn von Anton und Katharina Schmitz, geb. Linnerz aus Altenahr, seit 1943 vermisst in Stalingrad

Der älteste Sohn Paul, von Beruf Verwaltungsangestellter, fiel eine Woche nach Beginn des „Unternehmens Barbarossa", dem Krieg gegen Russland, am 28.6.1941 in Stalino, in der Ukraine. Im Januar 1943, kurz vor der Kapitulation durch Feldmarschall Paulus, erhielt die Familie Nachricht über den zweiten Sohn, Lambert, der in Stalingrad gekämpft hatte: vermisst. Der dritte Sohn Peter galt als in Frankreich vermisst, als im Frühjahr 1945 die amerikanische Armee in Altenahr einzog. An diesem Tag im Frühjahr 1945 warteten meine Großeltern zusammen mit vielen anderen Al-tenahrern im Keller des benachbarten CentralHotels. Nachdem die Geräusche vorüberfahrender Panzer nicht mehr zu hören waren, ging mein Großvater die Außentreppe hinauf, um nachzuschauen, ob das Haus auf der anderen Ahrseite den Einmarsch gut überstanden habe. Ein amerikanischer Soldat in der Nähe nahm eine Bewegung wahr und schoss. Mein Großvater erlitt einen Lungenschuss, wurde nach Hause gebracht und starb dort am nächsten Tag.

Vor seinem Tod bat er darum, den Soldaten holen zu lassen, der den Schuss auf ihn abgegeben hatte. Der junge amerikanische Soldat kam. Mein Großvater sprach mit ihm längere Zeit unter vier Augen. Niemand weiß, was sie sagten, der eine in Deutsch, der andere in Englisch, doch meine Tante berichtet vom Frieden, der anschließend das ganze Haus erfasste, und vom Leuchten auf dem Gesicht ihres Vaters, als er mit dem Beistand von Frau und Tochter starb.

Drei Tage später nahm der amerikanische Soldat an der Beerdigung teil, obwohl seine Einheit schon weitergezogen war.

Den Pass, den mein Großvater damals in seiner Brusttasche trug und den die Kugel durchschlug, hat mein Vater Peter, der 1947 aus englischer Gefangenschaft heimkehrte, an mich weitergegeben, und ich verwahre ihn im Gefühl tiefer Verbundenheit.

Mit der Erinnerung an diese Ereignisse im Gepäck reise ich nach Wolgograd, dem früheren Stalingrad, um dort den Spuren nachzugehen und an diesem Ort meinen im Krieg getöteten Familienangehörigen nahe zu sein. Eine der Fahrten vor Ort führt zum Soldatenfriedhof Rossoschka/Wolgograd, und ich habe Gelegenheit, der Einweihung des Friedhofs durch den Verein Deutsche Kriegsgräberfürsorge beizuwohnen.

Anton und Katharina Schmitz, geb. Linnerz aus Altenahr

Es ist mir beklommen ums Herz, als ich diese Erde betrete, die getränkt ist vom Blut tausender Soldaten, die hier ihr Leben ließen. Das alte Dorf Rossoschka existiert nicht mehr. Die Wohnhäuser und landwirtschaftlichen Gebäude wurden während der Kämpfe damals, im Winter 1942/43, dem Erdboden gleich gemacht. In zähen, harten Auseinandersetzungen wurden die deutschen Truppen langsam in Richtung Stadt zurückgedrängt. Die Straße, auf der wir gekommen sind, war damals eine der Hauptstraßen, auf der sich die Truppen zurückzogen in einem endlosen Strom von Soldaten. Sie drängten zurück in Richtung Stadt in der Hoffnung, dort ein Flugzeug zu bekommen und noch ausgeflogen zu werden. Hier aber wurde in harten Kämpfen versucht, die vordrängenden Russen aufzuhalten; hier hatten die Soldaten ihren letzten Stützpunkt errichtet. Er wurde zum Brückenkopf für ihren Übergang ins Jenseits.

Ob er auch hier gekämpft hat, Lambert, der Bruder meines Vaters? Meine Tante beschreibt ihn als einen jungen Mann, der schon Heimweh bekam, wenn er am Montagmorgen für eine Woche zu seiner Arbeitsstelle in Bölingen aufbrach, das kaum zehn Kilometer vom Elternhaus entfernt lag. Er winkte immer noch einmal vom Ende der Straße. Und jeden Dienstag traf eine Karte ein: „Liebe Mutter…". Wie sehr muss er gelitten haben bei dieser Reise ohne Wiederkehr, Tausende von Kilometern und auf unabsehbare Zeit getrennt von zu Hause. Irgendwo in Stalingrad starb er.

Frühlingssonne liegt auf dem Land. Staffeln dünner weißer Wölken ziehen über den Himmel und verleihen seinem lichten Blau einen Hauch von Violett. Eine Herde rotbrauner Rinder weidet in einiger Entfernung unter Aufsicht eines Hirten in der Steppe. In die Hintergrundmusik, die der Steppenwind über die Landschaft weht, setzen Lerche und Kuckuck ihre Solistentöne.

Ein Bild und eine Sinfonie des Friedens.

An einem Stand kaufe ich ein Gebinde roter Nelken. Ich will es drüben, irgendwo in der Steppe, für Lambert hinlegen.

Doch zunächst gehe ich hinüber zum Ruhefeld der russischen Soldaten, das durch die Straße von der Anlage für die deutschen Soldaten getrennt liegt. Ein Pflasterweg führt zu einem Monument, der großen Darstellung eines Menschen: Der Kopf gesenkt, in der Vereinigung der nach oben, gegen den Himmel erhobenen Arme eine Glocke tragend, die keinen Klöppel besitzt, um ihre zu Stein gewordene, unvergängliche Klage und Mahnung hinauszuläuten. Um Verzeihung und Versöhnung bittende Hände haben Kränze gebunden und sie in Trauer und im Gefühl der Ohnmacht niedergelegt.

Die Granitsteine, die in Abständen die Ränder der beiden großen Grabfelder markieren, sind geschmückt mit je einem Kranz aus grünen Zweigen.

Die Erde hat noch keine Zeit erhalten, ein Samenkorn keimen zu lassen.

Nein, es ist noch kein Gras gewachsen über das, was hier geschah.

Russen, ihr Land, ihre Heimat verteidigend, von Deutschen getötet.

Deutsche, eingefallen in dieses Land, um eine Völkerwanderung gen Osten vorzubereiten, um Kornkammer und Ölfeld zu erobern, einem Wahn folgend.

Tötend und selber getötet.

Hier ist der Ort, der das Kriegsgeschehen zurückführt auf den einzelnen Menschen, auf Leben und Sterben, auf die Frage nach dem Sinn eines Lebens.

Einem Impuls folgend, lege ich meine Blumen auf dieses Feld.

Und habe das Gefühl, dies in Lamberts Namen zu tun.

Es ist mir, als stände er mit mir hier und sagte: „Lass uns die Blumen hierherbringen!

Lass sie uns den Soldaten geben, die durch unsere Hand starben!

Und ihnen sagen: ,Verzeih mir, Kamerad!’"

Mein Herz ist mir schwer, als ich die Wege entlang der Grabfelder gehe bis dorthin, wo die Steppe darauf wartet, sie wieder in ihre Weite aufzunehmen und mit ihren Pflanzen zu bedecken.

Gedenkkreuz auf dem Soldatenfriedhof Rossoschka/Wolgograd

Auf dem Gedenkplatz des deutschen Friedhofs wird eine stille Andacht gehalten. Hier erhebt sich ein einfaches, markantes Kreuz aus vier durch Querstücke miteinander verbundenen Eisenstreben, ein Kreuz wie eine Himmelsleiter, unten fest verankert, in der Höhe und an den beiden Seiten offen bleibend. Am Fuß des Kreuzes sind Kränze niedergelegt.

Damals wurde hier gekämpft und gestorben. Nun stehen Hinterbliebene am Fuß des Kreuzes, das errichtet ist für ihren Mann, Vater, Großvater, Bruder, Onkel und für den unbekannten deutschen Soldaten, der in Stalingrad starb, errichtet auch für Lambert Schmitz, meinen Onkel, der in Stalingrad gekämpft hat und vermisst ist.

Die Eltern, die an diesem Ort ihre Söhne zu betrauern hätten, sie sind so viele Jahre später nicht mehr in der Zahl der hier Versammelten vertreten.

Das Bild meiner Großmutter Katharina steigt in mir auf. Ich fühle mich stellvertretend für sie hier stehen. Unter wie vielen Kreuzen hat sie in ihrem Leben gestanden! Früh verlor sie die Mutter, zog die sechs jüngeren Geschwister groß, verlor im I. Weltkrieg zwei Brüder, im II. Weltkrieg zwei Söhne und den Ehemann. Eine Frau, hinterblieben am Fuß dieses Kreuzes.

Welche Möglichkeiten, in dieser Welt zu leben, blieben ihr? – Ein gebrochenes Herz, Leid, Krankheit – das Kriegskreuz aufgebürdet bis zu ihrem Lebensende, sie trug es durch viele Jahre in großer Geduld.

Ich denke an meinen Großvater Anton. Auch in seinem Namen stehe ich hier. Und während Psalmverse verlesen werden, lasse ich die Geschichte meiner Familie in mir aufsteigen. Und ich spüre, dass meine Großeltern und meine ganze Familie mit mir hier sind.

Viele schwere Lebensschicksale stehen an diesem Ort vereint, und doch jedes einzeln für sich. Die Worte des gemeinsam gesprochenen Vaterunsers kommen stockend aus schmerzerfüllten Herzen.

Die Menschen, die für die Feier so nah zusammenstanden und doch jeder so allein, zieht es nun auseinander. Jeder und jede geht seiner und ihrer Wege, die Wege derer waren, die hier starben.

(Ausführlicher zu lesen in: Hildegard Theressa Schmitz, Moskau-Wolgo-grad, Auf den Spuren des Krieges, Asbach 2001)