Ein gefährlicher Jugendstreich aus dem Jahre 1943

Hans Schmitz

Zur Zeit der Machtübernahme durch Adolf Hitler am 30. Januar 1933 war ich gerade drei Tage alt. Meine Erinnerungen an die sogenannte Friedenszeit vor dem Zweiten Weltkrieg sind darum wenig ausgeprägt. Ich kenne sie mehr vom Hörensagen und aus Erzählungen. Ich erinnere mich noch daran, dass wir in der Vorkriegszeit in unserer Nachbarschaft, wo es einen Volksempfänger gab, bei gewissen Anlässen die Führer-Reden hörten. An besonderen Gedenktagen der Nationalsozialisten (z.B. Führers Geburtstag) wurde die Hakenkreuzfahne „herausgehängt" (gehisst), falls man eine hatte. Diese Fahnen wurden nach dem totalen Zusammenbruch von geschickten Hausfrauen in Kleidungsstücke umgearbeitet, sofern man sie nicht schon vorher aus Angst vor den Amerikanern vernichtet hatte.

Einige Monate vor Beginn des schrecklichen Krieges, der in die Geschichte als der Zweite Weltkrieg einging, wurde ich in die einklassige Dorfschule meines Heimatortes Brenk eingeschult. Hier musste hinter dem Pult das Hitler-Bild hängen, aber das Kreuz blieb ebenfalls im Klassenraum.

Da ich zwei ältere Brüder im Kriegseinsatz hatte, davon war einer an der Ostfront, der andere in Nord-Afrika, interessierte ich mich schon sehr früh für die Ereignisse an den Kriegsschauplätzen.

Die täglichen Erfolgsmeldungen der Wehrmacht zu Lande, in der Luft und zur See wirkten auf die Bevölkerung wie „Aufputschmittel" und machten viele völlig blind für die Grausamkeit der Kriegsgeschehnisse.

Angesichts der Sieges- und Erfolgsmeldungen konnte sich kaum einer von einer gewissen Euphorie ausschließen. Besonders junge Menschen, die in diese Zeit hineinwuchsen, ließen sich schnell begeistern.

Kaum einer wusste damals, auf welch infame Weise der Krieg von Hitler angezettelt worden war. Auch diejenigen, die regelmäßig Feindsender abhörten, was streng verboten war, hatten von dem Umfang der Verbrechen an den Juden keine Vorstellung, denn es hieß, sie würden in Palästina zur Gründung eines eigenen Staates zusammengeführt.

Was man von Untaten und Verbrechen an politisch Verfolgten hörte, schob man auf Himmler und seine SS und ging sogar naiverweise davon aus, dass Hitler von solchen Dingen nichts erfuhr und sie auch nicht billigen würde. Oft hörte man den Satz: „Wenn das der Führer wüsste...".

Die Zahl der Gegner gegen den Größenwahnsinn des Hitler-Regimes nahm auf der ganzen Welt zu, so dass allmählich eine Wende in der Geschichte ihren Anfang nahm. Die verlorene Schlacht in Stalingrad, die unzählige Opfer forderte, leitete Anfang 1943 die große Wende an der Ostfront ein. Bald ging auch der Kampf in Nord-Afrika zu Ende und die blutigen Kämpfe rückten nach der Invasion unserer Heimat immer näher.

Als Schulkinder auf dem Lande in einem kleinen Eifeldorf waren wir noch sowohl im Elternhaus als auch in der Schule im christlichen Sinne erzogen worden, vom Geist des Nationalsozialismus waren wir weniger vereinnahmt.

Das Hakenkreuz am Galgen

Bereits im Frühjahr 1943 spürten wir langsam, was nicht mehr aufzuhalten war. Von englischen Flugzeugen wurden laufend Flugblätter abgeworfen. Es war zwar streng verboten, derartige Feindpropaganda zu lesen und zu besitzen, aber es störte sich bei uns niemand an diesem Befehl. Auf einem der vielen Flugblätter hatten die Alliierten ihre Absicht, den Nationalsozialismus zu vernichten, zeichnerisch mit einem Galgen dargestellt, an dem ein Hakenkreuz hing. Darunter war die siegreiche britische Nationalflagge zu sehen. Unmissverständlich war damit ausgedrückt, was mit dem NS-Regime geschehen sollte.

Diese Flugblätter beeindruckten uns sehr. Eines Sonntags ging eine Gruppe von Jungen im Alter von 10 bis 13 Jahren aus unserem Dorf in den Wald, der gerade wieder anfing zu grünen. Wer von uns damals glücklicher Besitzer eines Taschenmessers war, schnitzte die Zeichnung des Flugblattes in die Rinde eines Buchenbaumes. Darunter wurde noch das Datum eingekratzt. Ohne an die möglichen Konsequenzen zu denken, besaß man auch noch gar den Leichtsinn, seine Initialen darunter zu setzen. Keiner von uns dachte daran, etwas von unserer „Tat" zu verraten. Wir hielten alle gut zusammen. Denn wir ahnten wohl, was auf uns und unsere Familien für das in den Augen der damaligen Machthaber schändliche Vergehen zukommen konnte.

Gut ein Jahr später am 20. Juli 1944 erfuhren wir, dass deutsche Offiziere an den Galgen kamen und deren Angehörige verfolgt wurden, weil sie dem wahnsinnigen Krieg durch das Attentat auf „unseren Führer" ein Ende bereiten wollten.

Es dauerte danach noch fast ein Jahr bis die Amerikaner einmarschierten und der jugendliche Leichtstinn nicht mehr bestraft werden konnte.

Einer dieser Bäume hat bisher die Axt im Wald überlebt. Deutlich sichtbar ist darauf, was wir als Kinder im Jahre 1943 in die Rinde eingeritzt haben: Das Hakenkreuz am Galgen!