Frieda Nadig (1897 - 1970) -

eine der Mütter des Grundgesetzes lebte und arbeitete von 1936 bis 1945
in Ahrweiler

Leonhard Janta

Unter den insgesamt 65 stimmberechtigten Mitgliedern im Parlamentarischen Rat, der in Bonn am 1. September 1948 erstmals tagte, waren nur vier Frauen. Neben Elisabeth Selber (SPD), Helene Weber (CDU) und Helene Wessel (Zentrum) gehörte Frieda Nadig (SPD) der verfassungsgebenden Versammlung an. Sie ist somit eine der vier Mütter des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, das am 8. Mai 1949 vom Parlamentarischen Rat beschlossen wurde und am 23. Mai 1949 in Kraft trat.

Im Ausschuss für Grundsatzfragen hatte Frieda Nadig Anteil an der Durchsetzung des Gleichheitsgrundsatzes in Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes. Formuliert hatte den Grundsatz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt" allerdings die Juristin Elisabeth Selber.

Wer war Frieda Nadig,

die von 1936 bis 1945 in Ahrweiler lebte und beim Staatlichen Gesundheitsamt als Gesundheitsfürsorgerin tätig war?

Geboren wurde Friederike (Frieda) Charlotte Louise Nadig am 11.12.1897 in Herford. Sie wuchs in einer von sozialdemokratischem Gedankengut geprägten Familie auf1).

Nach Abschluss der Volksschule absolvierte sie eine Lehre als Verkäuferin, sie engagierte sich ab 1913 in der sozialistischen Arbeiterjugend und war ab 1916 Mitglied der Sozialdemokratischen Partei. Durch Kurse und den Besuch der sozialen Frauenschule in Berlin bildete sie sich fort und konnte 1922 das Staatsexamen als Wohlfahrtspflegerin ablegen.

Bei der Stadt Bielefeld fand sie eine Anstellung als Jugendfürsorgerin.

Von 1930 bis 1933 war sie Abgeordnete der SPD im Preußischen Provinziallandtag Westfalen.

Aufgrund ihrer politischen Aktivitäten für die SPD wurde sie nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Mai 1933 fristlos entlassen und zwar mit der Begründung einer angeblichen „Unzuverlässigkeit im nationalen Sinne" (zitiert nach Fuchs, S.76)

Frieda Nadig, nach 1940

Alle Versuche der beherzten Politikerin dagegen vorzugehen blieben ohne Erfolg, so dass Frieda Nadig von 1933 bis 1935 arbeitslos blieb.

Zur Ahrweiler Zeit ab 1936

1936 fand sie dann eine Anstellung beim Staatlichen Gesundheitsamt Ahrweiler. Wie dieses Arbeitsverhältnis zustande kam, ist nicht überliefert, denn die Personalakte von Frieda Nadig und auch sonstige Unterlagen zu ihrer beruflichen Tätigkeit im Kreis Ahrweiler sind leider nicht vorhanden.

Die Literatur über Frieda Nadig geht auf diese Zeit auch nur am Rande ein.

Im Melderegister von Ahrweiler ist Frieda Nadig vom 2.1.1936 bis 24.6.1946 eingetragen. Sie wohnte danach zunächst in der Wilhelmstraße 83, dann bei Familie Reinhold Müller in der Römerstraße und schließlich bei Familie Schmitz in der Grafschafter Straße.

Für diesen Zeitraum ist die Fürsorgerin auch in den Einwohnerbüchern für den Kreis Ahrweiler 1936/37 und 1939/40 nachweisbar.

Außerdem ist Frieda Nadig noch im erhaltenen Verzeichnis der Bewohner des Ahrweiler Silbergtunnels, „der Stadt im Berg", aufgeführt. Sie suchte dort ebenso wie viele Ahrweiler Einwohner Ende 1944/ Anfang 1945 Schutz vor den Bombenangriffen. Frieda Nadig erscheint unter Nr. 71 u. a. zusammen mit der Familie von Dr. Georg Habighorst, der bis 1933 im Ahrweiler Stadtrat als Zentrumsmitglied politisch tätig und für seine Einstellung gegen die Nationalsozialisten bekannt war. Es ist denkbar, dass sich beide aufgrund beruflicher Kontakte kannten. (s. Stadtzeitung Bad Neuenahr-Ahrweiler Nr. 44 vom 30. Oktober 2002, S. 11)

Dr. Georg Habighorst war nach Kriegsende Gründungsmitglied der CDU im Kreis Ahrweiler und u. a. Mitglied im Landtag von Rheinland-Pfalz. Ob es zu einem politischen Gedankenaustausch zwischen Frieda Nadig und Dr. Habighorst kam, ist nicht bekannt.

Nachweisbar ist die Mitgliedschaft der Wohlfahrtspflegerin in der NSV (Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt) und der NS-Frauenschaft. Diese Zugehörigkeit zu NS-Organisationen war wohl die Voraussetzung für die Einstellung bei der Staatlichen Gesundheitsbehörde. (Notz S.60)

Insgesamt gestaltete sich die Spurensuche nach Frieda Nadigs Ahrweiler Zeit von 1936 bis 1945/46 als sehr schwierig.

Familie Reinhold Müller mit Frieda
Nadig, nach 1940

Dennoch konnten auch fast 60 Jahre nach Kriegsende Zeitzeugen und Zeitzeuginnen in Ahrweiler ausgemacht werden, die sich noch an Frieda Nadig erinnern.

Kinder der Familie Reinhold Müller, bei denen Frieda Nadig einige Jahre zur Untermiete wohnte, schildern sie als herzlich und sehr mütterlich. Zur Familie Müller pflegte Frieda Nadig persönlichen Kontakt, der auch nach 1945 noch andauerte. So fanden auch gegenseitige Besuche in Ahrweiler bzw. in Bonn statt. Mit einer Chauffeurin kam Frau Nadig gelegentlich von Bonn nach Ahrweiler und brachte kleine Geschenke mit. Frieda Nadig vermittelte auch für eines der Kinder einen Erholungsaufenthalt in einer Einrichtung der Arbeiterwohlfahrt.

Die Gesundheitspflegerin Walburga Dickopf war ab 1941 Kollegin von Frieda Nadig beim Ahrweiler Gesundheitsamt. Sie hatte allerdings mit ihr nur dienstlichen Kontakt. Private Begegnungen blieben flüchtig.

Das ehemalige
Gebäude des
Gesundheitsamtes Ahrweiler, 2003

Ebenso wie die Söhne der Familie Müller beschreibt sie Frieda Nadig als dunkelhaarig, klein, recht füllig und resolut. Auf ihr Äußeres legte die Gesundheitsfürsorgerin großen Wert.

Als Gesundheitsfürsorgerin war Frieda Nadig für die Bezirke Sinzig und Ahrweiler zuständig.

Zu ihren Aufgaben gehörte u. a. die Betreuung von TBC-Kranken, die Fürsorge für Diabetiker und sonstige Kranke, die ebenfalls Diäten einhalten mussten. Frieda Nadig arbeitete gerne in ihrem Beruf und engagierte sich in besonderem Maße für die Menschen, denen sie stets mit großer Freundlichkeit und Sympathie begegnete, jedoch auch sehr bestimmt in der Sache.

Während des Krieges mussten die Fürsorgerinnen des Gesundheitsamtes auch die zusätzlichen Lebensmittelzuteilungen für Kranke und Kinder genehmigen und überprüfen.

Sie hatten dabei vielfältige Kontakte zu den örtlichen Ärzten, machten Hausbesuche, gaben Ratschläge in den Familien und achteten auf die Einhaltung von Hygieneregeln, was besonders bei TBC-Kranken wichtig war

Mit den Familien ergaben sich gelegentlich Auseinandersetzungen, da manche diese Fürsorgemaßnahmen nicht durchführen wollten oder sich gegen die Isolierung von Menschen mit offener TBC wehrten.

Zuständig waren die Fürsorgerinnen auch für die Betreuung von Geschlechtskranken.

Säuglingspflege, Zuteilung von Zusatznahrung und spezielle Nahrung für Mütter und Kinder, Mütterberatung zusammen mit dem Amtsarzt gehörten ebenfalls zu ihren Aufgaben.

Auch wirkten die Fürsorgerinnen mit bei Ehetauglichkeitszeugnissen, ebenfalls bei der Nachforschungen im Zusammenhang mit Zwangssterilisationen. Hierzu gab es beim Gesundheitsamt eine Kartei zur evtl. Belastung der Familie durch Erbkrankheiten.

Alle Dienstreisen der Fürsorgerinnen mussten mit der Bahn, mit Bussen, mit einem Dienstfahrrade oder zu Fuß erledigt werden.

Über die politische Tätigkeit von Frieda Nadig vor 1933 und ihre Einstellung gegen den Nationalsozialismus wussten die Kolleginnen im Ahrweiler Gesundheitsamt nichts. Lediglich der Leiter des Gesundheitsamtes, Dr. Wilhelm Nocker, soll hierüber informiert gewesen sein. Frau Dickopf meint sich zu erinnern, dass Frieda Nadig große Angst vor einer eventuellen Verhaftung hatte. Nach 1945 bestätigte Dr. Nocker, dass Frieda Nadig wohl immer wieder mit ihrer Verhaftung rechnete.

Insgesamt verhielt sie sich deshalb unauffällig, war reserviert und pflegte auch nur wenige persönliche Kontakte.

Im Gesundheitsamt erlebt Frieda Nadig alle Maßnahmen nationalsozialistischer Gesundheitspolitik und Zwangsmaßnahmen gegen Menschen im Kreis Ahrweiler.

In ihrem kleinen Bereich versuchte sie, den ihr anvertrauten Menschen zu helfen.

Die Weggefährtin Elfriede Eilers wusste, dass Frieda Nadig ihre berufliche Tätigkeit im Kreis Ahrweiler während der NS-Zeit nutzte, um politisch Verfolgten und Menschen, die von der Euthanasie bedroht waren, zu helfen." (S. 60 Gisela Notz). Unterlagen oder weitere Zeitzeugenaussagen hierzu konnten aber bisher nicht ermittelt werden.

Unmittelbar nach Kriegsende verließ Frieda Nadig 1945 den Kreis Ahrweiler. Polizeilich ist sie aber noch offiziell bis zum 24.6.1946 in Ahrweiler gemeldet.

Ihre ehemalige Arbeitsstelle, das Gesundheitsamt in Ahrweiler, hat sie nach Auskunft von Frau Dickopf nicht mehr besucht, was sie mit ihrer völligen Arbeitsüberlastung begründete. Gelegentliche telefonische Kontakte und Kartengrüße gab es jedoch.

In ihrer Heimatstadt Herford stellte sie sich für den Aufbau und die politische Arbeit der SPD zur Verfügung. Der demokratische Wiederaufbau des Landes war ihr Verpflichtung

Zum politischen Werdegang nach 1945

Von 1947 bis 1948 gehörte Frieda Nadig dem Zonenbeirat in der Britischen Zone an. Sie war Mitglied des Landtages von Nordrhein-Westfalen von 1947 bis 1950. Dieser sandte sie 1948/49 in den Parlamentarischen Rat. Als Parlamentarierin wirkte die Vollblutpolitikerin im Deutschen Bundestag von 1949 bis 1961. Besonders setzte sie sich im Parlament für die Gleichberechtigung der Frau, für Familienrechte und die Gleichstellung unehelicher Kinder ein.

Von 1945 bis 1966 war sie zudem Geschäftsführerin des Bezirksverbandes Östliches Westfalen der Arbeiterwohlfahrt. Auf die Initiative der unverheirateten Politikerin gehen zahlreiche soziale Einrichtungen zurück, darunter Altenheime, Müttergenesungsheime und Kindertagesstätten.

Im Alter von 73 Jahren starb Frieda Nadig am 14. August 1970.

Ahrweiler war von 1936 bis 1945 eine wichtige Station im Leben von Frieda Nadig.

Hier fand sie während der NS-Zeit eine Anstellung in ihrem sozialen Beruf als Fürsorgerin. In dem ländlichen Kreisgebiet konnte sie sich drohenden Anfeindungen und eventuellen Verfolgungen entziehen, die ihr in Herford, Bielefeld und Westfalen vermutlich gedroht hätten, da sie ja dort aus der Weimarer Republik als engagierte SPD-Politikerin bekannt war. An die Arbeit mit und für die Menschen im Kreis Ahrweiler soll sich Frieda Nadig in späteren Jahren noch gerne und oft erinnert haben (Notz, S. 60).

Anmerkungen, Quellen und Literatur:

1) Die biographischen Angaben stützen sich - soweit nicht anders vermerkt

Für Hinweise und Informationen danke ich folgenden Zeitzeuginnen/Zeitzeugen und Archiven: Familie Herbert Müller, Herrn Bernd Müller, Herrn Wolfgang Müller, Frau Walburga Dickopf, Frau Gertrud Tietzen, Archiv des Landtags von NRW, Herrn Olaf Wiese, Frau Gisela Notz von dem Forschungsinstitut für Sozial- und Zeitgeschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn.