Sinziger Friedensaktivitäten vor fünfzig Jahren

Kolpingsöhne pflegten Kriegsgräber

Karlheinz Grohs

Genau vor nunmehr fünfzig Jahren, im Sommer 1954, beschloss eine Gruppe junger Mitglieder der Sinzigcr Kolpingfamilie ihren Jahresurlaub in den Dienst aktiver Friedensarbeit zu stellen. Angeregt wurde diese Ini­tiative von einem der ihren, der selbst in blutjungen Jahren die Endzeit des mörderischen Krieges und anschließend die Gefangenschaft in Frankreich erlebt hatte. Angesichts der Bemühungen der hohen Politik, nach den Schrecknissen der jüngsten Vergangenheit zu einer Aussöhnung zwischen den beiden Nachbarvölkern Deutschland und Frankreich zu kommen und ein Europa des friedlichen Zusammenlebens zu schaffen, vertrat dieser Sinziger Kolpingsohn die Überzeugung, dass dazu auch kleine persönliche Schritte hilfreich seien. So planten die jungen Sinziger eine aktive Kriegsgräberreise nach Nordfrankreich, und waren bereit, dafür ihre Urlaubstage einzubringen.

„Versöhnung über den Gräbern" sollte das Motto ihres Engagements sein. In der Praxis bedeutete dies gemeinsam mit gleichaltrigen französischen Jugendlichen die Säuberung und Pflege von Kriegsgräbern beider Nationen. Nach gründlicher Vorbereitung und der Überwindung mancher bürokratischer Schwierigkeiten trafen sich schließlich sechzehn junge Sinziger Kolpingsöhne mit einer etwa gleich großen Gruppe französischer Jugendlicher in einem gemeinsamen Zeltlager nahe eines großen Kriegsgräberfeldes bei der nordfranzösischen Stadt Valenciennes. Gerade diese Region im Departement Nord war im Mai 1940 beim Frankreich-Feldzug der deutschen Wehrmacht Schauplatz heftiger Kämpfe gewesen. die auf beiden Seiten vielen jungen Menschen das Leben gekostet hatte.

Frankreichs General de Gaulle und der erste deutsche Nachkriegskanzler Konrad Adenauer hatten schon Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre erste Schritte getan, die so unendlich lange propagierte sogenannte „Erbfeindschaft" zwischen Deutschland und Frankreich zu überwinden und waren aufeinander zugegangen. So hatte sich bereits im März 1950 Bundeskanzler Adenauer als vorrangiges Ziel seiner Westpolitik zur deutsch-französischen Aussöhnung bekannt und darauf aufbauend eine politische und wirtschaftliche Europäische Union vorgeschlagen. Jetzt galt es, so dachten jedenfalls die Sinziger Kolpingsöhne, jene großartige und für die Nachkriegs-Entwicklung Europas so überaus bedeutsame politische Vision der beiden „alten Männer" auch auf der kleinen Ebene mit Leben zu erfüllen.

Wer anders als die junge Generation im „alten‘‘, durch Vorurteile und nationale Engstirnigkeit immer wieder zerrissenen und zerfleischten Europa wäre dazu als Brückenbauer von hier nach dort besser berufen gewesen.

Heute sind noch etliche jener jungen Friedens- und Aussöhnungs-Botschafter von damals bei den Sinziger Kolping-Senioren organisiert und haben eine immer noch lebendige Erinnerung. Nach einem halben Jahrhundert schien es dem Autor, der selbst 1954 einer der Beteiligten war, wert, diese Erinnerung auch einmal schwarz auf weiß zu dokumentieren.

Grabpflege auf einem Kriegsgräberfeld in Nordfrankreich

Wie hatte sein Geschichtslehrer, der alte Oberstudienrat Fischer, bereits während des Krieges verstohlen zu ihm gesagt: „Warum bloß diese Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich, die immer wieder zu diesen entsetzlichen Kriegen führt? Weswegen können diese beiden Nachbarvölker diesseits und jenseits des Rheins nicht in Frieden und Freundschaft miteinander leben? Schon dieser schlimme sprachliche Begriff von der angeblichen ,Erbfeindschaft‘ ist eine Perversion."

Oberstudienrat Fischer, der väterliche Freund, hatte diese Sätze im Sommer 1940 ausgesprochen, wenige Wochen nach dem Beginn des Frankreich-Feldzuges der deutschen Wehrmacht, bei dem das Nachbarland in kurzer Zeit

von den Invasoren überrannt worden war und die Sieger triumphierend verkündet hatten: „Das ist die Rache für den Schandfrieden von Versailles anno 1918!"

Der Oberstudienrat Fischer war ein gebürtiger Elsässer, stammte aus Schlettstadt, dem französischen Sélestat. Er hatte am Schicksal seiner eigenen Familie erlebt, was es bedeutete, bis in die engsten familiären Bindungen hinein hin- und hergerissen zu sein zwischen beiderseitigem Nationalwahn und völkischer Machtbesessenheit. Seine Mutter war Französin, sein Vater Deutscher gewesen. Brüder von ihm hatten sowohl in der deutschen wie in der französischen Armee Militärdienst leisten müssen.

Besuch der Kolpingsöhne im Hotel-Restaurant de la Paix in Paris

„Waren sie mit dem Augenblick, da der eine die feldgraue und der andere die feldblaue Uniform anziehen musste, zu Erbfeinden geworden, die einander hassen und töten sollten?"

– Das war eine der weiteren Fragen gewesen, die der alte Studienrat damals im vertraulichen Gespräch mit seinem jungen Schüler gestellt hatte – und nicht zu beantworten wusste.

Jenes Gespräch vom Sommer 1940 kam dem Autor spontan in Erinnerung, als er im November 1953, dem Volkstrauertag, am Rande des Gräberfeldes in der Gedenkstätte in Bo-dendorf stand und die Ansprache eines Vertreters des Volksbundes deutsche Kriegsgräberfürsorge hörte. Einige Sätze aus der Ansprache nahm er damals in besonderer Weise in sich auf. Da war von den zahllosen Kriegsgräberstätten

in Nordfrankreich die Rede und von einem Projekt, dessen sich der Volksbund im kommenden Jahr erstmals annehmen wolle. Junge Deutsche der Nachkriegsgeneration sollten freiwillig in den Schulferien oder im Urlaub für einige Wochen in Frankreich Gräberpflege leis-ten, mithelfen die Gedenkstätten in einen würdigen Zustand zu versetzen.

Der junge Sinziger Kolpingsohn war von dieser Idee impulsiv angetan. Doch er hatte mehr im Sinn. Er dachte an ein gemeinsames Lager mit gleichaltrigen französischen Jugendlichen. Nicht nur deutsche Kriegsgräberstätten sollten dabei gesäubert und in Ordnung gebracht werden, sondern zu einer solchen Gemeinschaftsaktion sollte auch die Pflege französischer Gedenkstätten gehören. „Versöhnung über den Gräbern" nannte er das Projekt, das er fortan intensiv verfolgte.

Es dauerte allerdings mehrere Monate, bis er schließlich alle bürokratischen Hindernisse überwunden hatte. Eine umfangreiche Korres-pondenz war zu führen, nicht nur mit dem Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge, der seinen weiterführenden Gedanken eines gemeinsamen deutsch-französischen Ehren-dienstes der Jugend zustimmend aufnahm. Vor allem mit den Behörden beider Seiten war zu verhandeln, und über das Internationale Kolpingwerk in Köln galt es Kontakt mit jungen französischen Kolpingsöhnen aufzunehmen. Aber schließlich, im Sommer 1954, war es soweit. Die Gruppe der sechzehn jungen Leute aus Sinzig konnte aufbrechen und für drei Wochen ein deutsch-französisches Jugendlager bei Valenciennes beziehen.

„Versöhnung über den Gräbern!" Das Projekt wurde ein voller Erfolg. Sehr schnell kamen sich die jungen Deutschen und die jungen Franzosen näher, saßen abends nach der gemeinsamen Arbeit auf den Friedhöfen in harmonischer Runde beisamen, diskutierten über den Wahnsinn der Kriege und den Unsinn der sogenannten „Erbfeindschaft".

Der Präfekt des Departements Nord kam nach der ersten Woche eigens angereist, lobte das gemeinsame Tun und sprach von der Vision eines vereinten Europas. Zugleich überraschte er die Sinziger Kopingsöhne mit einer Einladung nach Paris. Für drei Tage sollten sie zum Abschluss ihres Gräberdienstes als Gäste des Jugendministeriums die französische Hauptstadt Paris mit ihren kulturhistorischen Sehenswürdigkeiten erleben dürfen.

Auch im „Maison de la Jeunesse", der unweit des Pariser Altstadtviertels Marais gelegenen Jugendbegegnungsstätte, in der die Sinziger Gruppe untergebracht war, kam es bald zu ungezwungenen und freundschaftlichen Kontakten mit gleichaltrigen Franzosen. Die vor allem bei den Mahlzeiten erlebte Gastlichkeit war „typisch französisch" und, was die Speiseauswahl betraf, geradezu überwältigend. Und sogar einen Tanzabend mit Musette-Klängen und charmanten jungen Damen hatte die Heimleitung für die deutschen Gäste arrangiert. Da war keinerlei Spur von irgendwelchen Ressentiments. Der Autor fühlte sich in seiner Vision von der „Versöhnung, die über den Gräbern beginnt und in Frieden und Freundschaft in die Zukunft weist" nunmehr erst recht bestätigt.

Der Anfang war gemacht und für die Zukunft war der Weg bereitet. Denn jene erfolgreiche Sinziger Initiative wurde von der Kölner Zentrale des Kolpingwerks fortan stetig weiter ausgebaut. Auch in den folgenden Jahren fuhren deutsche Jugendgruppen zur Kriegsgräberpflege und zur freundschaftlichen Begegnung mit Altersgenossen nach Frankreich. Bis 1967 gab es Jahr für Jahr solche Friedensdienste im Rahmen der Kolping-Jugendgemeinschaftsdienste. Inzwischen sind diese Aktionen weltweit ausgedehnt und dienen im Rahmen von Internationalen Workcamps der handwerklichen und agrarwirtschaftlichen Hilfe in der sogenannten „Dritten Welt".

„Versöhnung über den Gräbern!" Neun Jahre später, im Jahre 1963, stand der inzwischen nicht mehr ganz so junge Sinziger Kolping­sohn zusammen mit deutschen und französischen Journalistenkollegen vor dem Portal der Kathedrale von Chartres in Erwartung eines großen historischen Ereignisses. Voller innerer Bewegung erlebte er mit, wie der alte französische Staatspräsident Charles de Gaulle und der alte deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer sich wegweisend für alle Zukunft in Freundschaft und Zuneigung umarmten.

Der Augenzeuge aus Sinzig dachte in diesem Augenblick an seinen ehemaligen elsässischen Geschichtslehrer, Oberstudienrat Fischer, und dessen Worte, damals im Jahre 1940, mitten im Krieg:

„Warum bloß diese Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich ..." Und er dachte daran, dass er und seine Kolpingfreunde aus Sinzig in jenem Sommer 1954 ein kleines und wenn auch nur ein klitzekleines Stück, zur Überwindung jener unseligen „Erbfeindschaft" beigetragen hatten.