Zu Hause in einer neuen Heimat

Die evangelische Friedenskirche in Ahrweiler wurde für viele Heimatvertriebene zu einer wichtigen Anlaufstelle

Hans Warnecke

Unübersehbar bildet die im Jahr 1269 geweihte katholische St. Laurentiuskirche bis heute die Stadtmitte von Ahrweiler. Weitaus bescheidener ist dagegen die in der Altenbau­straße gelegene ehemalige Synagoge, die im Jahr 1894 dort errichtet wurde. Aber erst im Jahr 1953 kam es in Ahrweiler zum Bau einer kleinen evangelischen Kirche. In Erinnerung an dieses Ereignis feierte die evangelische Kirchengemeinde Bad Neuenahr am Sonntag, dem 13. Juli 2003 mit einem Gemeindefest das fünfzigjährige Bestehen der Friedenskirche in der Ahrweiler Burgunderstraße. Bei dieser Gelegenheit wurde zu Recht daran erinnert, dass es zu diesem Kirchenneubau nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gekommen ist, weil evangelische Gemeindeglieder aus den deutschen Ostgebieten als Folge des verlorenen Krieges eben auch in Ahrweiler und im Ahrtal angesiedelt wurden.

Während bis dahin nur die Martin-Luther-Kirche in Bad Neuenahr für evangelische Gottesdienste zur Verfügung stand und man sich außerdem im Gemeindehaus in der Wolfgang-Müller-Straße zu anderen Gemeindeveranstaltungen traf, begann 1953 mit der Kirchweihe für die Kreisstadt Ahrweiler etwas völlig Neues. Denn zum ersten Mal konnten sich jetzt die neuen evangelischen Gemeindeglieder in ihrer Kirche zum Gottesdienst und auch in der Woche im Gemeinderaum treffen.

Die evangelische Friedenskirche Ahrweiler

Mit der allgemeinen Feststellung, dass Protestanten als Flüchtlinge eben auch im Landkreis Ahrweiler angesiedelt wurden, und es deshalb zu einem Kirchenneubau in Ahrweiler kam, ist nichts über die menschliche Tragik ausgesagt, die sich hinter dieser Bemerkung verbirgt. Um das deutlich werden zu lassen, soll an einem sehr persönlichen Beispiel aufgezeigt werden, wie nach der Vertreibung aus Ostpreußen Ahrweiler zu einem neuen Zuhause und zu einer neuen Heimat werden konnte. Es soll deshalb hier beschrieben werden, wie eine der wenigen noch lebenden Zeitzeuginnen auf ihren Weg nach Ahrweiler zurückblickt. Sie hat die Einweihung der evangelischen Friedenskirche in Ahrweiler am Sonntag, dem 11. Oktober 1953 nicht nur miterlebt, sondern als Chormitglied auch aktiv mitgestaltet. Bei dieser Chronistin der Ereignisse der Vertreibung und Neuansiedlung handelt es sich um Frau Anneliese Jan- kowski, die seit 53 Jahren in Ahrweiler wohnt.

Schicksal der Chronistin Anneliese Jankowski

Sie stammt aus Ostpreußen. Ihr Vater wurde als Finanzbeamter vielseitig eingesetzt, so eben auch in der traditionsreichen ostpreußischen Universitätsstadt Königsberg. Hier ging die 1927 geborene Anneliese zum Gymnasium und erhielt, wie es sich für eine höhere Tochter gehörte, privaten Musikunterricht auf dem Klavier. Der Beginn des Zweiten Weltkriegs am l. September 1939 wirkte bis in das Leben der Familie Jankowski hinein. Denn nach der Eroberung Polens wurde 1941 Vater Jankowski an das Finanzamt in Schröttersburg an der Weichsel versetzt. Selbstverständlich zog seine Frau mit den vier Kindern mit in diese Kleinstadt.

Während in Westdeutschland die Bombenangriffe von Jahr zu Jahr zunahmen, merkte man davon in diesem Teil des besetzten Polens nichts. Aber die Schrecken des Krieges waren auch hier nicht aufzuhalten. Mit 17 Jahren wurde 1944 die Oberschülerin Anneliese Jankowski kurz vor dem Abitur zum weiblichen Arbeitsdienst eingezogen. Mit anderen gleichaltrigen Mädchen lebte sie in einem Lager dieser Organisation im polnischen Passenheim.

Jeden Tag hatte sie in ihrer Uniform außerhalb des Lagers ihren Dienst als Hilfe bei einer kinderreichen Familie zu versehen. Gerne denkt sie heute an diese Arbeit und die Kameradschaft zurück. Aber dieses sinnvolle und geordnete Leben dauerte nur kurz. Schon bald war das Grollen der Kanonen der heranrückenden russischen Armee zu hören, und das Zusammenbrechen der Front mit den nach Westen ziehenden Flüchtlingstrecks zu sehen. Da auch beim Arbeitsdienst militärische Ordnung herrschte, lautete der Befehl für alle Arbeitsmaiden – wie die jungen Frauen genannt wurden – sich in geordneter Marschkolonne zum Bahnhof zu begeben, um mit dem Zug nach Süden aufzubrechen. In Mellerichstadt kam es zu einem kurzen Zwischenaufenthalt Von da ging es zu Fuß weiter nach Bayern. Beim Osterfest im April 1945 teilte die Lagerleiterin den in Reih und Glied angetretenen Maiden mit, dass jede ein Entlassungspapier bekäme und nun auf eigene Faust ihren Weg finden müsse.

Es ist heute kaum noch zu beschreiben, unter welchen chaotischen Verhältnissen beim Kriegsende im Mai 1945 Menschen unterwegs waren. Alle heute selbstverständlich benutzten Verkehrsmittel standen nicht oder nur in äußerst eingeschränktem Maße zur Verfügung. Von ihrer Mutter hatte Anneliese Jankowski vor ihrem Marsch nach Bayern noch brieflich erfahren, dass sie mit einem der letzten Züge bis nach Glauchau in Sachsen gekommen sei. Dieser Ort war jetzt für eine heimatlos und arbeitslos gewordene junge Frau das Ziel, das sie unter abenteuerlichen Umständen in mehreren Tagen erreichte.

Anneliese Jankowski

Wie bei unzähligen anderen Flüchtlingen traf sie dort aber nicht ihre vollständige Familie. Ihr älterer Bruder war in Kriegsgefangenschaft und ihr Vater war noch mit 59 Jahren zum Volkssturm eingezogen worden, in dem alte Männer und Kinder gegen den Feind kämpfen sollten. Aus dem Flüchtlingslager in Glauchau führte dann der bürokratisch gewiesene Weg nach Burgstedt bei Chemnitz zu einer kleinen Wohnung. Kriegsverwundet und krank zog der aus dem Kriegsgefangenenlager entlassene Vater wenig später dort mit ein. Alle in der Familie waren bemüht, trotz der verlorenen Heimat irgendwelche Formen der Normalität zu finden. Dazu gehörte für Anneliese Jankowski, dass sie wieder zur Schule ging und 1947 am Burgstedter Gymnasium das Abitur ablegte. Ein Jahr später starb ihr Vater. Das bedeutete, dass an ein Studium für die junge Abiturientin nicht zu denken war, weil sie so schnell wie möglich zum Unterhalt ihrer Mutter mit ihren Schwestern beizutragen hatte.

Weihnachtsfeier des Frauenchores mit Chorleiter Götze im Gemeinderaum der ev. Friedenskirche in Ahrweiler, 1950er Jahre

Inzwischen war Sachsen von den Amerikanern geräumt worden und es entstand die sowjetisch besetzte Zone. Auf gar keinen Fall wollte die vaterlose Familie Jankowski weiterhin unter russischer Verwaltung leben. Deshalb wurde eine zweite Flucht vorbereitet, über die sogenannte „Grüne Grenze", d.h. die westliche Zonengrenze nach Niedersachsen, machten sich Anneliese, ihre Schwestern und die Mutter auf den Weg. In Hannover fanden sie eine vorläufige Bleibe, und Anneliese Jankowski konnte sich dort in einer kaufmännischen Handelsschule auf einen zukünftigen Beruf vorbereiten.

Zuzug nach Ahrweiler

Da inzwischen die Kommunikation in den westlichen Besatzungszonen immer besser wurde, drang es bis nach, Hannover, dass in der französischen Zone, nämlich in Ahrweiler, Fachkräfte gesucht wurden. Anneliese Jan- kowski bewarb sich im Jahr 1950 bei einer im damaligen Ahrweiler Rathaus befindlichen Wohnungsbaugesellschaft. Sie bekam eine Zusage. Ihr Bruder und eine ältere Schwester blieben in Niedersachsen, während sie, ihre Schwester Erika und ihre Mutter nach Ahrweiler umzogen und auch wirklich dort durch Vermittlung des damals bestehenden Wohnungsamtes eine Wohnung fanden. Nur kurz blieb Frau Jankowski in der neuen Stelle und wechselte schon bald in eine besser dotierte Arbeit bei der Ahrweiler Kreissparkasse, wo sie bis zu ihrer Pensionierung geblieben ist.

An die ostpreußische Heimat konnte man sich nur noch erinnern. Sie war für immer verloren. Weil es keinen Weg dorthin zurück gab, entschlossen sich die drei Frauen, ein Haus zu bauen und es dann teilweise selbst zu bewohnen. In der Römerstraße 14 – nicht weit von der Hauptstelle der Ahrweiler Kreissparkasse entfernt – entstand ihr neues Zuhause, wo Frau Anneliese Jankowski nach dem Tod der Mutter und auch der Schwester bis heute wohnt.

Heimat in der Ahrweiler Friedenskirche

Für diese Flüchtlingsfamilie wurde schon bald die evangelische Gemeinde zu einer wichtigen Anlaufstelle. Denn dort gab es andere Gemeindeglieder, die ähnliche Schicksale der Vertreibung hinter sich hatten, und die deshalb die Trauer um die verlorene Heimat verstanden und die Hoffnung auf einen Neuanfang in der

Fremde teilten. So stieß Frau Jankowski als musikalisch interessierte Frau von 23 Jahren zu dem von dem Finanzbeamten Paul Götze geleiteten Frauenchor der evangelischen Gemeinde, der wöchentlich seine Proben in einem Klassenraum der Volksschule in der Altenbaustraße abhielt. Aus der Probenarbeit erwuchs schon bald eine Gemeinschaft, die sich auch in Ausflügen und in einer fröhlichen Geselligkeit einen Ausdruck suchte. Als dann die Pläne für den Kirchbau in der Ahrweiler Burgunderstraße bekannt wurden, war es selbstverständlich, für den Einweihungssonntag zu proben und so aktiv diesen Festtag mit zu gestalten.

Diese Kirche bot danach auch den Probenraum und trug so auf ihre Art dazu bei, hier in Ahrweiler in einer neuen Heimat zu Hause zu sein. Und das ist nicht nur für Frau Jankowski so geblieben, sondern bis heute für die noch lebenden evangelischen Heimatvertriebenen, die den Neubau der Friedenskirche vor 50 Jahren miterlebt haben.